XLIX

August 1980 

Zu den Schrecken des Älterwerdens gehört es, das Dahinscheiden geliebter Menschen miterleben zu müssen.

Im Juli bekam ich einen Anruf von meinem jüngsten Reisegefährten auf der RMS Orient , Eddie. Er gehörte seit fünfundzwanzig Jahren dem Mackenzie-Clan an, aber der Grund, aus dem er mich in Atlantis anrief, war kein erfreulicher. Mit zitternder Stimme teilte er mir mit, dass sein Adoptivvater Ralph gestorben sei.

Eine Stunde lang versuchte ich Eddie am Telefon zu trösten und rief ihm in Erinnerung, was seine Familie für mich getan hatte. Dabei war ich selbst zutiefst erschüttert über diesen Verlust und trauerte um einen hochgeschätzten, stets verlässlichen Freund.

Eine Woche später stand ich vor Alicia Hall in Adelaide, um an Ralphs Bestattung teilzunehmen. Die Zeiten, als ich eine wochenlange Ozeanreise unternehmen musste, um nach Australien zu gelangen, waren vorbei. Heutzutage gelangte man innerhalb von vierundzwanzig Stunden auf diesen Kontinent. Von außen betrachtet sah der Garten so prachtvoll und üppig aus wie eh und je, und als ich durchs Tor trat, kam ein gut gekleideter junger Mann mit blonden Haaren auf mich zu und drückte mir die Hand.

»Mr Tanit?« Es war Eddie Mackenzie.

»Eddie! Mein herzliches Beileid.«

Er senkte den Kopf. »Danke.«

In diesem Moment kam Eddie mir wie der fünfjährige Junge von damals vor, und ich legte ihm tröstend den Arm um die Schultern. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich mich freue, Sie zu sehen. Sie erinnern sich bestimmt nicht daran, aber ich habe Sie schon gekannt, als Sie noch ein kleiner Junge waren. Ich war auf dem Schiff, mit dem Sie hierhergekommen sind.«

Eddie lächelte. »Das hat Vater mir erzählt. Er schätzte Sie sehr, Mr Tanit. Und er hat oft erzählt, wie Sie den Männern in der einstürzenden Opalmine das Leben gerettet haben.«

Dieser dramatische Tag schien mir so weit entfernt wie in einem anderen Leben. »Nun, ohne Ihren Vater wüsste ich nicht, wo ich heute wäre. Ich verdanke ihm sehr viel.«

Über hundert Trauergäste waren gekommen und nahmen an der Bestattung teil, bei der ein Pfarrer Ralphs Asche im Garten von Alicia Hall der Erde übergab. Nach der Zeremonie trat ich zu Ralphs Witwe, Ruth Mackenzie, die sich sehr gerührt darüber zeigte, dass ich die weite Reise nach Adelaide unternommen hatte, um ihrem Mann die letzte Ehre zu erweisen.

Doch vor allem eine Person hätte ich zu gern in Adelaide wiedergesehen – Sarah, deren liebenswürdigem fürsorglichem Wesen ich es verdankte, dass ich noch immer auf dieser Welt weilte. In der düstersten Zeit meines Lebens hatten ihre Zuversicht und Herzlichkeit mich aus den Tiefen meiner Verzweiflung gerettet. Aber in der Trauergemeinde konnte ich Sarah nirgendwo entdecken.

»Ruth, erinnern Sie sich noch an Sarah?«, fragte ich.

»Aber selbstverständlich, Atlas! Sarah und ihr Mann haben uns im Lauf der Jahre immer wieder in Alicia Hall besucht. Sie hat sogar einen Mercer geheiratet!«

»Ach, wirklich?« Das freute mich von Herzen.

»Ja, einen sanftmütigen Mann namens Francis Abraham. Er ist der Sohn von Kittys Sohn Charlie und der Tochter des Hausmädchens Alkina.«

Das Wirken des Universums war wahrlich wundersam. Niemals hätte ich ahnen können, dass Sarah, das Waisenmädchen, eines Tages einer der reichsten Familien der Welt angehören würde. Ich hörte noch ihre Worte von damals: Ich hoffe, dass ich Arbeit finde und mir mein eigenes Geld verdienen kann. Und einen Mann wünsch ich mir auch!

»Es ist tatsächlich eine sehr anrührende Geschichte«, fuhr Ruth fort. »Sarah lernte Francis in der Hermannsburg Mission kennen, als sie mit Kitty dort einen Besuch machte. Und dann blieb Sarah für immer dort.«

»Wie sehr es mich freut, dass Sarah ihr Glück gefunden hat, Ruth. Das hat sie weiß Gott verdient.« Mir entging nicht, dass Ruth jetzt leicht betreten aussah. »Darf ich fragen, warum Francis und sie heute nicht hier sind?«

Ruth seufzte. »Eddie hat sich enorm bemüht, die beiden zu kontaktieren, er hängt sehr an Sarah. Aber es ist ihm nicht gelungen, die beiden aufzuspüren.«

»Weshalb denn nicht?«

»Die letzte Adresse, die wir von ihnen hatten, war Papunya. Das ist ein großartiges kleines Dorf voller kreativer Menschen. Dort bekamen Francis und Sarah ihre Tochter, Lizzie.«

»Bestimmt nach Königin Elizabeth benannt! Das sähe Sarah sehr ähnlich«, bemerkte ich schmunzelnd.

»Richtig geraten, Atlas. Aber als Lizzie heranwuchs, war sie ziemlich außer Rand und Band. Sie lernte in Papunya einen Mann kennen, der Maler war. Toba hieß er, glaube ich. Er war ein sehr begabter Aborigines-Künstler, leider aber auch ein Trunkenbold. Als Sarah und Francis nicht in die Heirat der beiden einwilligen wollten, brannte Lizzie mit dem Mann durch.«

Offenbar hatte Lizzie den Eigensinn ihrer Mutter geerbt. »Verstehe. Wo sind die beiden hingegangen?«

»Das ist es ja: Niemand weiß es«, berichtete Ruth bedrückt. »Francis durchstreift offenbar mit Sarah das unendlich große Outback auf der Suche nach Lizzie. Deshalb sind die beiden nicht mehr zu erreichen.«

Die arme Sarah. Sie hatte wahrlich nichts außer Glück verdient, was ihr nun jedoch von ihrem eigenen Kind verweigert wurde. »Ich hätte sie so gern getroffen. Falls Sie Sarah wiedersehen, sagen Sie ihr bitte, dass ich nach ihr gefragt habe, und richten Sie ihr herzliche Grüße von mir aus.«

»Das mache ich, Atlas. Noch einmal vielen Dank, dass Sie hierhergekommen sind.«

Den Rest des Nachmittags streifte ich durch Alicia Hall und unterhielt mich mit den Angestellten des Mercer-Imperiums, die allesamt mit Bewunderung und Respekt von ihrem verstorbenen Chef sprachen. Einige arbeiteten noch immer in den Opalminen, und ich genoss es sehr, mit den Männern über die alten Zeiten und ehemaligen Abbaumethoden zu sprechen. Als die Sonne am glutroten Himmel tiefer und tiefer sank, verabschiedete ich mich von den Gastgebern und Alicia Hall. Ich war froh, ein letztes Mal hier gewesen zu sein. Bevor ich aufbrach, kam Eddie zu mir geeilt.

»Mr Tanit, Mutter sagte mir, Sie hätten nach Sarah gefragt.«

»Ja. Ich habe gehört, dass man sie nirgendwo erreichen kann.«

»Das stimmt, aber … mir kam da ein Gedanke. Neulich habe ich einige Dokumente von Dad durchgesehen und dabei das Testament von Kitty Mercer gefunden. Sie besaß ein Haus in Broome, das sie Sarah und Francis vererbt hatte. Es sollte dann später in Lizzies Besitz übergehen. Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich versuchen, selbst dort nach Hinweisen auf Sarah und Francis zu suchen. Aber ich muss jetzt das Unternehmen leiten, und es geht gerade ziemlich turbulent zu.« Eddie wirkte etwas beunruhigt.

»Wie interessant. Broome, wie? Wo liegt das?«

»Ein Küstenstädtchen im Nordwesten des Landes«, antwortete Eddie. »Früher galt es als weltweites Zentrum der Perlenfischerei. Man kommt nur mit dem Flugzeug hin. Kitty hat dort in ihrer Anfangszeit viel Zeit verbracht. Wenn man also irgendwo einen Hinweis auf Sarah finden kann, dann sicher dort. Warten Sie, ich schreibe Ihnen die Adresse auf.«

»Danke, Eddie.«

Nachdem ich in Darwin umgestiegen war, erreichte ich am nächsten Nachmittag den winzigen Flughafen von Broome. Mit einem Bus fuhr ich am Hafen entlang ins kleine Zentrum des Ortes. An der Hauptstraße, Dampier Terrace, befanden sich ein Gerichtsgebäude, eine schäbig wirkende Touristeninformation und ein Perlenmuseum. Mir wurde klar, dass die kleine Stadt inzwischen so heruntergekommen war wie vor der Zeit des Booms der Perlenfischerei. Als ich die öde, mit rötlichem Staub bedeckte Straße entlangblickte, stellte ich mir vor, wie die junge hellblonde Kitty damals in der unerbittlichen Sonne gelitten und sich nach der Frische des schottischen Winds gesehnt haben musste.

In der Touristeninformation fragte ich nach dem Weg. »Können Sie mir sagen, wie ich diese Adresse finden kann?« Ich reichte dem Angestellten den Zettel, den ich von Eddie bekommen hatte.

»Na klar! Folgen Sie einfach der Hauptstraße aus der Stadt raus, etwa eineinhalb Kilometer. Sie können’s nicht verfehlen, außer Sie wollen noch im Busch rumspazieren«, erklärte der Mann.

Ich machte mich auf den Weg. In der brütenden Hitze war der Marsch ziemlich mühsam, und ich war dankbar, als ich das Haus endlich erreichte. Zu meinem Erstaunen war es ein simples Holzgebäude, nicht zu vergleichen mit Alicia Hall. Es sah überdies baufällig aus, die Pfosten des Vordachs wirkten so morsch, als könnten sie jeden Moment nachgeben. Neben dem Haus befand sich ein kleiner Bungalow mit Wellblechdach. Es wäre mir schwergefallen zu entscheiden, wo ich mich lieber einquartiert hätte.

Das Holzhaus wirkte unbewohnt, ich rechnete nicht damit, hier eine Menschenseele vorzufinden. Aber nachdem ich nun eigens hergekommen war, beschloss ich, zumindest an der Tür zu klopfen. Als ich die knarrenden Stufen zur Veranda hinaufstieg, bemerkte ich, dass die Haustür angelehnt war. Vorsichtig schob ich sie weiter auf.

»Hallo? Ist jemand zu Hause? Hallo?« Nichts rührte sich. »Sarah? Francis?« Als ich nichts hörte, wagte ich mich weiter voran.

Ich ging durch den Flur und rief die Treppe hinauf. Als keine Antwort kam, beschloss ich, in die Stadt zurückzukehren. Auf dem Weg nach draußen warf ich einen Blick in die Küche, die in verwahrlostem Zustand war. Mir fiel auf, dass der Wasserhahn tropfte, und ich ging hinein, um ihn abzudrehen. Dabei bemerkte ich eine Tasse auf dem Küchentisch, halb voll mit Kaffee, auf dem sich eine dünne Schimmelschicht gebildet hatte. Das machte mich neugierig, und ich öffnete den Kühlschrank. Und tatsächlich befanden sich darin eine Milchpackung, vertrocknetes Brot und vergammelter Käse.

Jemand musste vor nicht allzu langer Zeit hier gewesen sein. Mit neuer Hoffnung wanderte ich nach Broome zurück und betrat die erstbeste Bar, um Einheimische zu befragen.

In der Bar war es ziemlich finster, was mir aber nach der glühenden Hitze draußen sehr gelegen kam. Ich ließ mich auf einem der alten Barhocker nieder und bestellte einen Orangensaft. Nachdem ich genügend Mut gesammelt hatte, fragte ich den Barmann, ob er zufällig Sarah oder Francis Abraham kenne.

Der Mann, der gerade Gläser polierte, hielt inne, um zu überlegen. »Die Namen sagen mir nichts, tut mir leid, Mister.«

Ich seufzte. »Kein Problem. Den beiden gehört das Holzhaus vor der Stadt. Ich hatte gedacht, sie wären vielleicht irgendwann in letzter Zeit hier gewesen.«

Jetzt meldete sich ein Gast zu Wort, der am anderen Ende des Tresens saß, ein großes Bierglas vor sich. »Meinen Sie das alte Mercer-Haus?«

Ich wandte mich dem Mann zu. »Ja, genau.«

Er kratzte sich am Kinn. »Hmm. Sonderbar. Neulich war da wirklich jemand. Aber nicht diese beiden, von denen Sie gerade geredet haben.«

Ich stand auf und trat zu dem Gast. »Darf ich fragen, wen Sie gesehen haben?«

Er runzelte die Stirn. »So ein junges Ding. Hatte was im Ofen, das war nicht zu übersehen.«

»Ähm … Sie meinen, sie war schwanger?«

»Ganz genau. Und nicht mehr lang, der Größe des Bauchs nach zu schließen.« Er schniefte und trank einen Schluck von seinem Bier. »Meine Frau betreibt den Lebensmittelladen hier gegenüber. Da hat das Mädel vor ’ner Weile was eingekauft.«

»Das ist sehr hilfreich, vielen Dank.«

Der Mann zuckte mit den Achseln und widmete sich wieder seinem Bier. Wer hatte sich in Kittys einstigem Haus aufgehalten? Es hätten natürlich Einbrecher sein können, aber dann wäre sicher mehr verwüstet gewesen. Außerdem hatte sich jemand dort Kaffee gekocht und gegessen, und eine hochschwangere Einbrecherin fand ich eher unwahrscheinlich. War es möglich, dass …

Ich trank meinen Saft aus und trat wieder nach draußen ins grelle Sonnenlicht. In der Touristeninformation erkundigte ich mich nach dem Weg zum nächsten Krankenhaus. Es war vermutlich ein aussichtsloses Unterfangen, aber ich erlaubte mir dennoch die Mutmaßung, dass die Person, die sich in Kittys Haus aufgehalten hatte, ihren Kaffee nicht ausgetrunken hatte, weil die Wehen eingesetzt hatten.

Ich möchte anmerken, liebe Leserin, lieber Leser, dass es einer der bizarrsten Momente meines Lebens war, als ich in der Klinik von Broome auftauchte, um mich dort nach einer Person zu erkundigen, der ich noch nie zuvor begegnet war. Nach einer Viertelstunde hatte ich das kleine und auf den ersten Blick wenig eindrucksvolle Gebäude erreicht. Im Inneren jedoch war es, wie ich erfreut feststellte, kaum von einer Klinik in Genf zu unterscheiden.

Ich eilte zum Empfang. »Entschuldigen Sie bitte, aber ich bin auf der Suche nach einer jungen Frau, die vor Kurzem ein Kind geboren hat.«

Die Frau am Tresen lachte. »Da muss ich aber noch ein bisschen mehr wissen! Wie heißt sie denn, die junge Frau?«

Ich zögerte einen Moment. »Elizabeth.«

»Und weiter?«

»Ähm …« Ich strich mir über die Stirn. »Mercer. Nein, warten Sie … Abraham, glaube ich. Augenblick, Entschuldigung, sie hat geheiratet, oder? Tut mir leid, ich weiß den Nachnamen nicht.«

Die Frau sah mich an, als wäre ich verrückt. »Sind Sie ein Angehöriger, Sir? Wir lassen hier nicht jeden rein. Vor allem keine Leute, die nicht mal den Namen einer Patientin kennen …«

»Natürlich nicht, das verstehe ich vollkommen. Ich möchte hier auch nicht Einlass verlangen. Aber vielleicht könnten Sie mir nur sagen, ob eine Frau namens Elizabeth hier kürzlich ein Kind zur Welt gebracht hat.«

Die Frau zögerte. »Wissen Sie, ich darf das eigentlich nicht tun.«

»Dafür habe ich volles Verständnis. Ich frage auch nur, weil Elizabeth, die Tochter einer Freundin von mir, seit geraumer Zeit verschwunden ist. Deshalb würde ich gern wissen, ob es der jungen Frau gut geht. Wenn ich das weiß, verschwinde ich auch sofort wieder, das verspreche ich Ihnen.«

Sie betrachtete mich prüfend. »Geht in Ordnung, Sir. Nehmen Sie Platz, ich rufe die Entbindungsstation an.«

Die nächste halbe Stunde saß ich im Wartebereich, starrte auf die weißen Wände und überlegte angestrengt, was ich tun sollte, falls Lizzie tatsächlich hier war. Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als eine Frau mit brauner Haut und haselnussfarbenen Augen auf mich zutrat. Sie trug blaue Schwesterntracht. »Sind Sie der Herr, der nach Elizabeth gefragt hat?«

»Ja, der bin ich.«

Die Krankenschwester lächelte mich an. »Bitte kommen Sie mit.« Ich folgte ihr einen Korridor entlang in ein Zimmer mit einem Bett und zwei Stühlen. »Nehmen Sie Platz. Ich heiße Yindi.« Sie streckte mir die Hand hin.

»Ich bin Atlas. Freut mich, Sie kennenzulernen, Yindi.«

»Sind Sie ein Freund von Elizabeth?«

»Das ist ein wenig kompliziert, offen gestanden. Elizabeth und ich sind uns bisher nie begegnet. Aber ich bin … ein Verwandter ihrer Mutter Sarah.« Das war gelogen, aber als Familienmitglied hatte ich ein Anrecht auf Informationen.

Yindi sah ein bisschen traurig aus. »Lizzie hat viel über ihre Mutter gesprochen.«

»Deshalb bin ich überhaupt hier. Um nach Sarah zu suchen. Ich war in ihrem Haus, habe dort aber niemanden vorgefunden. Dann habe ich gehört, dass dort kürzlich eine schwangere Frau gesehen worden ist, und bin hierhergekommen.«

»Okay, Mr Atlas«, sagte Yindi. »Vor ein paar Wochen kam Lizzie hierher. Die Wehen hatten bereits eingesetzt.«

»War jemand bei ihr? Ihr Mann?«

Yindi schüttelte den Kopf. »Nein. Sie hat mir von ihm erzählt. Er hatte sie etwa einen Monat zuvor verlassen.«

»O Gott, die arme Lizzie.«

»Ja. Und die Geburt war schwierig. Fast vierzig Stunden.« Yindi schien beinahe zu schaudern bei der Erinnerung. »Das Baby war störrisch. Hat nicht auf die Medikamente reagiert. Deshalb habe ich zu den Ahnen gesprochen.«

Ich zog die Augenbrauen hoch. »Ah, dann haben Sie Aborigines-Vorfahren?«

Yindi kicherte. »Sehen Sie das denn nicht, Mr Atlas? Ich habe die Ahnen gebeten, dem Baby zu helfen. Und das haben sie getan. Aber sie haben mich auch wissen lassen …«, Yindi seufzte, »dass die Mutter nicht überleben wird.«

Ich sah sie entsetzt an. »Nein … also ist Lizzie nicht mehr …« Yindi schüttelte erneut den Kopf, und ich empfand tiefen Schmerz für Sarah. »Wie geht es dem Kind?«

»Das kleine Mädchen ist gesund und munter.«

»Das freut mich zu hören. Darf ich fragen, was Lizzie zugestoßen ist?«

»Sie hatte eine schlimme Wochenbettinfektion. Wir haben uns sehr bemüht, ihr zu helfen, aber sie hat nur auf traditionelle Arzneien angesprochen, mit denen man kein Leben retten, nur Symptome mildern kann. Die Ahnen schenkten Lizzie noch eine Woche mit ihrer neugeborenen Tochter, bevor sie zu ihnen gerufen wurde. Es tut mir sehr leid, Mr Atlas.«

Eine Weile versank ich in Schweigen. Ich war nach Broome gekommen, um eine alte Freundin zu finden, und hatte stattdessen etwas erfahren, das ihr großen Kummer bereiten würde. »Wo ist Lizzies Baby jetzt?«, fragte ich schließlich. »Ist es irgendwo untergebracht worden?«

Yindi lächelte. »Nein, die Kleine ist noch hier.«

»Hier im Krankenhaus? Wirklich?«

Yindi nickte stolz. »Ja. Ich habe sie hierbehalten, so lange es geht. Die Ahnen haben mir mitgeteilt, dass sie ein ganz besonderes Kind ist, Sir. Voller Leidenschaft! Wir Schwestern haben zunächst versucht, eine Familie für sie zu finden, aber bislang ohne Erfolg.«

Das erstaunte mich. »Ach, wieso denn? So traurig es sein mag, aber ich dachte immer, Neugeborene werden am leichtesten adoptiert.«

Yindi sah bedrückt aus. »Das stimmt, aber das Kind ist gemischter Abstammung. Die Leute hier … haben kein Interesse an solchen Kindern.«

Mir wurde ganz übel. »Großer Gott, wie furchtbar.«

»Ja. Deshalb liegt mir die Kleine besonders am Herzen.«

»Das kann ich verstehen. Und ich möchte Ihnen dafür danken, dass Sie sich ihrer so angenommen haben, Yindi.«

»Ich habe getan, was ich konnte, damit ich mich so lange wie möglich um die Kleine kümmern kann, wie die Ahnen es mir aufgetragen haben. Aber sie kann natürlich nicht für immer hier in der Klinik bleiben.« Yindi sah mich erst eindringlich an, bevor sie verschwörerisch grinste, als teilten wir beide ein kosmisches Geheimnis. »Gerade heute sind die Dokumente eingetroffen, um sie in einem örtlichen Waisenhaus unterzubringen. Was für eine Fügung ist das? Und genau an diesem Tag kommt Mr Atlas zur Tür hereinspaziert.« Yindi zwinkerte mir vielsagend zu.

»Das ist wirklich … erstaunlich.«

Yindi legte den Kopf in den Nacken und lachte lauthals. »Die Ahnen haben mir mitgeteilt, dass Sie kommen würden, Mr Atlas. Sie scheinen den Ahnen bekannt zu sein.«

Nach allem, was ich bereits erlebt hatte, hegte ich daran keinerlei Zweifel, obwohl ich es nicht vollkommen verstehen konnte. »Ich habe große Achtung vor den Ahnen«, sagte ich. »Vor vielen Jahren habe ich eine Zeit lang in Australien gelebt. Ein Ngangkari hat mir das Leben gerettet, in mehr als nur einer Hinsicht.«

Yindi starrte mich erschüttert an. »Ngangkari?«, wiederholte sie.

»Ja, genau.«

»Mr Atlas … ich stamme von Ngangkari ab. Meine Großeltern waren Heiler bei den Anangu. Deshalb bin ich Krankenschwester geworden.«

Mir lief ein Schauer über den Rücken. »Das gibt’s doch nicht.«

»Dann kennen Sie unsere Begabungen. Hier versuche ich, sie mit …«, sie wies auf das Zimmer, »Penizillin und Bluttransfusionen zu verbinden.«

Ich lächelte. »Das ist eine sehr machtvolle Kombination.«

»Kein Wunder, dass die Ahnen so klar und deutlich von Ihnen gesprochen haben. Wir beide sind durch unsere Vergangenheit verbunden, Mr Atlas. Wiederum sind Sie einer Ngangkari begegnet.« Yindi faltete einen Moment die Hände wie zum Gebet. Dann stand sie auf und ging zur Tür. »Kommen Sie mit.«

Ich erhob mich ebenfalls. »Wohin gehen wir?«

»Ich stelle Sie dem kleinen Mädchen vor.« Bevor ich etwas sagen konnte, nahm Yindi meine Hand und führte mich durch die Flure der Klinik, bis wir schließlich einen Raum betraten, in dem zahlreiche Neugeborene in Acrylglasbettchen lagen. Ein Bettchen, in dem ein Baby ruhte, das größer war als die anderen, rollte Yindi zu einer weiteren Tür und winkte mir zu. »Kommen Sie, hier können wir uns setzen.« Ich folgte ihr in einen kleinen Aufenthaltsraum für das Personal, der mit Sofas, Zeitschriften und Zubehör zum Teekochen ausgestattet war. Dort hob Yindi das Baby aus dem Bettchen. »Wollen Sie die Kleine mal in den Arm nehmen, Mr Atlas?«

»Oh, ich …«

»Na, kommen Sie, Sie sind doch Experte. Sie ziehen schließlich schon drei Töchter groß.«

»Woher wissen Sie das?«

Yindi zuckte mit den Achseln. »Die Ahnen. Sie wissen alles.«

Fassungslos sank ich auf eines der Sofas. »Das glaube ich allmählich auch.«

Yindi reichte mir das Baby, und ich hielt die Kleine in den Armen. Sie hatte einen intensiven forschenden Blick. »Sie haben recht«, sagte ich. »Dieses kleine Mädchen hat wirklich eine ganz besondere Ausstrahlung.« Ich blickte zu Yindi auf, die über das ganze Gesicht strahlte. »Wie dumm von mir, dass ich nicht vorher gefragt habe – hat Lizzie dem Kind einen Namen gegeben?«

Yindi schüttelte den Kopf. »Nein, Mr Atlas. Sie war in den Tagen nach der Geburt zu benommen.«

»Das ist wirklich herzzerreißend.« Die Kleine wimmerte ein wenig, und ich wiegte sie behutsam. »Sie haben ja gesagt, dass die Papiere für das Waisenhaus heute eingetroffen sind. Aber da ich die Namen der Großeltern kenne, wird sie doch jetzt sicher nicht in Pflege gegeben, oder?«

Yindi seufzte. »Ich fürchte doch. Wir haben schon viel zu lange gegen die Gesetze verstoßen, indem wir die Kleine hierbehalten haben.«

»Verstehe.« Ich überlegte. »Und wenn sie nun ins Waisenhaus gegeben wird … dann kann sie auch garantiert dort bleiben, bis die Großeltern sie abholen?«

Yindi blickte zu Boden. »Das wäre dem Kind gegenüber nicht fair, denn vielleicht werden die Großeltern niemals auftauchen.«

»Ich bin mir absolut sicher«, wandte ich ein, »dass sie sofort herkommen, wenn sie diese Neuigkeit erfahren.«

»Und wie wollen Sie die beiden benachrichtigen? Sie sagten doch selbst, dass Sie nach Ihrer Verwandten suchen. Wieso ist sie so schwierig zu finden?« Ich erklärte, dass Sarah und Francis auf der Suche nach ihrer Tochter im Outback unterwegs seien. »Mr Atlas«, erwiderte Yindi entschieden. »Wissen Sie nicht, wie groß Australien ist? Die beiden könnten auf dieser Suche noch jahrelang unterwegs sein.«

»Das mag sein«, gab ich zu.

Yindi legte mir eine Hand auf die Schulter, und ein warmes Gefühl durchströmte mich. »Verzeihen Sie mir meine Direktheit, Mr Atlas. Aber ich denke, Sie wissen bereits, dass es kein Zufall war, dass Sie heute hier sind.«

»Wie meinen Sie das?«

»Die Ahnen haben vorausgesagt, dass Sie Vater von sieben Töchtern sein werden.« Sie blickte auf die Kleine hinunter.

Ich stand auf und legte sie in das Bettchen zurück. »Yindi, so gern ich helfen würde, aber ich kann dieses Kind nicht einfach mitnehmen, wenn es seine Großeltern hier glücklich machen würde.«

»Sie werden dieses kleine Mädchen nicht finden, Mr Atlas.«

Ich lehnte die Stirn an die Tür und holte tief Luft. »Wie können Sie das behaupten?«

Yindi deutete nach oben. »Ich habe es Ihnen doch gesagt. Die Ahnen.«

»Aber das kann ich Ihnen doch nicht so einfach glauben!«

Yindi trat erneut zu mir und legte mir die Hand auf den Rücken. Abermals spürte ich dieses warme Gefühl, und mir fiel wieder ein, dass ich etwas Ähnliches empfunden hatte, als Yarran in Coober Pedy seine Hände auf meine gebrochenen Rippen gelegt hatte. »Sie haben die Macht der Ahnen selbst bereits erlebt. Glauben Sie daran. Zweifeln Sie deren Weg nicht an.«

»Aber ich …«

»Mr Atlas, wenn dieses Kind heute dem Waisenhaus übergeben wird, wie es geschehen muss, haben Sarah und Francis niemals die Chance, es zu finden. Sie werden nicht einmal von seiner Existenz erfahren. Sie dagegen könnten die Kleine heute mitnehmen, damit sie ein Leben voller Liebe und Fürsorge innerhalb einer Familie bekommt.«

»Ich bin zur Bestattung eines alten Freundes nach Australien gekommen, Yindi, zu keinem anderen Zweck.«

»Sie wollen den größeren Plan nicht sehen. Was Ihnen jetzt als eine Reihe erstaunlicher Zufälle erscheinen mag, steht schon in den Sternen seit einer Zeit, als weder ich noch Sie geboren waren. Es ist kein Zufall, dass Sie gerade nach Australien gereist sind, als dieses Mädchen ein Zuhause finden soll. Sie sind hierhergekommen, weil es genau der richtige Augenblick ist.«

Yindis Worte stießen bei mir auf Widerhall. Nach allem, was ich bereits erlebt hatte – wie hätte ich da die allwissende Natur des Universums anzweifeln sollen? Mir kam ein Gedanke. »Wie wäre es denn, wenn ich vorübergehend der Vormund der Kleinen wäre? Ich könnte die Kontaktdaten meines Anwalts hier in der Klinik hinterlassen. Falls Sarah und Francis hier eintreffen sollten, könnten sie mich sofort anrufen.«

Yindi lachte leise. »Wenn Sie sich dann besser fühlen, Mr Atlas, können wir das natürlich so machen. Ich werde es offiziell in die Akten aufnehmen, damit die beiden jederzeit mit Ihnen in Kontakt treten können. Aber das wird nicht geschehen. Niemals. Das haben mir die Ahnen gezeigt. Die Kleine gehört zu Ihnen. Sie ist Ihre fünfte Tochter.«

»Die vierte«, widersprach ich. »Vielleicht können auch die Ahnen nicht alles erkennen.«

Yindi sah einen Moment lang verwirrt aus. Dann erwiderte sie entschieden: »Doch, Mr Atlas. Die Ahnen wissen alles.«