LIII

Im Lauf der nächsten Wochen wurden alle geheimen Anlagen in Atlantis überprüft und verstärkt. Zusammen mit Marina spielte ich die diversen Szenarien durch, wie Kreeg ins Haus gelangen könnte und wie wir die Mädchen am besten in Sicherheit bringen könnten. Davor graut mir. Wie könnte ich ihnen auch nur ansatzweise erklären, was passiert ist? Sie würden ihren eigenen Vater hinterfragen und an ihm zweifeln. Das ist eine Vorstellung, die ich im Moment lieber verdränge.

Am Abend bevor Maia wieder zur Uni aufbrechen sollte, sah ich Marina das Zimmer meiner Ältesten mit kreidebleichem Gesicht verlassen.

»Alles in Ordnung, Marina?«, fragte ich.

Sie hatte mich im Flur gar nicht bemerkt und fuhr erschreckt zusammen. »Entschuldigen Sie, ich war in Gedanken ganz woanders«, brachte sie hervor.

»Das habe ich gemerkt. Ist alles okay?«

»Wie bitte? Ach, ja, natürlich. Alles bestens.«

Marina konnte noch nie gut lügen, aber ich wollte nicht weiter in sie dringen. Widerwillig ließ ich die Sache auf sich bewenden.

Georg Hoffman hat mit der ihm eigenen Zuverlässigkeit in Griechenland ein Team engagiert, das alle Bewegungen Kreegs verfolgen soll. Fast zu meiner Enttäuschung hat sich offenbar nichts verändert, bis auf die Tatsache, dass sich Lightning Communications zu einem milliardenschweren Unternehmen entwickelt hat. Es hat sogar eine Tochterfirma ins Leben gerufen, die Kreegs weitläufigeren Interessen dient – Athenian Holdings. Für mich lag auf der Hand, dass der Name eigens gewählt wurde, um mich zu treffen. In unserer Kindheit hat er mich oft wegen meiner großen Liebe zur griechischen Mythologie aufgezogen. Warum sollte er die Kriegsgöttin Athene gewählt haben, wenn nicht, um seine Position zu verdeutlichen?

Was jedoch ihn selbst betraf, so versicherte Georg mir allabendlich, deutete nichts darauf hin, dass er demnächst in Atlantis auftauchen wird, um sich an mir persönlich zu rächen. Vielmehr hat er die nächste Generation dafür ins Auge gefasst.

Aus dem Grund bat ich Georg, sich Zed selbst vorzunehmen. Was wir entdeckten, überraschte mich wenig. Der junge Mann war arrogant, verwöhnt und prasste mit dem Vermögen seines Vaters – das Gegenteil dessen, wie ich es meinen Töchtern gegenüber hielt. Jede hatte genügend eigenes, von mir zur Verfügung gestelltes Geld, um gut über die Runden zu kommen, aber verrückte Extravaganzen gestattete ich ihnen nicht. Und ganz bestimmt nicht mehrere Lamborghinis, in denen Zed Eszu offenbar durch die Straßen von Athen brauste.

Rund einen Monat nach Maias Offenbarung klopfte Marina an die Tür meines Büros. Und sobald ich ihr Gesicht sah, wusste ich, dass Unheil drohte. Sie konnte mir kaum in die Augen schauen.

»Was ist, Marina?«, fragte ich. Sie schenkte mir aus meiner Karaffe ein Glas mit Brandy ein. »Du meine Güte, so einen großen Brandy? Da sollte ich mich wohl wirklich auf etwas Schlimmes gefasst machen.«

»Ja, es wird nicht einfach zu verkraften sein.« Marina zögerte.

»Bitte, raus mit der Sprache.«

»Ich habe heftig mit mir gerungen, ob ich mit Ihnen darüber reden soll, Atlas. Aber ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich es Ihnen schuldig bin. Ich muss Ihnen sagen …« Sie brachte es nicht über sich, den Satz zu beenden.

Jetzt schenkte ich Marina einen Brandy ein und reichte ihr das Glas. »Hier, trinken Sie.« Sie befolgte meinen Rat und kippte das Glas in einem Zug hinunter. »Maia ist schwanger.«

Ich leerte meinen Brandy ebenfalls. Dann saß ich reglos da, damit das Entsetzen und die Angst sich legen und ich mich wieder fassen konnte. »Danke, Marina. Das ist sehr wichtig zu wissen.«

»Atlas, es tut mir so leid. Ich will mir gar nicht vorstellen, was in Ihnen vorgeht.«

»Nein«, flüsterte ich und bemerkte erst jetzt, dass ich die Hände geballt hatte. »Ich frage mich natürlich, ob es absichtlich dazu gekommen ist. Die ultimative Demütigung.«

Marina schluckte schwer. »Für so abwegig halte ich den Gedanken ehrlich gesagt nicht.«

»Wie können sie bloß so grausam sein?!«, brach es aus mir heraus. Dann strömten mir unvermittelt Tränen über die Wangen. Marina kam zu mir und legte einen Arm um mich.

»Weil man für jeden Engel einen Teufel ertragen muss.«

Ich trocknete mir die Tränen mit meinem Taschentuch. »Das ist natürlich auch der Grund, weshalb Sie an dem Abend, bevor Maia wieder zur Uni gefahren ist, wie ein Gespenst ausgesehen haben.«

Marina nickte. »Das stimmt. Sie hat mir von ihren Symptomen erzählt, also habe ich sie einen Test machen lassen. Ach, chéri , ich wäre fast gestorben, als er positiv war. Aber ich konnte vor Maia doch keine Schwäche zeigen, ich musste stark bleiben für sie.«

»Natürlich, Marina. Und ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen dafür bin.« Ich tätschelte ihr beruhigend die Schulter. »Nichts davon ist Maias Schuld, in keinerlei Hinsicht.« Ich schloss kurz die Augen. »Aber natürlich ist das alles unter diesen Umständen besonders besorgniserregend. Wie geht es meiner Tochter?«

Marina seufzte tief. »Wahrscheinlich empfindet sie dasselbe wie jedes junge Mädchen, das unerwartet schwanger wird. Angst. Scham. Schuldgefühle.«

Sie tat mir so leid. »Mein armes kleines Mädchen. Wie schrecklich. Ich wünschte nur, ich könnte sie fest in die Arme schließen und trösten.«

»Sie darf nicht wissen, dass Sie von ihrer Situation wissen, Atlas!«, rief Marina mit Panik in der Stimme. »Sie liebt Sie über alles, und sie glaubt, dass sie in Ihrer Achtung sinkt, wenn Sie es erfahren. Das würde sie nicht ertragen.«

Ich nickte. »Ja, Marina, und genau das bricht mir das Herz.« Ich spürte einen Kloß im Hals. »Ich hoffe, Sie wissen, dass ich das bei keiner meiner Töchter je empfinden würde. Ich wünschte nur, ich könnte ihr beistehen. Sie braucht doch gerade jetzt mehr Liebe, Unterstützung und Hilfe von ihrem Pa als je zuvor. Und ich darf ihr all das nicht geben.« Marina drückte mir die Hand. »Weiß Zed Bescheid?«

Marina schüttelte den Kopf. »Nein. Und Maia möchte um keinen Preis, dass er davon erfährt.« Sie fuhr sich über die Stirn. »Zed hat Maia zutiefst verletzt. Er macht bald seine Abschlussprüfungen und hat ihr gesagt, dass ihre Beziehung nur ein beiläufiger Flirt war und er nichts mehr mit ihr zu tun haben möchte.«

Ich ließ den Kopf in die Hände sinken, meine schlimmsten Albträume wurden wahr. »Bitte stehen Sie ihr zur Seite, Marina. Versichern Sie ihr, dass Sie sie bedingungslos unterstützen, gleichgültig, welche Entscheidung sie für sich trifft.«

»Dann rufe ich sie gleich mal an.«

»Bitte machen Sie das. Und dann geben Sie mir sofort Bescheid, ja?«

Im Sommer 1993 beendete Maia das letzte Semester ihres zweiten Studienjahres. Als sie wieder nach Atlantis kam, trug sie viele Schichten weiter Kleider, um ihren Bauch zu verbergen, obwohl zu der Zeit eine Hitzewelle herrschte. Da schlug ich ihr vor, dass sie als Älteste in den Pavillon ziehen könnte. Es ist ein abgeschlossenes Haus, rund zweihundert Meter vom Haupthaus entfernt, wo früher Marina gewohnt hatte.

»Ich finde, du hast dir dein eigenes Reich verdient, mein Liebling«, sagte ich.

Sie sah aus, als wollte sie gleich in Tränen ausbrechen. »Ach, Pa, wirklich? Danke, danke! Das fände ich wundervoll.« Als sie mich umarmte, merkte ich, dass sie dabei den Bauch von mir fernhielt, damit ich nicht spürte, was in ihr heranwuchs.

Liebe Leserin, lieber Leser, es wird Sie nicht überraschen zu erfahren, dass Maia zum Beginn des dritten Studienjahres nicht an die Uni zurückkehrte. Sie ließ mir ausrichten, sie habe schreckliches Drüsenfieber bekommen und werde das Studium erst wieder aufnehmen, wenn sie sich dazu in der Lage fühle. Je mehr ihr Umfang zunahm, desto seltener bekam ich sie zu Gesicht. Mir wurde das Herz schwer, nichts wünschte ich mir mehr, als zum Pavillon zu gehen, sie in die Arme zu schließen und ihr zu sagen, dass alles gut würde. Aber ich respektierte ihren Wunsch nach Selbstständigkeit. Marina bat ich häufiger, Maia zu vermitteln, dass ich, falls sie es mir sagte, mit Verständnis und Liebe reagieren würde. Doch der Tag kam nie.

Aber Ally wusste Bescheid. Maias älteste Schwester verbrachte lange Stunden bei ihr im Pavillon, und ich war froh, dass Marina diese Last nicht allein zu tragen brauchte.

Und ich vermutete, dass noch ein weiteres Familienmitglied dem Geheimnis auf die Spur gekommen war: Tiggy. Einmal, als ich meiner Ältesten eine Tasse Tee und ein Stück Kuchen zum Pavillon brachte, bemerkte ich, dass sie Maias Bauch mit Blicken fixierte. Wegen ihres angeblichen Drüsenfiebers durften wir nie in zu große Nähe zu ihr kommen, aber selbst aus mehreren Metern Entfernung starrte Tiggy unverwandt auf den Bauch ihrer ältesten Schwester.

Eines Abends, Maia musste ungefähr im sechsten Monat gewesen sein, berichtete Marina mir von der Entscheidung meiner Ältesten. »Sie möchte das Kind zur Adoption freigeben.«

Ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte. »Möchte sie das wirklich?«, fragte ich. »Denn wenn sie sich nur aus Scham oder Schuldgefühl dafür entscheidet, dann bleibt mir nichts anderes übrig, dann muss ich einschreiten, Marina.«

Sie nickte. »Aber genau das möchte sie, Atlas, von ganzem Herzen. Sie fühlt sich noch zu jung, um eine gute Mutter zu sein, und findet, dass ihr Kind bei jemand anderem besser aufgehoben sein wird. Sie sagte, sie habe an ihre eigene Mutter und deren Entscheidung gedacht. Nur deswegen habe sie Sie zum Vater bekommen.«

Fassungslos schüttelte ich den Kopf. »Eine Tragödie ist das, eine einzige Tragödie.«

Marina drückte mir mitfühlend die Schulter. »Ich weiß, chéri . Aber wenn es bei dieser schrecklichen Sache ein Gutes gibt, dann, dass Sie stolz sein können auf Ihre älteste Tochter. Sie ist viel tapferer und widerstandsfähiger, als ich ihr je zugetraut hätte. Sie ist unglaublich.«

»Das stimmt.« Ich nickte. »Und es hilft nichts, wir dürfen das Praktische nicht aus den Augen verlieren. Um sich um alles Erforderliche zu kümmern, sollten Sie Georg mit ins Vertrauen ziehen und gemeinsam für Maias Kind ein Zuhause finden. Vermutlich kann Georg sogar eine private Adoption in die Wege leiten mit einer Familie, die mein … Enkelkind lieben und umsorgen wird.« Bei dem Wort zerriss es mir schier das Herz. »Wir müssen unbedingt dafür sorgen, dass es das bestmögliche Leben bekommt.«

»Wir werden uns darum kümmern, Atlas, das verspreche ich.«

»Ich überweise Ihnen ein paar Tausend Franken. Bitte bieten Sie Maia an, die Kosten für jede Klinik oder jede Methode, wie sie das Kind zur Welt bringen möchte, zu übernehmen. Wie immer tut Geld nichts zur Sache.«

Das Kind, ein Junge, kam drei Monate später in einer Privatklinik zur Welt, und Marina stand Maia die ganze Zeit zur Seite. Ohne dass irgendjemand anderes davon erfahren hätte, hatte ich eng mit Georg zusammengearbeitet, um sicherzustellen, dass die Familie in der Lage war, dem Jungen alle Liebe und Fürsorge zu schenken, die er sich nur wünschen konnte.

Ich sah meine Tochter und auch Marina erst drei Wochen nach der Geburt wieder, unter dem Vorwand, dass sie einen Mutter-Tochter-Urlaub gemacht hätten, nachdem Maia endlich von ihrem entsetzlichen »Drüsenfieber« genesen war. Als sie schließlich wieder nach Atlantis zurückkehrte, hielt ich sie sehr lang im Arm. Ich fragte mich, ob sie wohl ahnte, dass ich Bescheid wusste.

»Jetzt geht es mir wieder gut genug, um weiterzustudieren, Pa. Ich fühle mich so viel besser.«

»Es freut mich sehr, das zu hören, Maia. Aber geh erst, wenn du dich wirklich wieder dazu in der Lage fühlst. Der Pavillon hier steht immer für dich zur Verfügung, wann immer du ihn brauchst.«

»Danke, Pa. Ich hab dich lieb.«

»Nicht so sehr, wie ich dich lieb habe, mein Kleines.«