LVII

Den Tag über versuchten die Eszus alles in ihrer Macht Stehende, um den verzweifelten Iapetos zu trösten.

»Wie soll ich Atlas füttern? Ich kann ihn doch nicht auch noch verlieren.«

»Gestern habe ich ein paar Ziegen mit Jungen gesehen«, sagte Rhea. »Vielleicht zwei oder drei Kilometer von hier. Kronos, bring ein Muttertier hierher. Ihre Milch genügt.«

»Wo sind alle hin, Vater?«, wollte Kreeg wissen.

»Sie gehen ein bisschen spazieren, mehr nicht. Und ich gehe jetzt auch ein bisschen spazieren, um mich mit einer Ziege anzufreunden.«

Iapetos packte seinen Freund am Arm. »Kronos, das ist gefährlich. Ich weiß nicht, wohin die Wachposten verschwunden sind, aber wenn sie dich erwischen …«

»Dann erwischen sie mich«, erwiderte Kronos leise. »Aber dein Kind braucht Nahrung, Iapetos, und wir auch. Wir wissen nicht, wie lange wir hier bleiben werden. Es muss sein.«

»Dann lass mich wenigstens mitkommen«, bat Iapetos.

»Wie du selbst gesagt hast, wenn sie mich erwischen, werde ich vermutlich erschossen. Der kleine Atlas kann doch nicht an einem Tag beide Eltern verlieren.« Er legte Iapetos beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Ich schaffe das schon. Und jetzt hilf mir, eine Decke zu zerreißen, ich werde einen Strick brauchen.«

Zwei Stunden später kehrte Kronos zurück und brachte nicht nur eine Mutterziege mit, sondern auch einen großen Ziegenbock und mehrere Geißlein. »Offenbar wollte die Familie nicht getrennt werden.« Er lächelte traurig.

Rhea melkte die Ziege und zeigte Iapetos, wie er Atlas füttern konnte, indem er seinen Daumen in die Milch tauchte und dann seinem Sohn in den Mund steckte. Es war mühselig, aber der Kleine saugte hungrig.

Am Ende des Tages war die Ziege fürs Erste leer gemolken, und die fünf Insassen des Waggons hatten mehr im Bauch als seit Langem.

Als die Sonne sank, drang von draußen Hufgetrappel herein.

»Die kommen wieder«, sagte Rhea und presste Kreeg an sich.

Das Getrappel kam näher, und wenig später wurde die Waggontür wieder aufgerissen. Davor stand ein Soldat, den die Insassen zuvor nicht gesehen hatten.

»Ihr könnt gehen«, sagte er.

Es herrschte verblüffte Stille. »Wie bitte?«, fragte Kronos nach.

»Ihr seid uns egal. Ihr könnt gehen.«

Kronos sah den Mann verwundert an. »Darf ich fragen, was sich verändert hat?«

Der Soldat seufzte. »Die Weiße Armee schickt Verstärkung in diese Gegend, um uns zu vertreiben. Ihr seid das geringste unserer Probleme.«

»Und wohin sollen wir gehen?«, fragte Rhea. »Sie haben uns alle Papiere abgenommen.«

»Das ist euer Problem, nicht meins«, erwiderte er gleichgültig und wandte sich zum Gehen.

»Einen Moment bitte«, sagte Iapetos. »Werden hier wieder Züge verkehren? Dürfen wir den Bahnhof benutzen?«

»Die Transsibirische Eisenbahn wurde von der Weißen Armee requiriert. Was denkt ihr denn, wie sie Verstärkungstruppen herbringen? Sie sind schon unterwegs.«

»Bitte sagen Sie mir, wo meine Frau ist«, bat Iapetos inständig.

Der Soldat sah ihn wortlos eine ganze Weile an, dann machte er kehrt und ging davon.

»Ich kann es nicht fassen«, flüsterte Kronos. »Die wissen selbst nicht mehr, wer hier das Sagen hat.«

»Und was machen wir jetzt?«, fragte Rhea.

»Ich weiß nicht, ob wir groß eine Wahl haben«, meinte Kronos. »Ohne Papiere bekommen wir Schwierigkeiten. Die Weiße Armee wird uns für Bolschewiki halten und umgekehrt.«

»Ich glaube, die möchten, dass wir hierbleiben«, gab Iapetos zu bedenken. »Das steckt hinter dem Ganzen. Sie wissen doch genau, dass wir nirgendwohin gehen können.«

»Ich fürchte, du hast recht, Iapetos«, sagte Kronos. »Gott sei Dank haben wir die Ziegen. Und …«, er ging zum Schrank und holte etwas heraus, »… den Wodka.«

So schwierig der nächste Monat war, bildete sich doch eine Routine heraus. Morgens wurde die Ziege gemolken, und Kronos ging auf die Jagd. Auch wenn er selten Erfolg hatte, bisweilen landete doch ein Kaninchen oder, weniger begehrt, eine Ratte in einer seiner Fallen, und die Insassen des Waggons verschlangen das Fleisch. Iapetos war es gelungen, Treibstoff aus einem liegen gebliebenen Automobil abzusaugen, und so stellte Feuer kein Problem dar.

Nach vier Wochen klopfte ein Soldat der Roten Garden an der Waggontür und drückte Kronos einige Papiere in die Hand.

»Was ist das?«, fragte der.

»Papiere.«

Verwundert blätterte Kronos den dünnen Stapel durch. »Aber das ist ja nur ein Satz. Wir brauchen doch fünf!«

»Ein Satz, ausgestellt für fünf.« Der Soldat machte eine wegwerfende Geste. »Ihr müsst zusammen reisen.« Und damit verschwand er so schnell, wie er gekommen war.

Abends erörterten sie ihre weiteren Möglichkeiten.

»Das ist Absicht«, erklärte Iapetos. »Sie wollen, dass wir zusammenbleiben, damit sie uns leichter im Auge behalten können.«

Kronos nickte. »Und wohin gehen wir?«

Iapetos seufzte. »Nach Tobolsk. Das ist die nächstgelegene Stadt.«

»Und was, wenn wir dort angekommen sind? Es klingt vielleicht komisch, aber hier haben wir zumindest ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen«, meinte Rhea.

»Aber in Tobolsk haben wir mehr Möglichkeiten. Wir alle werden irgendwie Geld verdienen können. Und was das Dach über dem Kopf betrifft, werden wir eben nehmen müssen, was sich uns anbietet.«

Der Weg nach Tobolsk war so mühselig wie erwartet. Die Reisenden hüllten sich in mehrere Decken, Atlas lag in einer provisorischen Schlinge, die Iapetos unter seinem Pelzmantel trug. Kronos zog die Ziege hinter sich her, die mehrmals gemolken wurde, um den Kleinen zu füttern. Der Ziegenbock und die Kitzlein waren zum Bedauern aller geopfert worden, damit die fünf nicht verhungerten. Nach einer Woche qualvollen Fußmarschs durch den Schnee erreichten die Reisenden im Schein der untergehenden Sonne schließlich den Stadtrand von Tobolsk.

»Wir müssen nach Häusern Ausschau halten, in denen kein Licht brennt«, riet Iapetos.

Nach stundenlangem Auskundschaften stießen sie zu guter Letzt auf eine Baracke, die eindeutig unbewohnt war. Zu behaupten, sie sei verfallen, wäre untertrieben gewesen. Die Fensterscheiben waren zerschmettert, die Mauern bröckelten, und die Tür war eingeschlagen worden.

Aber es musste genügen.

Im Lauf der nächsten Wochen machten die Männer ihr Zuhause allmählich bewohnbarer, vernagelten die Fenster mit Brettern und reparierten die Tür. Und sie machten sich Gedanken darüber, wie sie ihren Lebensunterhalt bestreiten sollten. Zunächst berieten sich Iapetos und Kronos darüber, an wen in der Stadt sie sich wenden könnten, doch dann schlug Rhea eine andere Möglichkeit vor.

»Ihr wisst doch, dass ich mich ganz gut auf die Beinschnitzerei verstehe. Wir könnten versuchen, meine Arbeiten auf dem Markt zu verkaufen«, meinte sie. »Obwohl ich bezweifle, dass Walrosselfenbein leicht zu bekommen sein wird.«

»Da hast du recht«, stimmte Iapetos ihr zu. »Aber könntest du vielleicht mit den Beinknochen von Moschustieren arbeiten? Davon gibt es in den Wäldern mehr als genug.«

Rhea nickte. »Die eignen sich auch.«

Einen Moment sinnierten die drei darüber, wie sie vom Thronzimmer im Alexanderpalast dazu gekommen waren, zum Überleben nach Tierknochen zu suchen.

Und so gingen Kronos und Iapetos auf Jagd nach Tieren, mit deren Knochen Rhea arbeiten konnte. Das hatte den zusätzlichen Vorteil, dass nun auch Nahrung ins Haus kam. Und wann immer sich genügend Stücke angesammelt hatten, suchte die zusammengewürfelte Familie den Wochenendmarkt in Tobolsk auf und verkaufte dort ihre Waren. Bei einem dieser Aufenthalte spielte in der Mitte des Platzes ein Geiger. Iapetos sah dem Mann mindestens eine Stunde lang zu, ganz erfüllt von Sehnsucht nach seinem früheren Leben. Der Mann hatte Talent, allerdings hatte er beim Spielen nicht ganz die richtige Körperhaltung, was Iapetos als ehemaligen Geigenlehrer sofort auffiel. Irgendwann nahm er allen Mut zusammen und sprach den Musiker an.

»Entschuldigen Sie, mein Herr«, sagte er. »Sie sind wirklich sehr begabt. Aber wenn Sie Ihren Ellbogen etwas anders abwinkeln würden, würde es Ihnen viel leichter fallen, die hohen Töne zu spielen. Darf ich?«

Zögerlich erlaubte der Musiker Iapetos, seine Armstellung zu korrigieren, bevor er das nächste Stück spielte. »Du meine Güte, das geht ja viel besser! Danke«, sagte er dann.

»Ist mir ein Vergnügen.« Mit einem Lächeln wollte Iapetos zu Rheas kleinem Stand zurückkehren.

»Geben Sie Unterricht?«, fragte der Geiger da. »Ich bin nicht so eingebildet zu behaupten, dass mein Spiel nicht besser werden könnte.«

»Zweifelsohne.« Iapetos seufzte. »Früher war ich Lehrer, aber jetzt nicht mehr.«

»Wie schade.« Der Geiger machte eine bedauernde Geste. »Sonst würde ich Sie um Unterricht bitten. Viel könnte ich Ihnen nicht bezahlen, aber ein Drittel dessen, was an Markttagen reinkommt, würde ich Ihnen schon geben.« Da erschien auf Iapetos’ Gesicht zum ersten Mal seit vielen Monaten ein Lächeln.

Einige Wochen später hatten sich Iapetos’ Fähigkeiten als Musiklehrer in Tobolsk herumgesprochen, und bald gab er allen, die ihn dafür bezahlen konnten, Unterricht. Auf diese Art und Weise gelang es den fünf, sich über Wasser zu halten.

So gingen die folgenden Jahre ins Land, und die Tanits und Eszus taten ihr Bestes, unauffällig in der Gesellschaft unterzutauchen. Ihr Leben wurde bestimmt von der Unsicherheit darüber, wer im Land gerade das Sagen hatte und damit ihre Sicherheit gewährleistete. Immer wieder sprachen sie von der Möglichkeit, aus Russland zu fliehen und in ihre jeweilige Heimat zurückzukehren – Iapetos und Atlas in die Schweiz, die Eszus nach Deutschland. Doch jeder Plan, den sie sich überlegten, erwies sich als zu gefährlich, insbesondere wegen der beiden kleinen Jungen.

Als Atlas heranwuchs, verbrachte sein Vater im langen, eiskalten Winter viele Stunden damit, seinem Sohn das Geigenspielen beizubringen; ein Kunde hatte ihm ein ausrangiertes Instrument überlassen. Der kleine Junge zeigte ein erstaunliches Talent, und immer wieder traten Iapetos Tränen in die Augen, wenn er seinem Sohn beim Üben lauschte.

»Wirklich, Rhea!«, sagte Iapetos einmal am Ende einer Stunde. »In meinen ganzen Jahren als Lehrer ist mir noch kein derart begabtes Kind untergekommen. Aus ihm könnte ein Virtuose werden! Klymene wäre so stolz auf ihn.«

Rhea verzog das Gesicht. »Nützlicher wäre er, wenn er mit Kronos und Kreeg rausgehen und jagen lernen würde. Das ist eine Fähigkeit, die uns allen helfen würde.«

Iapetos versuchte, sich Rheas Bemerkung nicht zu Herzen zu nehmen. »Ich würde Kreeg auch gern unterrichten, schließlich bekommt Atlas von Kronos auch Sprachunterricht. Vielleicht müssen wir nur das Instrument finden, das ihm entspricht …« Rhea verdrehte wortlos die Augen.

In der Tat, sosehr Iapetos sich auch bemühte, Kreeg zeigte wenig Interesse an Musik, und auch Sprachen lernte er nur widerwillig. Iapetos bedauerte das sehr, ihm entging nicht, wie Kronos’ Augen vor Freude funkelten, wenn er Atlas die Grundlagen von Französisch, Englisch und Deutsch lehrte. Es war eine Erinnerung an ihr früheres Leben. Doch tatsächlich war das Einzige, das Kreeg mit seinem Vater wirklich gern unternahm, auf die Jagd zu gehen.

Mehr oder minder sobald Atlas die ersten Sätze bilden konnte, hatte er nach seiner Mutter gefragt. Vor diesem Moment hatte Iapetos sich gefürchtet, aber er hatte sich gut darauf vorbereitet. Er nahm seinen Sohn auf den Arm und ging mit ihm nach draußen, um ihm den funkelnden Nachthimmel zu zeigen.

»Sie ist da oben inmitten der Sterne, Atlas.«

»Warum?«, fragte er.

»Dorthin gehen Menschen, wenn sie ihren Körper verlassen. Sie werden zu … Sternenstaub.«

Sein Sohn staunte den weiten Himmel aus großen Augen an. »Kann ich Mutter denn sehen?«

»Vielleicht, wenn du ganz genau hinschaust.« Iapetos deutete in eine Richtung. »Ich glaube, du kannst sie bei den Sieben Schwestern der Plejaden sehen, dem Siebengestirn.«

»Den Sieben Schwestern?«, fragte Atlas nach.

»Ja, genau. Siehst du die Sterne dort, die etwas heller leuchten als die anderen?« Atlas nickte, und sein Vater lächelte erfreut. »Dann erzähle ich dir ihre Geschichte …«

Von dem Moment an war Atlas Tanit hingerissen vom Himmel und seinen Konstellationen. Sein Vater lehrte ihn sein gesamtes Wissen über die griechische Mythologie und die Sagen, die angeblich zu ihrer Entstehung geführt hatten, aber auch die astronomischen Erkenntnisse hinter den nächtlichen Sternen.

»Solange du die Sterne sehen kannst, bist du nie verloren, Atlas.«

»Wieso?«

»Schau, der Polarstern bewegt sich in einem kleinen Kreis um den Himmelsnordpol. Und da er nahezu ortstreu am Nachthimmel steht, kannst du dich immer an ihm orientieren.« Iapetos erläuterte seinem Sohn die Himmelskarten, die er zu reduzierten Preisen von Bekannten auf dem Markt erstand. Dass Atlas sich schon in so jungen Jahren für die Himmelskörper begeisterte, war höchst ungewöhnlich. Iapetos liebte seinen Sohn mehr als das Leben selbst und verbrachte jede freie Stunde damit, ihn und seine Interessen zu fördern.

Und diese freien Stunden wurden zunehmend mehr, als 1922 die Große Hungersnot über Russland hereinbrach. Die Märkte waren leergefegt, niemand konnte mehr Geld für Beinschnitzereien oder Musikunterricht erübrigen. Für die erweiterte Familie gestaltete sich das Überleben immer schwieriger. Vor allem Kronos ging es zunehmend schlecht, häufig ließ er Mahlzeiten ganz ausfallen, damit die anderen mehr zu essen bekämen. Jetzt war Kreeg häufig allein dafür zuständig, Fallen aufzustellen.

Und Iapetos Tanit dachte immer wieder an den Diamanten, den seine Frau in ihr Rockfutter eingenäht hatte. Wie anders ihr Leben hätte verlaufen können, wäre er noch in ihrem Besitz gewesen … Doch die eine Möglichkeit der Tanits, dem Schrecken in Russland zu entfliehen, war mit Klymene gestorben und befand sich jetzt wohl zweifellos in den Händen eines Bolschewiken.

Im Winter 1923 war die Situation unerträglich geworden. Mittlerweile war Atlas fünf und Kreeg neun, und ihr Hunger wuchs mit ihnen.

»So geht es nicht weiter, Iapetos. Hier sterben wir noch alle«, sagte Kronos zu seinem Freund und ließ sich auf einen Stuhl fallen.

»Dazu lasse ich es nicht kommen, Kronos. Wir haben es so weit geschafft.«

»Wir brauchen einen Plan für die Jungen. Es dauert nicht mehr lange, dann sind wir zu schwach, um sie zu ernähren. Wir müssen jetzt etwas tun.«

»Und was schlägst du vor, Kronos?«

»Du hast mir von deiner wohlhabenden Familie erzählt.«

»Sicher, meine Eltern haben Geld, aber sie sind in der Schweiz. Ich habe ihnen schon mehrfach geschrieben, um ihnen mitzuteilen, dass ich am Leben bin und sie einen Enkel haben. Wer weiß, ob die Briefe überhaupt je angekommen sind?«

Kronos nickte und starrte seinen Freund an. »Ich glaube, Iapetos … ich glaube, du musst gehen.«

»Wohin?«

»Du musst in die Schweiz. Hilfe holen. Sonst weiß ich nicht, wie wir hier überleben sollen.«

»Mein Freund«, stammelte Iapetos bestürzt, »ich würde alles für unser Überleben tun, aber dir ist doch klar, dass ich unterwegs sterben könnte?«

Kronos fasste sich matt an die Stirn. »Ich gebe zu, die Wahrscheinlichkeit, dass du durchkommst, ist … begrenzt. Aber wenn wir nichts tun und hierbleiben, dann sterben wir alle, das steht fest. Dein Sohn, Kreeg, Rhea … Wir müssen alles tun, was in unserer Macht steht, um sie zu retten.«

Iapetos schaute ins Feuer, das im Kamin brannte. »Natürlich«, antwortete er.

»Ich wünschte, ich könnte dich begleiten. Aber ich glaube nicht, dass ich die Kraft dazu habe.«

»Ja«, stimmte Iapetos ihm zu, »ich bin der Einzige, der die Reise auf sich nehmen kann.« Er spürte einen Kloß im Hals. »Bitte kümmert euch um Atlas. Er ist ein ganz besonderes Kind.«

»Das tun wir, Iapetos, ganz bestimmt.« Mühsam stand Kronos auf und schloss seinen alten Freund schwach in die Arme. »Glaub daran, dass du ihn wiedersehen wirst.«

Am nächsten Morgen weckte Iapetos seinen Sohn im ersten Tageslicht und erklärte ihm, dass er weggehen und Hilfe holen würde.

»Warum, Papa?«, fragte Atlas verängstigt.

»Mein Sohn … Ich fürchte, der Moment ist gekommen, in dem mir keine andere Wahl mehr bleibt, als zu gehen. Unsere Situation ist unerträglich. Ich muss versuchen, Hilfe zu finden.«

Atlas sank der Mut, schreckliche Angst ergriff ihn. »Papa, bitte, du darfst uns nicht verlassen«, flehte er inständig. »Was sollen wir ohne dich tun?«

»Du bist stark, mein Junge. Vielleicht nicht körperlich, aber im Geist. Genau das wird dich schützen, solange ich fort bin.« Atlas warf sich in seine warmen, schützenden Arme.

»Wie lange wirst du weg sein?«, presste er unter Tränen hervor.

»Ich weiß es nicht. Viele Monate.«

»Ohne dich werden wir nicht überleben.«

»Da täuschst du dich. Wenn ich nicht gehe, hat wohl keiner von uns eine Zukunft. Beim Leben deiner geliebten Mutter verspreche ich dir, dass ich zu dir zurückkomme … Bete für mich, warte auf mich.«

Der Junge nickte matt.

»Und denk immer an folgende Worte, die Laotse zugeschrieben werden: ›Wer nicht die Richtung ändert, landet am Ende dort, wohin der Weg führt.‹«

»Bitte komm wieder«, flüsterte Atlas.

»Mein geliebter Junge, ich habe dir beigebracht, dich mithilfe der Sterne zu orientieren. Wann immer du mich finden willst, werden die Sieben Schwestern der Plejaden dich leiten. Maia, Alkyone, Asterope, Celaeno, Taygeta und Elektra werden dich beschützen. Und natürlich Merope, deren Stern ein ganz besonderer ist, weil er nur manchmal zu sehen ist. Wenn du sie siehst, dann weißt du, dass du auf dem Weg nach Hause bist.«