LI

1982 

»Mir fällt nichts ein, was ein Risiko darstellen könnte«, sagte Georg und trank einen Schluck starken schwarzen Kaffee. Wir saßen in seinem Büro in der Rue du Rhône.

»Sie hat bei Arthur Morton Books angerufen?«

»Ja, und Rupert Forbes hat ihr meine Kontaktdaten gegeben.«

»Und Rupert hat keine Ahnung, worum es gehen könnte?«

»Nicht die geringste, nein.«

Am Vormittag hatte Georg mir vom Anruf einer Amerikanerin namens Lashay Jones erzählt. Sie habe gebeten, mit mir zu sprechen, und gesagt, es sei eine Sache von großer Wichtigkeit. Georg hatte ihr versichert, er sei mein Stellvertreter und sie könne durchaus vertraulich mit ihm reden, aber sie hatte sich schlicht geweigert. Aus den bekannten Gründen widerstrebt es mir sehr, geheimnisvolle Anrufe wildfremder Menschen entgegenzunehmen.

»Und sie hat wirklich nach Atlas Tanit gefragt?«

Georg nickte. »Hundertprozentig. Sie sagte, sie glaube, dass Sie bei Arthur Morton Books arbeiten. Aber nichts deutet darauf hin, dass es eine Verbindung zu Kreeg Eszu geben könnte. Ich bin mir sicher, dass Sie gefahrlos mit Miss Jones sprechen können.«

Ich ließ mir seine Worte durch den Kopf gehen. »Aber der Zeitpunkt ist merkwürdig, oder nicht? Da müssen Sie mir doch recht geben.«

»Das schon«, räumte Georg ein.

Vor einem Monat war Lightning Communications plötzlich wieder aktiv geworden. Das Unternehmen baute in Griechenland langsam einen Kundenstamm auf und bot Firmen an, ihnen dabei zu helfen, »Zusammenhalt, Glaubwürdigkeit und ethische Werte« zu vermitteln. Als ich das las, hatte ich den Kopf zurückgeworfen und war in Gelächter ausgebrochen. Wie ausgerechnet dieser Mensch Glaubwürdigkeit und ethische Werte verkaufen wollte, überstieg mein Vorstellungsvermögen. Das Unternehmen hatte sich auch ein Logo zugelegt – ein Blitzstrahl, der aus einer Wolke fährt. Und offenbar wollte Kreeg sich auch selbst einbringen, wir sahen Fotos, auf denen er Präsentationen abhielt und zu Geschäftsessen einlud, und entdeckten in einigen Lokalzeitungen Artikel über die Firma.

Sofern Kreeg in den vergangenen Jahren getrauert hatte, war diese Zeit jetzt eindeutig vorbei, er trat gesellschaftlich wieder in Erscheinung.

»Und Sie sind sich sicher, dass das nicht ein Versuch von Kreeg ist, meinen genauen Aufenthaltsort herauszufinden?«

Georg schüttelte den Kopf. »Meine Intuition sagt mir, dass es hier um etwas völlig anderes geht.«

Ich vertraute dem Urteil meines Anwalts. »Also gut. Dann vereinbaren wir ein Gespräch für morgen.«

Am folgenden Tag saß ich in meinem Arbeitszimmer und wartete, dass Georg den Anruf von Lashay Jones nach Atlantis durchstellte. Unterdessen betrachtete ich die Regale mit Gegenständen und Andenken von meinen Reisen um die Welt. Dazwischen standen gerahmte Bilder der Mädchen und mir. Eins meiner liebsten nahm ich in die Hand, es zeigte uns sechs beim Eisessen auf dem Anlegesteg von Atlantis. Um Punkt sechzehn Uhr läutete mein Bürotelefon. Ich legte das Bild beiseite und griff nach dem Hörer. »Atlas Tanit.«

Eine samtene Stimme sagte mit einem amerikanischen Akzent: »Oh, hallo, Mr Tanit. Hier ist Lashay Jones. Man hat Ihnen meinen Anruf angekündigt?«

»Hallo, Miss Jones. Ja, das stimmt, obwohl ich zugeben muss, dass ich nicht die geringste Ahnung habe, worum es gehen könnte.«

Sie holte tief Luft. »Entschuldigen Sie, Mr Tanit. Ich rufe Sie vom Hale House in Harlem an, in New York.«

Ich kramte in meiner Erinnerung. »Bedauere, Miss Jones, der Name sagt mir nichts.«

»Vielleicht haben Sie von Mutter Hale gehört? Clara Hale?«

»Bedauerlicherweise nicht.«

Kurz blieb es still in der Leitung, während ihr dämmerte, dass sie mir mehr erklären musste als erwartet. »Ich verstehe, Sie sind in Europa, da ist der Name womöglich nicht so bekannt wie hier. Das Hale House hier in New York ist ein Kinderheim.« Mir lief es kalt über den Rücken. War dies der lang befürchtete Anruf? Ein Kinderheim, das aus welchem Grund auch immer eine meiner Töchter zurückforderte? Ich bemühte mich, Ruhe zu bewahren. »Bei uns wurde vor mittlerweile zwei Nächten ein neugeborenes Mädchen vor die Tür gelegt.«

Das beruhigte mich ein wenig. »Ist das etwas … Ungewöhnliches für Sie?«, fragte ich.

»Leider nicht, Sir. Aber der Grund, weshalb wir Sie anrufen, ist, dass wir etwas bei dem Kind gefunden haben. Um genau zu sein, eine Visitenkarte mit Ihrem Namen und den Kontaktdaten.«

Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte. »Das ist erstaunlich. Ich habe in Amerika keine Verwandten … und auch keine richtigen Freunde.«

Ich hörte, wie Lashay Jones Papier durchblätterte. »Ich habe sie hier. Die Visitenkarte sieht sehr abgegriffen aus.«

»Das wundert mich nicht. Ich arbeite seit über dreißig Jahren nicht mehr in der Buchhandlung.« Ich überlegte angestrengt. »Wahrscheinlich haben Sie die Person, die das Kind bei Ihnen ließ, nicht gesehen?«

Sie seufzte. »Nein, Sir. Aber wir konnten auf Ihrer alten Visitenkarte ein paar Worte entziffern.«

»Ach ja?«, fragte ich gespannt. »Welche denn?«

»Da steht auf der Rückseite ›guter Mensch‹, Sir«, antwortete Lashay Jones.

Stöhnend ließ ich mich in meinen Stuhl sinken. Im Geist war ich wieder im Speisesaal des Waldorf Astoria in New York und sah das lächelnde Gesicht von Cecily Huntley-Morgan vor mir.

Schauen Sie, ich habe sogar »g uter Mensch« hinten draufgeschrieben! Ich werde sie immer bei mir tragen. Als Glücksbringer.

»Sind Sie noch dran, Mr Tanit?«, fragte Lashay Jones.

»Ja«, antwortete ich fassungslos. »Äh, Miss Jones, ehrlich gesagt habe ich jetzt eine Vermutung, von wem das Kind sein könnte. Also – wissen Sie vielleicht etwas über dessen Herkunft?«

Es folgte ein kurzes Schweigen in der Leitung. »Tja, eines wissen wir auf jeden Fall. Das Hale House kümmert sich nicht nur um unerwünschte Kinder.« Bei dem Ausdruck überlief mich ein eiskalter Schauder. »Mutter Hale hilft Kindern, deren Mütter drogenabhängig sind. Leider muss ich Ihnen sagen, dass dieses Neugeborene unserer Ansicht nach cracksüchtig ist.«

»Du lieber Himmel.« Ich schlug mir die Hand vor den Mund.

»Das finden viele Menschen erschreckend. Aber, Sir, so ist hier die Realität. In Harlem finden sich Drogenhöhlen an jeder Ecke. Ich vermute, dass dieses Baby von der Nebenstraße der Lenox Avenue stammt.«

Die Lenox Avenue. Der Name kam mir bekannt vor. »Hören Sie, dann buche ich für morgen einen Flug nach New York.«

***

Und tatsächlich stand ich am folgenden Tag vor dem heruntergekommenen Sandsteinbau des Hale House in Harlem. Ich klopfte an die Tür und wurde von einer Frau empfangen, die eine üppige Afro-Frisur und einen blauen Trainingsanzug trug. »Sind Sie Mr Tanit?«, fragte sie.

»Ja, genau.«

»Ich bin Lashay Jones, wir haben gestern telefoniert.«

»Hallo, Miss Jones, es freut mich, Sie kennenzulernen.« Ich reichte ihr die Hand.

»Aber nicht doch, hier gibt’s Umarmungen«, sagte sie, zog mich an sich und schlang die Arme fest um mich.

Vor Überraschung lachte ich auf. »Ach, das ist ja nett.«

»Und Sie sind gerade aus Schweden hergeflogen?«

»Aus der Schweiz, um genau zu sein.«

Sie stemmte die Hände in die Hüften und hob eine Augenbraue. »Ist das in der Nähe von Schweden?«

»Es … ist auf demselben Kontinent.«

Lashay Jones lachte. »Das war ein Scherz, nur ein Scherz. Entschuldigen Sie, am Vormittag war viel los. Heute haben wir hier viele hungrige Mäuler zu stopfen.« Mit ihrer charmanten Selbstironie hatte Lashay Jones mich im Handumdrehen für sich eingenommen. »Kommen Sie rein.« Ich folgte ihr ins Hale House und wurde zu einer Tür links vom Gang gebracht. »Sie sitzt dort drin.«

»Wer?«

»Mutter Hale natürlich!« Sie öffnete die Tür zu einem kleinen Büro. Vor dem Fenster saß an einem großen Schreibtisch eine zierliche alte Frau mit grauen Haaren und einer weißen Strickjacke. Als ich hereinkam, drehte sie sich um.

»Ist das der Herr aus Europa?«, fragte sie Lashay Jones, die nickte. Die Frau stand umständlich auf und kam mit unsicheren Schritten auf mich zu, um mir die Hand zu reichen.

»Clara Hale.«

»Atlas Tanit. Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen.«

»Ganz meinerseits.«

»Dann lass ich Sie mal lieber allein«, sagte Lashay Jones und verließ mit einem Lächeln den Raum.

»Setzen Sie sich doch bitte.« Die ältere Frau deutete auf ein abgewetztes Ledersofa.

»Danke.«

»Tja«, sagte Clara Hale. »Die geheimnisvolle Visitenkarte.« Sie holte aus einer Schublade ihres alten Holzschreibtischs ein kleines Stück Karton. »Hier ist sie, Mr Tanit.«

»Danke.« Ich nahm die Karte und betrachtete sie. »Ja, sie ist eindeutig eine von meinen«, bestätigte ich. »Aber wie ich schon Miss Jones sagte, verwende ich sie seit Jahrzehnten nicht mehr, seitdem ich nicht mehr den Buchladen leite.«

»Und doch hat es sich so gefügt, dass die Karte zusammen mit einem Neugeborenen bei uns vor der Tür lag. Jetzt frage ich mich, wie in aller Welt es dazu gekommen ist.«

»Das frage ich mich genauso wie Sie … Entschuldigen Sie, Miss Hale? Mutter Hale?«

Sie zog die Nase kraus und fing dann ganz genau wie Lashay Jones einige Minuten zuvor herzhaft zu lachen an. »Einfach Clara reicht. Ich habe das ›Mutter‹ nur angenommen, weil … tja …« Mit einem Achselzucken deutete sie auf ihre Umgebung.

»Natürlich. Miss Jones hat mir gestern ein wenig erzählt, was Sie tun. Das ist unglaublich.«

»Das ist ein Wort dafür. Eigentlich dürfte ich das Leben, das ich führe, nicht führen müssen. Kinder sind ein Geschenk Gottes. Wie jemand es schafft, sich von seinem eigenen Kind zu trennen, ist mir ein Rätsel, Mr Tanit.«

»Das ist in der Tat eine gute Frage. Aber vermutlich gibt es bestimmte Umstände, in denen es für Kinder besser ist, wenn andere sie großziehen.«

Clara legte die Fingerspitzen gegeneinander. »Interessant.«

»Was ist interessant?«, fragte ich.

»Ich kümmere mich seit mittlerweile vierzig Jahren um die Kinder anderer Menschen, und den Gedanken habe ich noch kein einziges Mal gehört. Normalerweise stimmen mir alle zu und sagen, wie schrecklich es ist.« Ich spürte Claras forschenden Blick auf mir. »Sie haben also offenbar ganz andere Erfahrungen gemacht als die meisten anderen Menschen, Mr Tanit. Wie kommt das?«

Claras Worte überraschten mich. »Sie sind ausgesprochen scharfsichtig«, sagte ich mit einem Lachen. »Ich habe fünf Adoptivtöchter.«

Claras Augen weiteten sich vor Erstaunen. »Du meine Güte, wirklich?« Ich nickte bestätigend. »Tja, was soll ich sagen?« Sie lachte ebenfalls. »Sie sind auch so jemand wie ich.«

Ich sah sie fragend an. »Wie meinen Sie das?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Ach, Sie wissen schon. Großherzig. Wahrscheinlich ein bisschen verrückt. Andernfalls würde das, was wir machen, gar nicht funktionieren.«

»Aber nein, Clara, Sie und ich – uns kann man doch gar nicht vergleichen. Ich habe nur fünf Töchter, und ich bin in der Lage, ihnen ein sehr angenehmes Leben zu bieten. Und wie viele Kinder sind durch Ihre Tür gegangen?«

Sie seufzte tief. »Hunderte. Ich habe rund fünfzig in Pflege genommen, dann habe ich es offiziell gemacht und 1970 eine Genehmigung erworben, ein Kinderheim zu eröffnen. Aber ob eins oder tausend, ist völlig egal. Ein Mensch kann kaum etwas Edleres tun, als einem ungeliebten Kind Liebe zu schenken.«

Ihr Gesicht war unglaublich … freundlich. Trotz ihrer respektgebietenden Präsenz versprühte sie Herzlichkeit. »Das dachte ich früher auch einmal, Clara. Aber ich habe von meinen Töchtern zehnmal mehr Liebe zurückbekommen.«

Clara lachte wieder. »Das ist das Geheimnis, stimmt’s?« Sie lehnte sich in ihrem ledernen Bürostuhl zurück. »Wissen Sie, ich war siebenundzwanzig, als mein Mann starb. Ich war am Boden zerstört, genauso wie unsere drei Kinder. Eine Weile habe ich Trübsal geblasen, und dann habe ich beschlossen, dass ich, komme was da wolle, einfach immer … weiteratmen würde.« Sie lächelte wehmütig. »Um uns durch die Depression zu bringen, habe ich zu guter Letzt als Gefängniswärterin gearbeitet. Das war entsetzlich. Aber die lächelnden Gesichter der Kinder, die habe ich geliebt. Sie haben mir Hoffnung gegeben. Deswegen habe ich aus meinem Haus eine Kindertagesstätte gemacht. Und eines Tages habe ich dann gemerkt, dass ich nicht nur atme, sondern auch wieder lebe.«

Claras Geschichte war mir nicht fremd. »Ja, das können Kinder bewirken.«

»Und ob, Mr Tanit, und ob.« Clara stand auf und sah zum Fenster hinaus. »Bald nachdem ich die Tagesstätte eröffnet hatte, bin ich auf die Straßen hinausgegangen, um obdachlosen Kindern zu helfen. So habe ich angefangen, Pflegekinder aufzunehmen, sieben oder acht auf einmal.« Sie schüttelte ungläubig den Kopf.

»Wie haben Sie das geschafft?«

»Ganz einfach! Ich habe jedes der Kinder wie meine eigenen geliebt. Ich bin eine Mutter für alle geworden, die keine hatten.«

Ein bemerkenswerter Mensch. »Miss Jones erwähnte, dass Sie sich auf die Fürsorge von Kindern … spezialisieren, deren Eltern drogenabhängig sind.«

Clara schaute mich traurig an. »Ja, das stimmt. Eines Tages vor ungefähr zehn Jahren hat Lorraine – das ist meine älteste Tochter – eine Mutter mit Kind zu mir gebracht, die beide heroinabhängig waren.« Sie setzte sich auf den Rand des Schreibtischs. »Wissen Sie, die beiden brauchten eine ganz besondere Behandlung. Zu dem Zeitpunkt habe ich mich dann um die offizielle Genehmigung bemüht und dieses größere Haus gekauft. Es hat fünf Stockwerke, und wir brauchen jedes einzelne, zumal mit dieser neuen Sache, die jetzt umgeht.«

»Diese neue Sache?«, fragte ich.

Mutter Hale schüttelte den Kopf. »Dieses AIDS-Virus.«

Ich hatte in der Schweiz in den Tageszeitungen darüber gelesen. »Ist das hier ein großes Problem?«

»Und wie! Es wird, soweit wir wissen, durch Blut übertragen. Und wenn Menschen Spritzen teilen … tja. Wissen Sie, die Kinder kommen damit zur Welt. Nicht, dass irgendjemand darüber reden möchte. Unser Leinwand-Präsident nimmt das Wort nicht mal in den Mund. Diese Menschen brauchen Hilfe, Mr Tanit. Und die bekommen sie nicht, wenn wir nicht endlich darüber reden.«

»Darf ich fragen, wie Sie sich um Kinder kümmern, die einen so besonders schweren Start ins Leben haben?«

»Es ist ganz einfach. Sie nehmen sie in den Arm, wiegen sie, lieben sie und sagen ihnen, wie großartig sie sind. Ich pflege sie über ihre ererbte Sucht hinweg. Und wenn sie dann gesund sind – und sehr viele von ihnen werden wieder ganz gesund –, sucht man ihnen eine gute Familie. Ich achte persönlich darauf, dass beide Parteien zueinanderpassen«, sagte Clara entschieden. »Ich leugne nicht, dass ich schon potenzielle Eltern abgelehnt habe, wenn ich fand, dass sie dem Kind keine entsprechend gute Umgebung bieten konnten. Tja«, sie atmete laut aus, »und das ist meine Geschichte.« Langsam kam sie zum Sofa und setzte sich neben mich. »Und was ist Ihre, Atlas Tanit?«

Ich fasste mein Leben kurz zusammen und konzentrierte mich darauf, wie es dazu gekommen war, dass ich der Adoptivvater von fünf großartigen Töchtern wurde. Ich erwähnte auch kurz meine Stippvisite in New York in den Vierzigerjahren und meine Begegnung mit Cecily Huntley-Morgan – der ich die Visitenkarte ursprünglich überreicht hatte.

»Cecily … war sie eine Schwarze?«, fragte Clara.

»Nein«, erwiderte ich. »Eine weiße Engländerin.«

Clara machte ein überraschtes Gesicht. »Das wäre für eine junge Weiße in den Vierzigerjahren eine ziemliche Sache gewesen, nach Harlem zu kommen und die schwarze Bürgerrechtsbewegung zu unterstützen. Ich frage nur, weil sich die Schlussfolgerung aufdrängt, dass das kleine Mädchen, das vor ein paar Tagen hier bei uns vor die Tür gelegt wurde, ein Nachkömmling der Frau ist, der Sie begegnet sind.«

Ich nickte. »Ja, das wäre die logische Erklärung.«

»Vielleicht hat sich eins ihrer Kinder ja in einen Schwarzen verliebt, und das hat jemandem in der Familie nicht gefallen? Wer weiß. Wie auch immer, gibt es eine Möglichkeit, Kontakt zu ihr aufzunehmen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Leider nicht. Ich habe die Möglichkeit von meinem Anwalt prüfen lassen, aber … sie ist 1969 an Malaria gestorben.«

»Oh.« Clara überlegte. »Haben Sie erfahren, ob sie Kinder hatte?«

»Die Sache ist«, erklärte ich, »Cecily hatte tatsächlich eine Tochter. Das hat sie mir damals beim Essen vor all den Jahren erzählt … Allerdings war das Mädchen nie unter ihrem Namen gemeldet. Wenn ich mich recht erinnere, hatte sie das zurückgelassene Kind einer Kenianerin bei sich aufgenommen. Gesetzlich gehörte das Kind allerdings einer anderen Frau, und es ist unmöglich, sie aufzuspüren.«

Clara ließ das alles auf sich wirken. »Tja.« Sie sah mich aus ihren klugen braunen Augen an. »Und was jetzt?«

»Was meinen Sie?«

»Ich meine, was möchten Sie wegen des Kindes unternehmen, das auf meiner Schwelle gelandet ist, Mr Tanit?«

»Ach.« Es entstand ein unbehagliches Schweigen.

Clara schlug sich mit der Hand aufs Knie und schmunzelte mich an. »Ach, jetzt kommen Sie schon! Oder wollen Sie im Ernst behaupten, dass Sie nach einem Anruf alles stehen und liegen lassen und um die halbe Welt fliegen, nur um ihre Neugier wegen einer alten Visitenkarte zu stillen?«

Angesichts von Claras Unverblümtheit verschlug es mir die Sprache. »Ich …«

Sie rückte näher zu mir. »Sie haben von diesen fünf schönen Adoptivtöchtern gesprochen, die alle durch einen mysteriösen Zufall in Ihr Leben gelangten. Jetzt bekommen Sie einen Anruf wegen eines kürzlich geborenen kleinen Mädchens, an dessen Körbchen Ihre Adresse von vor dreißig Jahren befestigt ist, und da soll ich Ihnen abnehmen, dass Sie nicht hierhergekommen sind, um mit ihr nach Hause zu fliegen?« Sie sah mich stirnrunzelnd an.

»Eigentlich habe ich nicht …«

Sie stupste mich freundlich an. »Ach was, natürlich haben Sie, Atlas! Darf ich Sie Atlas nennen?« Ich nickte heftig. »Sie brauchen sich nicht so zurückhaltend zu geben. Nicht mir gegenüber. Nicht bei dem, was ich mache.«

»Wahrscheinlich … ja, mir ist der Gedanke gekommen, dass das Universum mir damit etwas sagen möchte.«

»Das ist sehr gut möglich, mein Lieber. Und nur damit Sie es wissen, ich hätte genau das Gleiche getan. Aus irgendeinem Grund hat die Visitenkarte die letzten dreißig Jahre überdauert. Ist das nicht unglaublich? Cecily dachte sich, ›die Karte hebe ich mal auf, vielleicht wird sie eines Tages noch gebraucht‹. Und siehe da – eines Tages wurde sie wirklich gebraucht … Wahrscheinlich sollten wir jetzt mal zu der Kleinen gehen.«

Ich folgte Mutter Hale die Stufen des Gebäudes hinauf nach oben. Sie schritt vorsichtig, aber zielstrebig aus. Je höher wir kamen, desto lauter wurde das Schreien. Im dritten Stock angekommen drehte Clara sich mit bedrückter Miene zu mir. »Vielleicht sollten Sie sich wappnen. Für Menschen, die das zum ersten Mal erleben, kann es etwas schwierig sein.« Sie führte mich in ein Zimmer, in dem rund ein Dutzend sehr kleiner Babys in ihren Bettchen lagen, einige wurden von Frauen in Kitteln versorgt.

»Sie wirken alle, als würden sie unglaubliche Qualen leiden.«

»Das, Atlas, tun sie auch. Dies sind die Kinder, von denen wir glauben, dass sie von drogensüchtigen Müttern zur Welt gebracht wurden. Es zerreißt einem das Herz.«

Die Kinder heulten und kreischten, es waren Töne, die aus ihrem tiefsten Inneren kamen und mich erschütterten. »Das Weinen … ich kann es nicht erklären. Es ist sehr anders als das, woran ich gewöhnt bin.«

Clara begegnete meinem Blick. »Ich weiß. So schwer es zu begreifen ist, sie betteln um eine Dosis von was immer ihre Mutter genommen hat.« Mich schauderte.

Wir kamen vorbei an einem Baby, das zitternd in seinem Bettchen lag. Der ganze winzige Körper des Kleinen bebte, seine Gliedmaßen zuckten und zappelten wie wild. »Geht es ihm nicht gut, Clara?«, fragte ich besorgt.

Mutter Hale holte ihre Brille aus der Tasche und schaute in das Bettchen. »Alles gut, Herzchen.« Sacht streichelte sie dem Baby übers Haar. »Sei stark, mein Mädchen, sei stark.« Liebevoll steckte sie die Ärmchen der Kleinen in das Tuch zurück, in das sie gewickelt war. »Neugeborene, die an Entzugserscheinungen leiden, sind verständlicherweise sehr unruhig. Um ihnen zu helfen, versuchen wir, sie so fest wie möglich einzupacken.« Sie fasste der Kleinen an den Hals, um ihren Puls zu spüren, wartete kurz und nickte dann. »Sie kommt durch. Das ist die schwierigste Zeit für sie. Hilary?«, wandte Clara sich an eine der Frauen im Kittel, die ein Baby wiegte, das besonders gellend schrie. »Wie steht es mit Simeons Anfällen?«

»Heute noch kein einziger, Mutter Hale«, antwortete Hilary.

Claras Miene hellte sich auf. »Das nenne ich nun wirklich eine gute Nachricht. Und Cynthia?« Clara wandte sich an eine andere Frau, die in ein anderes Bettchen schaute. »Hat Grace das Essen bei sich behalten?«

»Vier von fünf Malen heute, Mutter Hale.«

»Gut!« Sie klatschte vor echter Freude in die Hände und sah dann zu mir. »Diese Kinder brauchen wegen der großen Unruhe besonders viele Kalorien. Wenn sie dann endlich das erste Essen bei sich behalten, sind sie meist über den Berg.« Mutter Hale ging mit mir weiter zum letzten Bettchen in der Reihe. »Ja, und hier ist sie«, sagte sie und deutete auf das winzige Bündel, das dort lag.

Ich schaute auf das kleine Mädchen, das sich mit aller Kraft drehte und wand, als wollte es sich um jeden Preis aus dem Wickeltuch befreien.

»Miss Jones meinte, Sie glauben, dass ihre Mutter … Crack genommen hat?«, fragte ich beklommen.

Mutter Hale zuckte mit den Achseln. »Das werden wir nie mit Sicherheit wissen. Aber ihre Pupillen sind etwas vergrößert, und ihr Atem geht sehr schnell und heftig. Das würde passen. Leider muss ich sagen, dass Crack hier ziemlich verbreitet ist. Wann wurde sie das letzte Mal gefüttert, Hilary?«

»Vor rund zwei Stunden, Mutter Hale.«

»Passt genau.« Sie holte aus einem Holzschrank in der Zimmerecke ein paar Tütchen mit Pulver, das sie in einer Babyflasche auflöste. Die reichte sie dann mir. »Bitte schön.«

»Ich soll sie füttern?«

Clara nickte. »Das wäre eine große Hilfe.«

Ich legte die Flasche in das Bettchen und nahm die Kleine auf den Arm. Sobald ich sie berührte, kreischte sie schrill und versuchte mit der Kraft eines wesentlich älteren Kinds, sich aus meinem Griff zu befreien.

»Es ist alles gut, Kleines, alles gut.« Sacht wiegte ich sie hin und her, genau wie meine anderen Kinder. »Könnten Sie mir das Fläschchen reichen?«, bat ich Clara. Sie gab es mir, und ich führte den Sauger vorsichtig zwischen die Lippen der Kleinen. Zu meinem Erstaunen nuckelte sie sofort so kräftig daran, als wäre sie am Verhungern.

»Gelogen haben Sie nicht«, befand Clara. »Das haben Sie schon mal gemacht.«

»Haben Sie an meiner Geschichte gezweifelt?«

»Nein. Ich wusste nur nicht, ob Sie mit den Säuglingen selbst umgehen können. Aber Sie haben das gewisse Händchen. Dafür habe ich einen Riecher.« Sie berührte ihren Nasenflügel.

Das kleine Mädchen war optisch ausgesprochen auffällig. Mit ihren wunderschönen gold-gelben Augen und der sehr dunklen Haut hätte man sie auf den ersten Blick für völlig gesund halten können. »Ich weiß, dass sie gerade ein entsetzliches Stadium durchmacht, Clara, aber sie fühlt sich so lebendig an.«

Clara nickte. »Stimmt. Eine der Betreuerinnen hat etwas Ähnliches gesagt. Was war das, Hilary?«

»Die Kleine hat ein ziemlich heftiges Temperament.« Hilary lachte kurz auf, ehe sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf ein anderes Baby richtete.

»Das ist eine gute Beschreibung«, erwiderte ich.

Wenige Minuten später war das Fläschchen leer, und ich reichte es Clara. »Also, um auf meine Frage von vorhin zurückzukommen«, sagte sie. »Wie machen wir weiter?«

Cecily hatte ›guter Mensch‹ auf meine alte Karte geschrieben. Diesem Urteil musste ich ja wohl oder übel gerecht werden. »Ich kann noch heute Abend mit ihr nach Hause fliegen«, bestätigte ich.

Mutter Hale öffnete den Mund, dann zog sie wieder die Nase kraus, und ich wusste, was jetzt kommen würde. Sie lachte schallend. »Das werden Sie verdammt noch mal nicht tun, Atlas Tanit! Haben Sie mir denn überhaupt nicht zugehört?«

Ich war betroffen. »Das tut mir wirklich sehr leid, Clara. Ich dachte, Sie möchten, dass ich sie adoptiere.«

»Das möchte ich ja auch! Aber heute Abend mit ihr nach Hause fliegen? Haben Sie völlig den Verstand verloren? Hilary, haben Sie das gehört? Cynthia?« Die beiden anderen Frauen stimmten in Claras Lachen ein, und ich lief puterrot an. »Erstens ist es mir völlig egal, ob Sie das schon fünfmal gemacht haben, ich muss Sie und Ihre Familie erst routinemäßig überprüfen, um sicherzustellen, dass die Kleine in eine liebevolle Familie kommt.«

Zutiefst beschämt sah ich zu Boden. »Natürlich.«

»Außerdem.« Clara zögerte kurz. »Ich möchte ja ungern auf das Offensichtliche hinweisen, aber dieses kleine Mädchen würde mit fünf weißen Schwestern aufwachsen. Ich möchte nicht, dass sie sich dadurch in irgendeiner Weise beeinträchtigt fühlt.«

»Um Himmels willen, nein. Aber um genau zu sein, sind nur vier meiner Kinder weiß. Ich habe Ihnen ja schon von Celaeno erzählt, CeCe, meiner Tochter aus Australien, oder?«

Clara sah mich neugierig an. »Ja.«

»Ihr Vater war ein indigener Australier, und ihre Mutter war gemischter Abstammung. Sie ist nicht weiß.«

Mutter Hale überlegte einen Moment. »Aha. Viele Leute wählen als Adoptivkinder meist Kinder mit der gleichen Hautfarbe wie ihre eigene. Aber für Sie spielt das keine Rolle?«

»Überhaupt keine«, bestätigte ich aufrichtig.

Clara nickte anerkennend. »Gut, gut. Dann bleibt noch die Aufgabe, der Kleinen hier beim Entzug zu helfen. Ein paar Wochen ist sie noch auf unser Fachwissen angewiesen, und danach wird sie nach wie vor eine besondere Versorgung brauchen.«

»Ich habe die besten Ärzte an der Hand«, versicherte ich.

»Das freut mich ja sehr für Sie, aber ich werde trotzdem mit ihnen sprechen müssen. Ein Medizinabschluss von einer schicken Uni ist ja gut und schön, aber die meisten von ihnen haben vermutlich überhaupt keine praktische Erfahrung mit Patienten in einer solchen Situation.«

»Da haben Sie absolut recht, Clara. Ich würde darauf bestehen.« Ich brachte die Kleine in eine aufrechte Position, damit sie Bäuerchen machen konnte. Clara lächelte.

»Also gut. Dann können wir die Sache in die Wege leiten.« Sie legte mir eine Hand auf den Rücken. »Herzlichen Glückwunsch, Daddy.«