LVIII

Tobolsk
1926 

Kreeg bewegte seinen Springer nach F3. »Schachmatt!«, rief er.

»Wie bitte?«, fragte Atlas verblüfft. »Wie hast du das geschafft?«

»Das heißt das Hippopotamus-Matt. Damit kann man in sechs Zügen gewinnen.« Er zuckte selbstzufrieden mit den Achseln. »Tut mir leid.«

»Kannst du mir das beibringen?«, bat Atlas inständig.

»Warum sollte ich dich in mein Geheimnis einweihen?«, fragte Kreeg höhnisch. »Es macht doch keinen Spaß, gegen dich Schach zu spielen, wenn ich nicht gewinne!«

»Bitte, Kreeg! Ich möchte es doch so gern wissen.«

»Ich überleg’s mir … Vielleicht wenn du das Brennholz für mich hackst.«

Atlas seufzte. »Also gut.«

»Jungs«, rief Rhea und kam auf unsicheren Beinen ins Wohnzimmer. »In einer halben Stunde kommt Maxim. Ihr müsst das Schachspiel wegräumen. Ihr wisst, er kann Unordnung nicht leiden.«

Kreeg warf seiner Mutter einen bösen Blick zu. »Muss Maxim heute kommen? Mittlerweile ist er ständig hier«, beschwerte er sich.

»Schon, wenn ihr was zu essen wollt«, lallte Rhea leise.

»Was?«, fragte Kreeg nach.

»Nichts. Ja, Maxim muss herkommen. Vielleicht könnt ihr euch verziehen. Kreeg, du hast deinen Vater schon eine ganze Weile nicht mehr besucht. Geh ihm die Ehre erweisen.«

Ihr Sohn machte ein betroffenes Gesicht. »Aber da werde ich immer so traurig.«

»Dann heitert Atlas dich wieder auf. Das kann er sehr gut, stimmt’s nicht?« Sie fuhr ihm durchs Haar. »Nimm deine Geige mit oder sonst was, Atlas.« Sie trank einen Schluck aus der fast leeren Wodkaflasche, die sie in der Hand hielt.

Kronos Eszu war rund vier Monate nach Iapetos Tanits Aufbruch in die Schweiz gestorben. Vor Unterernährung und Schwäche war er einfach im Schnee zusammengebrochen, während er eine der Fallen nach Beute untersuchte. Atlas hatte ihn gefunden und würde nie Kreegs gellenden Schrei vergessen, als er nach Hause gelaufen war, um Hilfe zu holen.

Von Iapetos hatten sie seit dem Tag 1923, als er in den Schnee hinausgegangen war, nichts mehr gehört. Er fehlte Atlas sehr. Und obwohl die drei, die noch in Sibirien waren, von ihm sprachen, als würde er jederzeit zurückkommen, wussten sie im tiefsten Inneren doch alle, welches Schicksal ihn ereilt hatte.

Relativ bald nach Kronos’ Tod hatte Rhea einen Bolschewiken zum Liebhaber genommen. Er hieß Maxim und versorgte den Haushalt nicht nur mit Essen (so bescheiden es sein mochte), sondern auch mit dem Wodka, auf den Rhea mittlerweile angewiesen war, um den Tag zu überstehen.

Kreeg und Atlas zogen sich die Fellstiefel, Schals, Mützen und Handschuhe an und machten sich auf den Weg den Berg hinauf, wo sie Kreegs Vater beerdigt hatten.

Atlas wusste, wie schwer seinem brüderlichen Freund diese Besuche fielen, und versuchte, ihn aufzumuntern. »Was möchtest du eigentlich werden, wenn du groß bist, Kreeg?«, fragte er.

Kreeg zog die Nase hoch. »Das ist mir egal, solange ich Unmengen Geld verdiene. Ich wünsche mir ein großes, warmes Haus und dass alle Schränke voll Essen sind.«

»Das wäre schön«, erwiderte Atlas. »Und ich möchte Schiffskapitän werden. Dann könnte ich uns um die ganze Welt fahren.«

»Ich dachte, du wolltest Musiker werden?«

»Das will ich auch!«, bekräftigte Atlas. »Vielleicht kann ich ja beides sein.«

Darüber musste Kreeg leise lachen, was Atlas freute. »Vielleicht geht das wirklich. Es heißt ja, dass das Streichquartett immer weitergespielt hat, als die Titanic unterging. Wenn dein Schiff untergeht, kannst du den Passagieren was vorspielen.«

»Mein Schiff wird nie untergehen«, widersprach Atlas stolz.

»Das sagten sie von der Titanic auch …«

»Ja, aber ich werde viel vorsichtiger sein als Kapitän Smith.«

»Das sagst du so, Atlas.«

Die Jungen gingen weiter, bis sie schließlich Kronos’ Grab erreichten. Kreeg hatte ein großes Stück Holz gefunden, um es zu kennzeichnen. Eine Weile standen sie schweigend davor, Kreeg trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Ich weiß nie, was ich sagen soll«, gestand er.

»Fehlt er dir?«, fragte Atlas.

»Natürlich.«

»Dann sag ihm das doch einfach«, riet Atlas.

Kreeg räusperte sich. »Vater, du fehlst mir.« Er drehte sich zu Atlas. »Ich höre dich manchmal draußen vorm Haus mit deinem Vater reden«, fuhr er leise fort. »Das klingt immer, als würdest du dich mit ihm unterhalten.«

»So kommt es mir auch vor.«

Kreeg nickte. »Du Glücklicher. Komm, lass uns wieder gehen.« Er machte sich auf den Heimweg.

Atlas eilte ihm nach. »Ich dachte, du kannst Maxim nicht leiden?«

»Kann ich auch nicht, aber es ist besser, als da oben zu sein.«

»Du weißt schon, dass deine Mutter ihn nicht liebt, oder?«, fragte Atlas. Kreeg machte eine unbeholfene Geste. »Sie tut es nur, damit wir Brot zu essen haben.«

»Da sollte das Brot aber besser sein.« Kreeg lächelte.

Als die Jungen ins Haus zurückkamen, hatte Maxim Rhea an die Wand gedrängt und küsste sie heftig.

»Jungs, ich habe euch doch aufgetragen rauszugehen«, sagte Rhea und strich sich den Rock glatt.

»Wir wohnen hier«, erwiderte Kreeg. »Du kannst uns nicht rausschmeißen.«

»Hast du gerade respektlos mit deiner Mutter gesprochen?«, herrschte Maxim Kreeg an und drehte sich zu ihm.

»Ich würde nie respektlos mit meiner Mutter sprechen. Mir gefällt nur nicht die Gesellschaft, die sie ins Haus lässt.«

»Kreeg …«, bat Rhea inständig.

Langsam kam Maxim quer durch die Küche auf Kreeg zu, bis er direkt vor ihm stand. »Dann sag mir doch, Kind, warum ist das so?«

»Weil sie sich wie Warzenschweine am Wasserloch aufführen.«

Kurz herrschte angespannte Stille, dann warf Maxim lachend den Kopf in den Nacken. »Ich bin ein Warzenschwein?! Hast du das gehört, Rhea? Dein Sohn nennt mich ein Schwein!« Blitzschnell holte er aus und versetzte Kreeg eine so deftige Ohrfeige, dass dieser zu Boden fiel.

»Kreeg!«, schrie Rhea.

»Jetzt komm schon, Rhea, die Kinder müssen lernen, Erwachsenen gegenüber höflich zu sein.« Er wirbelte zu Rhea herum. »Oder etwa nicht?«

»Doch, Maxim.« Rhea senkte den Blick. »Kreeg, nimm dir ein Beispiel an Atlas. Und jetzt ins Bett mit euch, Jungs.«

Atlas lief zu Kreeg und half ihm aufzustehen. Zu seinem Erstaunen liefen seinem Freund Tränen übers Gesicht. Das hatte Atlas erst ein einziges Mal bei ihm gesehen, nämlich an dem Tag, als sein Vater gestorben war. Die Jungen gingen eilig in ihr Zimmer, das lediglich ein umgebauter Vorratsschrank war. Maxim hatte eine uralte große Matratze für sie besorgt, und auf die warf Kreeg sich jetzt, immer noch leise weinend.

Atlas hockte sich ans andere Ende der Matratze und umklammerte die Knie. »Ist alles in Ordnung, Kreeg? Die war wirklich sehr fest.«

»Mir fehlt nichts«, erwiderte er.

»Du warst ganz schön mutig«, stellte Atlas fest. »Ehrlich gesagt kenne ich niemanden, der so mutig ist wie du gerade eben.«

Kreeg richtete sich auf. »Wirklich?«

»Ja! Du hast Maxim ein Warzenschwein genannt!«, sagte Atlas grinsend.

Kreeg wischte sich die Nase am Ärmel. »Ja, stimmt.«

»Das war klasse!«

Kreeg machte eine wegwerfende Bewegung. »Das war nichts.«

»Ich glaube«, sagte Atlas zögernd, »dein Vater wäre sehr stolz auf dich.«

Kreeg senkte den Blick und schwieg eine Weile. »Vielleicht zeige ich dir morgen das Hippopotamus-Matt.«

»Das wäre toll!«

»In Ordnung. Aber jetzt bin ich müde. Lass uns schlafen.«

Die Jungen holten die Decken aus dem kleinen Fach am Ende der Matratze und legten den Kopf aufs Kissen.

Als Kreeg später aufwachte, war sein Mund trocken, seine Zunge fühlte sich dick an. Während er sich streckte, fiel ihm ein, dass er seit Stunden nichts mehr getrunken hatte, und jetzt war er schrecklich durstig. Gähnend beschloss er, sich zu dem Krug vorzuwagen, der in der behelfsmäßigen Küche stand. In ihrer kleinen Kammer herrschte zwar völlige Dunkelheit, aber hinter der Tür flackerte ein Licht, an dem er sich orientierten konnte. Kreeg stand auf und stieg vorsichtig über Atlas hinweg, um ihn nicht zu wecken. Gerade wollte er den Türknauf drehen, da hörte er sehr leise die Stimme seiner Mutter. Kreeg verzog das Gesicht. Noch eine Begegnung mit Maxim wollte er nicht riskieren. Er legte das Ohr an die Tür und lauschte.

»Würdest du das für mich machen, Maxim?« Rhea lallte noch stärker, als Kreeg es je bei ihr gehört hatte. Sie war eindeutig sehr betrunken.

»Erklär noch mal. Ich soll was für dich verkaufen?« Auch Maxims Zunge war schwer. Die beiden sprachen offenbar dem Wodka zu, seit die Jungen ins Bett gegangen waren.

»Einen Diamanten von den Romanows, Maxim. Größer, als ich jemals einen gesehen habe!«

»Pah, verkauf ihn doch selbst.«

»Das geht doch nicht, das weißt du auch. Wenn ich ihn in Tobolsk verkaufe, bringt mich das mit den Weißen in Verbindung. Sie wissen von meiner Vergangenheit bei den Romanows. Aber wenn du als Roter ihn verkaufst, dann … denken sie einfach, dass du ihn gestohlen hast.«

»Und sag, Rhea, wie bist du in den Besitz eines Romanow-Diamanten gekommen?«

»Ich habe eine Gelegenheit gesehen und sie genutzt.«

»Erzähl schon!«

»Als der Zar und die Zarin abgeholt wurden, haben sie ein paar von uns in einem Eisenbahnwaggon uns selbst überlassen. Darunter war auch eine Hochschwangere. Am ersten Abend haben bei ihr die Wehen eingesetzt, und ich habe geholfen, das Kind zur Welt zu bringen – Atlas.«

Maxim rülpste. »Ja, und weiter?«

»Während der Geburt habe ich einen Klumpen im Rockfutter der Mutter gespürt. Ich habe ihn aus dem Futter gerissen und ihn eingesteckt.«

»Du hast ihn gestohlen?«

Rhea seufzte. »Ja.«

»Hattest du keine Angst, dafür bestraft zu werden?«

»Ich lebe in Russland. Ich habe ständig Angst vor Vergeltung. Ich habe lediglich etwas getan, das ich notwendig fand, um zu überleben. Außerdem hat die Mutter stark geblutet, sie lag sowieso im Sterben.«

»Und was ist aus dem Vater des Jungen geworden?«

»Ich habe dir doch gesagt, er ist losgegangen, um Hilfe zu holen. Er hat Familie in der Schweiz.«

»Der ist verrückt. Der hat doch keine drei Tage überlebt.«

Rhea fuhr fort: »Ich hatte mir überlegt, Iapetos den Diamanten zurückzugeben. Aber ich dachte mir, wenn Klymene ihrem Mann wirklich davon erzählt hatte, muss er geglaubt haben, dass er mit ihr verschwand, als sie nach der Geburt abgeführt wurde.«

»Wenn du ihm den Stein zurückgegeben hättest, hätte er gewusst, dass du ihn gestohlen hast.«

»Genau.«

»Also, wo ist er?«

»Das verrate ich dir erst, wenn du dich bereit erklärst, ihn für mich zu verkaufen. Natürlich bekommst du eine ansehnliche Beteiligung. Und alles … Zusätzliche, das du möchtest.«

»Zeig ihn mir.«

»Maxim, ich kann dir nicht einfach …«

»Sag mir, wo er ist, Rhea.«

»Glaubst du mir nicht?«

»Ich würde ihn einfach gern sehen.«

»Er ist nicht hier.«

»Ach nein?«

»Nein. Ich bewahre ihn an einem sicheren Ort auf.«

»Ein Jammer. Ich hätte ihn gern gesehen. Wie auch immer, es ist spät. Ich muss los.«

Kreeg hörte ihn aufstehen.

»Maxim … das bleibt unser Geheimnis, ja? Du erzählst niemandem davon?«

»Natürlich nicht. Bis bald.« Ein paar Schritte, dann fiel die Tür knallend ins Schloss.

Kreeg beschloss, doch keinen Schluck Wasser zu trinken. Leise legte er sich wieder ins Bett, ihm schwindelte von dem, was er gerade gehört hatte. Plötzlich wurde ihm klar, dass es doch einen Ausweg aus diesem Leben gab, dass der Ausweg sogar zum Greifen nah war, wenn wirklich stimmte, was seine Mutter gesagt hatte. Er starrte hinüber zu dem Jungen, den er als seinen kleinen Bruder betrachtete und der, seinem regelmäßigen Atmen nach, tief und fest schlief.

Alle möglichen Gedanken wirbelten ihm durch den Kopf, allen voran aber einer: Unter keinen Umständen durfte Atlas erfahren, was Rhea getan hatte.