LVI

Tjumen, Sibirien
1918 

Die Herrschaft von Zar Nikolaus II. wurde von einer wachsenden Unzufriedenheit begleitet, die die gesamte Bevölkerung erfasste und die er weder zu entschärfen noch zu unterdrücken verstand. Die Empörung ging unter anderem auf die Verteilung von Land zurück, das zum größten Teil im Besitz der Aristokratie war.

Die Mehrzahl der tiefgläubigen Russen besuchte allwöchentlich die Messe, wo gepredigt wurde, dass Nikolaus Zar von Gottes Gnaden war. Doch als die Menschen immer mehr Hunger litten, fragten sie sich allmählich, weshalb ihr göttlicher Herrscher so viel Land und so viel Macht benötigte, um seine Pflichten zu erfüllen, während ihre eigenen Familien so wenig besaßen. So gewann die sozialrevolutionäre Bewegung immer mehr Unterstützung und erreichte ihren Höhepunkt schließlich im Februar 1917, als Zar Nikolaus II. nach tagelangen Protesten und gewaltsamen Zusammenstößen wenig anderes übrig blieb, als abzudanken; zu seinem Nachfolger wollte er seinen Bruder, Großfürst Michail Alexandrowitsch, ernennen. Doch dieser erkannte die Zeichen der Zeit und weigerte sich, die Thronfolge anzunehmen, sofern sie nicht demokratisch legitimiert war.

Infolgedessen wurde eine Übergangsregierung unter der Führung von Alexander Kerenski gebildet. Für die Angehörigen der nun abgeschafften Monarchie war anfangs das Exil im Gespräch, und zunächst sahen die Möglichkeiten für ein Asyl auch relativ vielversprechend aus. Nach monatelangem Hin und Her zogen Großbritannien und Frankreich das Angebot einer Aufenthaltsgenehmigung jedoch zurück, da Alexandra, die Ehefrau des Zaren, für pro-deutsch gehalten wurde. Nach wie vor herrschte Krieg zwischen diesen Ländern und dem deutschen Kaiserreich.

Die Frage nach dem weiteren Schicksal der Familie hing in der Schwebe, doch solange Kerenskis Amtszeit als Ministerpräsident währte, lebten die Romanows in relativer Sicherheit. Nach der Revolution wurde die ehemalige Zarenfamilie zum Sitz des Gouverneurs in Tobolsk gebracht, wo sie in großem Komfort leben konnte; ihr Unterhalt war durch eine beträchtliche staatliche Zuwendung gesichert. Auch einigen weiteren Mitgliedern des kaiserlichen Haushalts war die Reise mit den Romanows nach Tobolsk gestattet worden, wobei der Zar und die Zarin ihre vertrautesten Begleiterinnen und Begleiter zu ihrer Gesellschaft gewählt hatten.

Einige Monate später folgte die Oktoberrevolution. Das Volk begehrte nicht nur gegen die weitere Beteiligung Russlands am Ersten Weltkrieg auf, sondern auch gegen Kerenskis Führungsstil, der mit eiserner Faust regierte. So stürzten die Roten Garden der Bolschewiki die provisorische Regierung und ergriffen die Macht, zu ihrem Anführer ernannten sie den charismatischen Wladimir Lenin.

Über Nacht sah die Situation für die Familie Romanow wesentlich ungünstiger aus, unter den Bolschewiki war ihr weiteres Schicksal stark umstritten. Einige sprachen sich für eine Auslieferung aus, andere für lebenslange Haft. Viele forderten eine Hinrichtung, um das »Krebsgeschwür« zu beseitigen, wie sie es bezeichneten, das jeder echten Gleichberechtigung für das russische Volk im Wege stand.

Nach der Machtübernahme Lenins wurde die Zeit, die die Romanows außerhalb des Gouverneurssitzes verbringen durften, überwacht, auch der sonntägliche Kirchgang wurde ihnen untersagt. Zudem wurde der großzügige Unterhalt gekürzt, den die Regierung Kerenskis der ehemaligen Herrscherfamilie gewährt hatte.

Die Parteiführung befand schließlich, dass es am besten sei, den ehemaligen Zaren Nikolaus in einem Schauprozess in Moskau vor Gericht zu stellen; so könnten die Bolschewiki ihre Macht demonstrieren. Für einen solchen Prozess musste Nikolaus jedoch am Leben bleiben.

Das aber war noch keine Sicherheitsgarantie. In den unteren Rängen machte sich Unmut wegen des Schicksals des ehemaligen Zaren breit, und im März 1918 fielen rivalisierende Fraktionen der Bolschewiki in Tobolsk ein. Die Sorge um die Sicherheit der Zarenfamilie wuchs, und so stellte die Regierung Kommissar Wassili Jakowlew dafür ab, die Romanows fünfhundert Kilometer weiter nach Westen, nach Jekaterinburg, zu bringen.

Jakowlew und seine Männer beschlossen, mitten in der Nacht auf die gefährliche Reise aufzubrechen. Nikolaus, Alexandra und ihre älteste Tochter Olga wurden mit mehreren Mitgliedern des kaiserlichen Haushalts um zwei Uhr morgens aus dem Bett geholt. Nach mehreren Flussüberquerungen und Kutschenwechseln, wobei sie einigen Attentatsversuchen nur knapp entkamen, erreichte die Reisegruppe schließlich die Stadt Tjumen. Dort hatte Jakowlew einen Zug beschlagnahmt, der sie nach Jekaterinburg bringen sollte.

»Einsteigen«, herrschte er den ehemaligen Zaren an.

»Sehr wohl«, erwiderte Nikolaus und nahm Olgas Hand. Alexandra folgte den beiden.

Iapetos Tanit, der persönliche Astrologe Nikolaus’ und zugleich Lehrer des ehemaligen Zarewitschs und seiner Schwestern, legte stützend den Arm um seine Frau Klymene, eine Hofdame der Zarin. Sie war hochschwanger, und Iapetos machte sich bereits seit Beginn der Reise Sorgen wegen ihres Befindens, doch sie hatten keine Wahl, sie mussten den Befehlen Kommissar Jakowlews Folge leisten, sonst hätten die Roten Garden sich ihrer angenommen.

Klymene wollte Alexandra folgen, verzog aber nach wenigen Schritten vor Schmerzen das Gesicht.

Iapetos stützte sie am Arm. »Alles in Ordnung, mein Liebling?«

»Ja«, keuchte sie. »Heute ist er sehr unruhig.«

»Ach, jetzt nennen wir das Kleine schon ›er‹, ja?«, fragte Iapetos mit einem bemühten Lächeln.

»Halt!«, brüllte Jakowlew, als das Paar sich dem Zug näherte. »Nur Familie.«

»Was sollen wir tun?«, erkundigte sich Iapetos.

»Ihr geht da hinein.« Jakowlew deutete auf einen einzelnen Eisenbahnwaggon, vor den keine Lokomotive gespannt war.

»Ist … Seine Hoheit sich dessen bewusst?«

Jakowlew lachte. »Es ist völlig gleichgültig, wessen er sich bewusst ist. Und jetzt«, sagte er und hob die Waffe, »hinein mit euch.«

Iapetos blieb stehen. »Ist es wirklich notwendig, mit dem Gewehr auf eine Schwangere zu zeigen?«

»Natürlich. Sie hat, genau wie ihr alle, in blindem Gehorsam einem gemeinen Autokraten gedient.«

Iapetos spürte eine Hand auf seiner Schulter. »Komm, mein Freund, gehen wir.«

Kronos Eszu, ein norddeutscher Graf, war seit der Thronbesteigung von Nikolaus’ Vater ein ergebenes Mitglied des kaiserlichen Haushalts und brachte den Zarenkindern Fremdsprachen und ausländische Kultur nahe. Da Iapetos für die Musik- und die humanistische Bildung zuständig war, hatte ihr Unterricht sich häufig überlappt, und so hatten sich Kronos und Iapetos im Lauf der Jahre angefreundet. Kronos war mit Rhea verheiratet – ebenfalls eine Hofdame Alexandras –, und die beiden hatten einen vierjährigen Sohn, Kreeg.

Allgemein wurde gemunkelt, dass Zar Nikolaus II. Kronos nicht so zugetan war wie sein Vater und er ihn nach der Revolution nur im kaiserlichen Haushalt behalten hatte, um seinem kleinen Sohn das Todesurteil zu ersparen.

»Du hast recht, Kronos«, sagte Iapetos. »Was bleibt uns anderes übrig?«

Er half seiner Frau in den ihnen zugewiesenen Waggon, in dem es dunkel und feucht und wenig einladend war. Iapetos nahm Kreeg aus Kronos’ Armen und hob ihn hinein. »Da sind wir, kleiner Mann.« Iapetos betrachtete seine Umgebung. »Großer Gott, hier drinnen ist es bitterkalt.«

»Ja. Irgendwie kommt es mir hier drinnen noch schlimmer vor als draußen«, bestätigte Klymene.

Insgesamt wurden sieben Angehörige des kaiserlichen Haushalts in den Waggon geschickt, darunter auch Alexandras Schneiderin sowie zwei weitere Hofdamen. Sobald die letzte Person in den Waggon gestiegen war, warf der Wachposten von außen die Tür zu.

Dort stand Jakowlew und rief: »Fahren wir!«

Zischend baute die Lokomotive Dampf auf, dann verfolgten die Tanits und die Eszus durch ein Fenster, wie sich die großen Räder erst langsam, dann immer schneller drehten und die Romanows aus dem Bahnhof von Tjumen fortfuhren.

»Glaubt ihr, dass sie wirklich nach Jekaterinburg gebracht werden?«, fragte Rhea.

»Wer weiß, mein Liebling«, antwortete Kronos. »Die sind alle vollauf mit ihren Machtstreitigkeiten untereinander beschäftigt.«

»Ob wir sie wohl wiedersehen werden, Iapetos?«, fragte Klymene ihren Mann. Eine Träne stand ihr im Augenwinkel.

»Ich fürchte nicht, mein Liebling, nein.« Er griff nach der Hand seiner Frau.

»Die armen unschuldigen Kinder, Iapetos. Ich kann es nicht verstehen.«

Unvermittelt verloren die Insassen des Waggons den Halt, er wurde mit großer Kraft in eine Richtung gestoßen.

»Was ist los?«, schrie Rhea, am Boden liegend.

»Der Waggon wird rangiert!«, rief Kronos.

Nach einigen Minuten des Durcheinanders stieß der Waggon gegen einen Prellbock, dann riss ein Soldat die Tür auf. »Ihr bleibt hier«, sagte er.

»Könnte meine Frau vielleicht etwas zu essen bekommen?«, bat Iapetos. »Oder eine Decke? Wie Sie sehen, ist sie schwanger. Sie mögen unsere Verbindung zum Zaren missbilligen, aber einem Ungeborenen können Sie doch keine Schuld geben.« Der Soldat wirkte ungehalten, kehrte aber wenig später mit einigen rauen Wolldecken und ein paar Scheiben Brot zurück. »Danke«, sagte Iapetos aufrichtig.

Nachdem sie mehrere Stunden keine weiteren Instruktionen von den Bolschewiki erhalten hatten, beschloss die kleine Gruppe zu schlafen. Alle waren von der langen Reise erschöpft. Sie kauerten sich in einer Ecke des Waggons zusammen, um keine Körperwärme zu verlieren.

Bald darauf schnarchten die Eszus, wie so häufig.

»Iapetos?«, flüsterte Klymene. »Bist du wach?«

»Natürlich, mein Liebling. Ist alles in Ordnung?« Er griff nach ihrer Hand.

»Ja. Aber ich muss dir etwas sagen. Glaubst du, dass wirklich alle schlafen?«

Iapetos wandte den Kopf, um nach Kronos und Rhea zu sehen, deren Brust sich ruhig hob und senkte. Um sicherzugehen, pfiff er leise, aber es kam keine Reaktion. »Ja, du kannst unbedenklich reden.«

»Gut. Am Abend, bevor wir Tobolsk verließen, übertrug die Zarin mir eine Aufgabe. Darüber mache ich mir jetzt Sorgen, denn ich weiß nicht, ob ich sie erfüllen kann.«

»Erzähl mir davon.«

Klymene holte tief Luft. »Sie wusste, dass Jakowlew uns in der Nacht fortbringen würde. Ich fragte sie, ob es etwas gebe, das sie als Andenken an ihre Vergangenheit und ihre rechtmäßige Stellung als Herrscherin mitnehmen wolle. Daraufhin ging sie zu einer Kommode, aus der sie ein Kästchen nahm, und schloss es auf. Daraus …« Klymene wurde von einem Ächzen von Kronos unterbrochen, das wenig später wieder in geruhsames Schnarchen überging. »Daraus hat sie den größten Diamanten geholt, den ich je gesehen habe. Sie hat mir erzählt, dass er seit Generationen im Besitz der Zarenfamilie ist und sie sehr an ihm hängt. Sie sagte, sie könne ihn unmöglich selbst mitnehmen, da er dann in die Hände der Bolschewiki fallen würde. Deswegen hat sie …«

»Ihn dir gegeben«, beendete Iapetos den Satz.

»Genau.«

»Wo ist er jetzt?«

»Sicher in mein Rockfutter eingenäht.«

Iapetos seufzte. »Wir können nur beten, dass du die Gelegenheit bekommst, ihn ihr wiederzugeben.«

»Niemand darf etwas davon erfahren.«

»Das ist mir klar, mein Liebling.« Er drückte ihr fest die Hand. »Und das wird auch niemand.«

Schließlich überwältigte Klymene und dann auch Kronos der Schlaf.

Unvermittelt wachte Klymene auf, weil ihr ein stechender Schmerz durch den Unterleib schoss. Es kam ihr vor, als sei jemand in ihren Bauch vorgedrungen und kratze und schabe dort herum. Gequält schrie sie auf.

Mit einem Ruck war Iapetos wach. »Mein Liebling, was ist?«

»Das Kind«, ächzte Klymene.

Sacht legte er ihr eine Hand auf den Bauch. »Alles in Ordnung?«

»Ich weiß es nicht. Mir tut alles weh …« Wieder schoss ein Schmerz durch ihren Unterleib, und wieder schrie sie auf.

»Was ist los?«, fragte Kronos schlaftrunken.

»Das Kind«, antwortete Iapetos. Und jetzt bemerkte er auch die Nässe um Klymenes Unterleib. »Mein Liebling, das Kind kommt.«

Klymene sah ihn voller Panik an. »Aber es ist doch erst in einem Monat so weit!«

»Ich glaube, bei dir ist die Fruchtblase geplatzt. Kronos, könntest du eine Petroleumlampe holen?«

»Natürlich. Da steht eine neben der Tür.«

Mittlerweile waren alle wach und hatten sich aufgesetzt. Klymene schrie wieder. »Es wird alles gut, mein Liebling, du wirst schon sehen. Ich bin bei dir«, beruhigte Iapetos sie.

Kronos kehrte mit der Lampe zurück, wühlte in den Taschen nach einem Streichholz und zündete sie an. Dann reichte er sie Iapetos. Der schlug seine Decke zurück, schaute zu Klymene und stellte mit Entsetzen fest, dass die Flüssigkeit nicht durchsichtig war, sondern rot.

Klymene bemerkte den Schreck in seiner Miene. »Was ist los?«

»Nichts, mein Liebling, nichts«, antwortete Iapetos bestürzt.

»Rhea!«, rief Kronos.

Seine Frau schreckte hoch und kam zu Klymene. Iapetos deutete auf das Blut, und Rhea nickte. »Vera! Galina!«, rief sie den beiden anderen Hofdamen zu. »Wir brauchen eure Hilfe.«

»Mama?«, fragte ein hohes Stimmchen. »Was ist los?«

»Es ist alles in Ordnung, Kreeg«, sagte Kronos und nahm seinen Sohn in den Arm. »Jetzt komm mit mir hier rüber, dann spielen wir Karten.«

»Ich bin aber müde«, erwiderte Kreeg.

»Ich weiß. Aber nicht mehr lange.«

»Iapetos, bring mir möglichst viele Decken. Die brauchen wir für das Blut. Vera, ich brauche auch Wasser.«

»Aber wir haben doch selbst kaum genug zum Trinken …«

»Verdammt, Vera, sieh dich doch um!«, fuhr Rhea auf. »Schau zu, wie du Schnee schmelzen kannst.« Hastig verließ Vera den Waggon.

Rhea fuhr mit den Händen unter Klymenes Rock, um nach dem Ungeborenen zu tasten. Was sie spürte, erschreckte sie.

»Klymene, es wird alles gut. Dein Kind kommt bald, aber es liegt nicht richtig, sondern mit den Füßen voraus.« Sie holte tief Luft. »Das wird nicht leicht, aber wir sind alle hier, um dir zu helfen.«

»Ist das der Grund für das viele Blut?«, fragte Galina besorgt.

Rhea nickte. »Die Füße haben sie aufgerissen.«

Iapetos kehrte mit einem Stapel Decken zurück. »Was kann ich tun?«, fragte er.

Rhea wandte sich ab, sodass nur er sie hören konnte. »Halt ihr die Hand. Streichle ihr übers Haar. Bete.«

Iapetos nickte und setzte sich zu seiner Frau.

Die Wehen dauerten lange und waren schmerzhaft. Sehr oft war Rhea überzeugt, dass Klymene das Bewusstsein verlieren würde, was ihren Tod und den ihres Kindes bedeutet hätte. Aber wann immer es den Anschein hatte, als würde sie gleich aufgeben, fand die werdende Mutter von irgendwoher noch mal die Kraft zu pressen.

»Sehr gut, Klymene. Einmal Pressen noch, dann ist dein Baby da. Aber du musst heftig pressen, mit aller Kraft, die du hast.« Klymene nickte keuchend. »Gut.« Rhea drehte sich zu Iapetos. »Wenn der Kopf erscheint, wird die Nabelschnur um den Hals des Kleinen gewunden sein. Sobald ich ihn herausziehe, musst du die Schnur ganz schnell abwickeln. Hast du mich verstanden?« Iapetos nickte verzweifelt. »Dann sind wir so weit. Also, Klymene – bist du bereit?«

»Ja«, brachte Klymene hervor.

»Drei, zwei, eins, pressen!«

Klymenes gellendes Schreien drang ihrem Mann durch Mark und Bein. Und plötzlich rutschte das Kind aus ihr heraus und wurde geschickt von Rhea aufgefangen. In Schockstarre schaute Iapetos auf das bläulich angelaufene Kind, das sich gerade auf die Welt vorgekämpft hatte.

»Iapetos!«, drängte Rhea. »Mach schon!« Nun zögerte Iapetos nicht mehr und griff nach der gewundenen Nabelschnur, die sich um den Hals seines Kindes geschlungen hatte. »Keine falsche Vorsicht, du musst schnell sein!« Seinem Instinkt zum Trotz wickelte Iapetos die Schnur beherzt ab, bis das Baby frei dalag.

»Warum … schreit … es nicht?«, stammelte Klymene.

Iapetos und Rhea starrten auf das kleine Wesen, das noch keinen Atemzug getan hatte.

»Lieber Gott … bitte nicht … nicht das …«, wisperte Iapetos.

Rhea packte das Kind an den Füßen, als wäre es ein neugeborenes Kalb, und versetzte ihm einen festen Klaps auf den Po. Plötzlich kam Leben in das kleine Wesen, und als das erste Tageslicht über Tjumen hereinbrach, drangen aus dem Waggon die Schreie eines Neugeborenen.

Rhea legte Klymene das Kind in den Arm. »Das hast du sehr gut gemacht, Klymene. Du warst großartig.«

Klymene betrachtete mit Iapetos an ihrer Seite das Neugeborenes. »Guten Tag, kleiner Junge.«

»Du wusstest, dass es ein Junge sein würde, Klymene«, sagte ihr Mann tief bewegt. »Ich bin so stolz auf dich.«

Seine Frau lächelte ihn an, wie damals, als sie sich im Ballsaal im Alexanderpalast das erste Mal begegnet waren. »Du warst auch großartig. Ohne dich hätte ich das nie geschafft.«

»Du hast etwas ganz und gar Vollkommenes hervorgebracht, Klymene.«

Kronos trat zu ihnen, Kreeg auf dem Arm. »Herzlichen Glückwunsch, meine Freunde. Und ich habe eine frohe Nachricht, Iapetos.« Er deutete auf einen Vorratsschrank. »Unsere Landsleute lassen uns nicht im Stich. Dort drin steht eine Flasche schwarz gebrannter Wodka. Ich hole uns ein Glas, um auf den Kleinen anzustoßen!«

»Nichts dergleichen wirst du tun, Kronos Eszu! Bring sie sofort her. Klymenes Wunden müssen desinfiziert werden, da kommt der Wodka gerade recht«, sagte Rhea.

Kronos zuckte mit den Achseln. »Tja dann, Iapetos. Aber einen Versuch war es wert!«

Während die sibirische Sonne höher stieg, legte sich eine tiefe Stille über den Eisenbahnwaggon. Bis auf die frischgebackenen Eltern waren alle nach der Erschöpfung der vergangenen Stunden eingeschlafen. Das Baby trank zufrieden an Klymenes Brust.

»Er ist so brav«, flüsterte Iapetos.

»Er hat Hunger«, erwiderte Klymene mit einem schwachen Lächeln.

»Bis jetzt haben wir uns noch nicht über einen Namen Gedanken gemacht aus Sorge vor dem, was die Zukunft für uns bereithalten würde«, sagte Iapetos. »Aber jetzt, wo er auf der Welt ist – wie wollen wir ihn nennen?«

»Hast du deiner Mutter nicht versprochen, ihr erstes Enkelkind nach ihr zu benennen?«, fragte Klymene.

»Das stimmt. Aber ehrlich gesagt finde ich nicht, dass unser Sohn nach einer ›Agatha‹ aussieht.«

»Augustus?«, schlug Klymene vor.

»Ein bisschen großspurig, meinst du nicht?«, antwortete Iapetos. »Augustus Tanit. Ich bin mir nicht sicher.« Nachdenklich ging er im Kopf einige Namen durch.

»Aber es wäre nett, wenn er mit einem A anfangen würde. Alexei? Alexander, zu Ehren des Zaren?«

Iapetos starrte seine Frau an. »Das wäre sein sicheres Todesurteil. Willst du das?«

Klymene schüttelte den Kopf. »Da hast du wohl recht, Liebster.« Unvermittelt fuhr sie zusammen.

»Was ist?«

»Mir tut alles so weh …« Klymene fasste sich an den Unterleib. Als sie die Hand wieder hervorzog, war sie blutverschmiert.

Iapetos’ Miene wurde ernst. »Du blutest ja noch.«

Klymene schluckte schwer. »Ja.«

»Was soll ich tun, Klymene?«

Sie sah ihrem Mann in die Augen und legte ihm sacht eine Hand auf die Wange. »Ich liebe dich, Iapetos. Von ganzem Herzen. Das ist das Einzige, dessen ich mir im Leben wirklich sicher war.«

»Ich liebe dich auch, Klymene.«

»Und jetzt«, sagte sie, »bin ich sehr müde. So müde …« Klymene schloss die Augen, und ihr Mann streichelte ihr übers Haar.

»Ruh dich aus, mein Liebling. Du bist in Sicherheit, unser Kind ist in Sicherheit, und wir sind alle hier zusammen.«

Wenig später schliefen Mutter, Vater und Kind tief und fest.

Schreie weckten sie. »Aufstehen!« Die junge Familie blinzelte im gleißenden Licht, das durch die aufgerissene Tür hereinfiel, und sah zu dem bolschewistischen Wachposten, der ein Gewehr im Anschlag hielt.

Hastig folgten alle Insassen des Waggons seinem Befehl, bis auf Klymene, die leichenblass war.

»Mein Liebling?«, fragte Iapetos. Klymene blinzelte.

»Aufstehen, habe ich gesagt!«

Das Neugeborene begann zu weinen. »Bitte, meine Frau ist krank. Sie hat erst vergangene Nacht ein Kind zur Welt gebracht. Wenn Sie Mitleid kennen, holen Sie einen Arzt«, flehte Iapetos.

Der Wachposten näherte sich ihm drohend. »Mitleid? Und wo war das Mitleid des Zaren, als sein Volk auf den Feldern verhungerte?«, zischte er leise. »Aufstehen, du da!«

»Es … es geht schon«, hauchte Klymene. »Hier, Iapetos, nimm mir den Kleinen ab.« Das tat er, und Rhea eilte zu Klymene, um ihr beim Aufstehen zu helfen.

»Ich habe eine Liste mit Namen«, bellte der Wachposten. »Die Folgenden kommen mit: Vera Orlowa, Galina Nikolaewa, Klymene Tanit.«

»Was wollen Sie mit den Hofdamen?«, fragte Kronos. »Sollen sie wieder der Zarina Gesellschaft leisten?«

Der Wachposten grinste verschlagen. »Das könnte man auch sagen.«

Vera und Galina klammerten sich schluchzend aneinander.

»Mein Herr«, bat Iapetos inständig, »meine Frau hat erst letzte Nacht unser Kind zur Welt gebracht. Der Kleine braucht seine Mutter.«

Der Wachposten warf einen Blick auf Klymene und nickte. »Das Kind kann auch mitkommen.«

»Nein!«, schrie Klymene. »Nein.«

Iapetos sank auf die Knie. »Bitte, erlauben Sie ihr, hierzubleiben. Was können wir in diesem Waggon schon tun? Ich flehe Sie an, reißen Sie unsere Familie nicht auseinander.«

»Euer geliebter Nikolaus hat sich um Familien nicht geschert, und ich tue es genauso wenig. Sie kommt mit.«

»Nehmen Sie mich an ihrer statt.«

Der Wachposten lachte heiser. »Eher nicht. Das würde den Männern nicht so gefallen.«

Alles in Iapetos zog sich zusammen. »Bitte, sie ist krank.«

»Siehst du dieses Gesicht?«, fragte der Wachposten Iapetos leise und zeigte auf sich. »Schau es dir gut an. Dies ist das Gesicht eines Mannes, den nichts kümmert.« Er ging zur Tür. »Die Wahl ist ganz einfach: Entweder sie kommt mit, oder sie wird erschossen.«

Iapetos richtete sich wieder auf und umarmte Klymene, Tränen strömten ihm über die Wangen. »Klymene …«

»Es wird gut, Iapetos«, flüsterte. »Es wird gut.«

»Das kann nicht sein«, schluchzte er. »Wir haben es so weit geschafft, mein Liebling. So weit …« Er drückte sie an sich.

»Du und ich wissen beide, dass ich sowieso nicht mehr lange auf dieser Welt sein werde. Ich kann die Blutung nicht stillen.«

»Wenn wir dich nur zu einem Arzt bringen könnten …«

»Das ist so unwahrscheinlich, wie dass unser Kind sich jetzt aufrichtet und geht. Für diese Menschen sind wir der Inbegriff all dessen, was sie hassen.« Sie nahm alle Kraft zusammen und küsste ihren Mann auf die Stirn. »Jetzt muss ich gehen, Iapetos. Sei tapfer. Um unseres Sohnes willen.«

»Das verspreche ich dir«, flüsterte Iapetos.

»Beschütze ihn.«

»Immer. Ich liebe dich, Klymene.«

»Und ich liebe dich, Iapetos. Und jetzt, kleiner Mann.« Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Säugling. »Wir haben uns nur kurze Zeit gekannt. Das tut mir sehr leid, für uns beide. Deine Mutter liebt dich mehr als alles andere auf der Welt.« Eine ihrer Tränen fiel auf die Wange ihres Sohnes. »Ich habe nur Zeit für eine Lektion. Sei ein guter Mensch, mein Kleiner. Das ist der Schlüssel zum Glücklichsein.« Sie küsste ihn zärtlich.

Dann holte Klymene Tanit tief Luft und wankte zur Tür. Ihr sowie Vera und Galina wurde bedeutet, den Waggon zu verlassen und zu einem Pferdefuhrwerk zu gehen. Iapetos sah seiner Frau nach, den Kleinen im Arm, und weinte bitterlich. Auf einen Peitschenhieb des Kutschers hin setzte sich das Pferd in Bewegung, und das Fuhrwerk mit Klymene und den beiden anderen Frauen rollte davon.

Iapetos sah auf seinen Sohn, der in seinen Armen leise Laute von sich gab. »Es tut mir leid, mein Sohn. So unendlich leid.« Und da öffnete das Baby zum ersten Mal die Augen, sie waren groß und dunkelbraun. »Du trägst die Last der Welt auf deinen Schultern, mein Junge. Ich nenne dich Atlas.«