LX

Der Hafen von Tilbury, Essex, England
1949 

Kreeg Eszu hatte eine lange Nacht hinter sich. Nachdem er Rupert Forbes’ Wagen aus London hinaus gefolgt war, hatte er heimlich beobachtet, wie Atlas Tanit und seine hübsche Freundin im Voyager Hotel abstiegen und dann in der Stadt einen Einkaufsbummel machten. Er beobachtete das Paar, wie es zusammen am Pier saß und Atlas das Mädchen porträtierte; die beiden waren eindeutig sehr verliebt. Anschließend waren sie ins Hotel zurückgekehrt, und Kreeg hatte sich an der Seepromenade auf einer Bank niedergelassen, keine zweihundert Meter vom Eingang des Voyager entfernt.

Dort saß er die ganze Nacht.

Es war offenkundig, dass das Paar eine Passage an Bord der RMS Orient gebucht hatte, die in wenigen Stunden nach Australien ablegen würde. In der langen Nacht hatte Kreeg reichlich Zeit, seine Möglichkeiten zu überdenken. Eigentlich hatte er nicht damit gerechnet, Atlas so mühelos aufzuspüren, aber der hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, einen falschen Namen zu verwenden. Ungewohnt nachlässig von ihm.

Dabei hatte Kreeg im Grunde gar nicht aktiv nach ihm gesucht, sondern seine Zeit vielmehr damit verbracht, eine wohlhabende Russin zu umgarnen und in der neuen Großstadt Fuß zu fassen. Aber das Schicksal hatte eingegriffen, wie so oft, wenn es um Atlas ging, und ihre Wege hatten sich früher als erwartet wieder gekreuzt.

Viele Jahre hatte Kreeg davon geträumt mitzuverfolgen, wie Atlas’ Leben vor seinen Augen langsam erlosch. Aber im Krieg hatte er den Tod allzu oft gesehen. Dutzende von Menschenleben waren vernichtet worden, Soldaten waren gefallen wie Dominosteine. Bisweilen hatte er sie sogar beneidet, zumindest waren sie von der Zerstörung rund um sie her erlöst.

Und so war Kreeg zu dem Schluss gekommen, dass der Tod für Atlas nicht genügte. Nein, für ihn gab es nur eine Strafe: zu leben. Jetzt wünschte er sich sehnlich, dass sein ehemaliger Freund ebenso große Verzweiflung empfand wie er, als der ihm seine geliebte Mutter genommen hatte. Der Schmerz war unerträglich gewesen, war es immer noch. Und nichts weniger sollte Atlas am eigenen Leib erfahren.

Kreeg hoffte nur, dass er eine Gelegenheit finden würde, Rache zu üben, bevor Atlas und seine Freundin an Bord der Orient gingen. Sonst würde auch er das Schiff besteigen und ihnen nach Australien folgen müssen. Bei dem Gedanken schauderte ihn.

Gegen neun Uhr morgens erwachte der Hafen allmählich zum Leben. Kreeg verließ seine Bank, kaufte eine Zeitung und bezog Position an einer Straßenecke parallel zum Hotel. Allmählich klopfte ihm das Herz etwas schneller. Er wusste nicht, wie sich der Vormittag entwickeln würde, und bemühte sich, ruhig zu bleiben. Er brauchte nur einen einzigen Moment, wenn die beiden getrennt waren, mehr nicht. Um 9.25 Uhr verließ Atlas mit einem Koffer in der Hand das Hotel, seine große, muskulöse Statur war unverkennbar. Zu Kreegs Freude war er nicht in Begleitung der blonden Frau. Atlas Tanit schritt die Gangway hinauf und betrat das Schiff.

Fünf Minuten später kam die blonde Frau ebenfalls mit einem Koffer und dazu einer hellblauen Papiertüte aus dem Hotel. Das war seine Chance. Mit raschen Schritten ging Kreeg auf sie zu, holte im Schutz seiner zusammengefalteten Zeitung seine Korowin-Pistole aus der Manteltasche und hielt sie fest umklammert. Immer näher kam er der Frau, bis er sie schließlich hätte berühren können.

Er hatte die ganze Nacht Zeit gehabt, sich jeden Schritt seines Plans zu überlegen. Jetzt packte er die Frau an der Schulter und rammte ihr die Mündung der Pistole in den Rücken. Erschreckt holte sie Luft.

»Wenn du schreist, erschieße ich dich«, zischte er ihr ins Ohr. Die Frau nickte. »Spiel das Spiel mit.« Kreeg drehte sie zu sich herum und schaute ihr in die verängstigten blauen Augen. »Guten Morgen, mein Schatz!«, rief er. »Was für ein Zufall, dich hier zu treffen.« Dann umarmte er sie, die Pistole auf ihre Brust gerichtet.

»Bitte nicht«, sagte Elle leise.

»Dafür ist es zu spät«, flüsterte Kreeg. Er drehte sie wieder um, sodass sie zum Schiff schaute, hielt aber ihren Arm fest umklammert. »Du kommst jetzt mit.«

»Wohin, Kreeg?«

»Das erkläre ich dir später.«

»Was, wenn ich jetzt einfach schreie? Wir sind umgeben von Menschen.«

»Das wäre unklug. Noch bevor du ausgeschrien hast, stehe ich oben auf der Gangway und jage Atlas eine Kugel in den Kopf. Ganz zu schweigen von derjenigen, die in deinem Rücken steckt.«

»Und wenn ich mich schlicht weigere mitzukommen?«

»Dann gehe ich an Bord und erschieße ihn.«

»Wo immer du mich hinbringen willst, er wird mich finden. Das weiß ich.«

»Das kann er ruhig versuchen. So, und jetzt komm schon, meine Liebe.«

»Moment. Ich möchte ihm wenigstens einen kurzen Brief schreiben.«

Kreeg prustete los. »Einen Brief?! Um ihm zu erklären, was passiert ist? Hat er mich etwa als Idioten beschrieben? Wundern würde es mich nicht.«

»Nein. Du möchtest ihm möglichst wehtun, nicht wahr? Das ist doch der Grund, weshalb du mich hinderst, aufs Schiff zu gehen.«

Kreeg hob die Augenbrauen. »Sehr scharfsinnig von dir.«

»Was würde ihn dann mehr schmerzen, als glauben zu müssen, dass ich ihn aus freien Stücken verlassen habe? Ich schreibe ihm einen Abschiedsbrief. Dann kann zumindest ich emotional einen Schlussstrich ziehen – und mein Verlobter grämt sich umso mehr.« Kreeg dachte kurz über ihren Vorschlag nach. »Nenn es eine letzte Bitte.«

»Du glaubst, dass ich dich umbringe?«

»Du drückst mir eine Pistole in den Rücken.«

Kreeg lachte finster. »Dann schreib den dämlichen Brief.« Elle holte aus ihrer Handtasche ein Blatt Papier, das sie vom Hotel mitgenommen hatte, und einen Stift. Kreeg behielt sie genau im Auge, während sie schrieb. »So, ist das für dich in Ordnung?«

Kreeg las die wenigen Zeilen.

Keinen Menschen habe ich mehr bewundert als Dich.

Reise nach Australien im Wissen, dass Du Dich nicht um meine Sicherheit zu sorgen brauchst.

Ewig die Deine,

Elle

(Geh und leb Dein Leben, wie ich das meine leben muss.)

Kreeg nickte.

»Gut. Dann muss ich jetzt jemanden finden, der ihm das bringt.«

»Was? Nein. Komm. Wir gehen jetzt. Das war sowieso eine Schnapsidee.« Er packte sie noch fester am Arm und wollte sie fortziehen.

»Du tust mir weh!« Elle ließ die hellblaue Papiertüte mit dem Seidenkleid fallen, doch zuvor steckte sie noch das Briefchen hinein. Während Kreeg sie aus der Menge wegzerrte, sah Elle zum Schiff hinauf. Dort bekam sie einen letzten Blick auf den Mann, der sie liebte und der suchend auf das Gewimmel im Hafen unter sich schaute.

»Auf Wiedersehen, mein Liebling«, flüsterte sie. »Such nach mir.«

Kreeg führte Elle mehrere Straßen weiter, wo er sie zwang, in einen schwarzen Rolls-Royce zu steigen.

»Setz dich vorn neben mich.« Elle folgte seiner Anweisung, und sobald sie die Tür geschlossen hatte, entfernte Kreeg die Zeitung von der Pistole. »Wenn du versuchst zu fliehen, erschieße ich dich.«

Elles Atem ging schwer, aber sie blieb unbeirrt. »Darf ich fragen, wohin wir jetzt fahren?«

Kreeg lachte gehässig. »Würde es dich überraschen, wenn ich dir sage, dass ich nicht so weit im Voraus geplant habe?«

»Ja, doch«, erwiderte sie. Kreeg startete den Wagen und fuhr los, die Pistole lag auf seinem Schoß. »Du beschuldigst ihn zu Unrecht, Kreeg. Er ist ein guter Mensch. Einen besseren gibt es nicht.«

Kreeg warf einen Blick zu ihr. »Ah, er hat dir also von mir erzählt und weshalb ich hinter ihm her bin?«

»Natürlich. Wir kennen uns von Kindheit an.«

»Ach ja?«, fragte Kreeg. »Dann weißt du also auch, dass er ein intriganter kleiner Schnösel war.«

Elle fiel etwas an. »Weißt du, er hat den Diamanten immer noch. Er möchte ihn dir zurückgeben. Wenn du anhältst, können wir ihm den noch abnehmen.«

Kreeg runzelte die Stirn. »Er hat den Diamanten noch?«

»Das schwöre ich bei meinem Leben.«

Einen Moment schien Kreeg zu zögern, dann umfasste er das Lenkrad noch entschlossener. »Die Tatsache, dass er ihn nicht verkauft hat, spricht ihn nicht frei von seinem Verbrechen.«

»Er hat deine Mutter nicht getötet, Kreeg, das waren bolschewistische Soldaten …«

»Halt den Mund!«, fuhr Kreeg sie an. »Ich sehe schon, er hat dir also alle diese Lügen aufgetischt, und du hast sie geglaubt. Atlas Tanit ist so wenig unschuldig, wie du hässlich bist.«

»Was willst du tun?«, fragte Elle. »Wenn du mich umbringst, dann bitte ich darum, dass es schnell geht.«

Kreeg schüttelte den Kopf. »Ich habe mittlerweile genug Tote gesehen. Es ist unsinnig, jemanden zu töten, wenn es nicht nötig ist.«

»Was hast du dann vor?«

»Du hast vorhin gesagt, dass ich Atlas so viel Schmerz wie möglich zufügen möchte.«

»Ja.«

»Ich bringe dich nicht um. Ich behalte dich.«