LXII

Als die aufgehende griechische Sonne mir direkt ins Gesicht fiel, wachte ich auf. Ich drehte mich auf die Seite und stellte fest, dass ich tatsächlich in meinen Kleidern eingeschlafen war – das war mir seit meiner Kindheit nicht mehr passiert. Vorsichtig setzte ich mich auf und spürte ein vertrautes Ziehen in der Brust. Ich machte mir Vorwürfe, so lange geschlafen zu haben, denn in Atlantis wurde mein Plan schon längst in die Tat umgesetzt. Marina würde die Mädchen anrufen und ihnen sagen, dass ich an einem Herzinfarkt gestorben sei.

Kreeg sollte mich längst umgebracht haben.

Aber hier saß ich, atmete und lebte. Ich wusste, dass ich sobald wie möglich Georg kontaktieren musste. Ich hievte mich auf die Beine, verließ meine Kabine und stieg die Haupttreppe hinauf. Dann betrat ich das Deck, aber von meinem ewigen Widersacher war nichts zu sehen.

»Kreeg?«, rief ich. »Bist du da?« Ich ging vom Bug nach achtern und betrachtete die herrliche Sonne, die über dem Horizont schwebte. Schließlich erreichte ich die Laufplanke, die die Titan mit der Olympus verband. Überzeugt, dass Kreeg nicht mehr bei mir auf dem Schiff war, kroch ich trotz der immer stärker werdenden Schmerzen in der Brust hinüber.

»Guten Morgen, Kreeg! Ich bin’s, Atlas. Bist du wach?«

Es war nichts von ihm zu sehen. Ich drang bis in die untersten Decks der Jacht vor und rief dabei immer wieder seinen Namen. Ich durchsuchte Kabinen, Büros, Mannschaftsunterkünfte und die Kombüse – allesamt leer. Schließlich stieg ich auf die Brücke, von der die Jacht gesteuert wird. Während mein Blick den Raum überflog, fiel mir etwas ins Auge. Auf der Steuerkonsole lag ein mir wohlvertrauter Lederbeutel, daneben lag ein weißer Umschlag, auf dem Atlas stand.

Ich löste die Zugschnur des Beutels, und zu meinem großen Erstaunen befand sich darin der Diamant. Mit wachsender Beklemmung öffnete ich den Umschlag, darin lag eine Karte von Kreegs Schreibtisch:

DU HAST GEWONNEN, ATLAS. ICH GEHE, DAS MEER RUFT. ES IST ENDGÜLTIG VORBEI.

Langsam steckte ich die Karte in meine Brusttasche und hängte mir den Beutel mit dem Diamanten um den Hals. Ich wusste, dass Kreeg nicht auf seiner Jacht war, schließlich hatte ich die Olympus gerade abgesucht. Das Meer ruft  – war er über Bord gesprungen? Ich ging auf das Brückendeck und schaute nachdenklich aufs Wasser hinaus. Sollte das eine List sein?

Eine Ahnung beschlich mich, dass dem nicht so war.

Kreeg hatte den Diamanten zurückgelassen. Wenn er geflohen wäre, hätte er ihn zweifelsohne mitgenommen.

»Adieu, Kreeg. Ich hoffe, dass du trotz allem Frieden findest«, flüsterte ich.

Was sollte ich jetzt tun? Natürlich wäre es meine Pflicht gewesen, die griechische Küstenwache zu kontaktieren. Allerdings konnte ich es nicht riskieren, dass sie mich hier mit einer Waffe an Bord antrafen. Ich entschied mich für einen Kompromiss. Ich kehrte zur Steuerkonsole zurück und tippte die entsprechende Notruffrequenz ein.

»Küstenwache, hier ist die Motorjacht Olympus . Unsere Position ist 37.4 Nord und 25.3 Ost. Mutmaßlich Mann über Bord. Over.«

Nach kurzer Pause kam die Antwort. »Motorjacht Olympus , Nachricht erhalten. Position Delos bestätigen.«

»Bestätigt«, erwiderte ich.

»Haben Sie Sichtkontakt zum Mann über Bord?«

»Negativ. Auf der Jacht fehlt ein Passagier.«

»Bestätigt, Olympus . Hilfe ist unterwegs«, krächzte die Stimme.

Ich stellte das Funkgerät in seine Halterung zurück und machte mich so schnell wie möglich auf den Rückweg zur Titan . Die Planke nahm ich mit. Ich durfte nicht Gefahr laufen, dass die Behörden glaubten, ein anderes Schiff wäre in der Nähe gewesen. Sobald ich wieder an Bord der Titan war, hastete ich zum Bug und lichtete den Anker. Das alles bedeutete eine große Anstrengung für mein Herz, das mittlerweile schmerzte. Trotzdem versuchte ich, mich schnellstmöglich auf die Brücke der Titan zu begeben, wo ich die Motoren anwarf und mich daranmachte, die Jacht zu drehen, sodass sie Kurs aufs offene Meer nahm. Unerwartet hörte ich von steuerbord das Hupen eines Horns. Ich stellte den Gasgriff auf Leerlauf und hastete zum Fenster. Zu meinem Entsetzen sah ich einen kleinen Katamaran voll junger Menschen, der sein Bestes tat, mir auszuweichen. Entschuldigend hob ich die Hand, doch ich hatte keine Zeit zu verlieren. Ich drückte den Gashebel wieder nach vorn. Der Katamaran bewegte sich von mir fort, zweifellos verfluchten sämtliche Insassen die böse Superjacht, die keinerlei Wert auf gute Seemannschaft legte.

Als die Titan aufs offene Meer zusteuerte, überlegte ich mir, wohin ich sie nun bringen sollte. Ich brauchte einen abgelegenen Ort, um mich zu sammeln und mir einen neuen Plan zu überlegen. Leider ist ein unauffälliges Entkommen mit einer mehrere Millionen Euro teuren Jacht ein Ding der Unmöglichkeit. Ich war noch in Gedanken versunken, da knisterte das Funkgerät.

»T itan , bitte kommen. Titan , empfangt ihr mich?«

Mir stockte der Atem. Woher wusste die Küstenwache, dass meine Jacht in der Nähe war? Kurz überlegte ich, einfach die Motoren auszustellen und wie Kreeg über Bord zu springen.

»T itan , bitte kommen. Hier ist die Motorjacht Neptun. Bitte kommen.«

»N eptun  …«, wiederholte ich im Flüsterton. »Wer bist du?«

Ich holte das Fernglas und spähte nach Backbord, Steuerbord und Bug. Es war nichts zu sehen, deshalb verließ ich kurz die Brücke und schaute nach achtern. Und da konnte ich in der Tat einen weißen Tupfer hinter mir ausmachen. Ich hob das Fernglas an die Augen und identifizierte ihn als eine kleine Sunseeker-Motorjacht, die offenbar mit einiger Geschwindigkeit auf mich zuhielt.

Ich kehrte zur Brücke zurück und schob den Gashebel in Maximalstellung. Mit der geballten Kraft der Benetti konnte das Schiff, das mir folgte, nie und nimmer mithalten. Aber wer waren sie?

»Ich wiederhole, Titan , bitte kommen. Die Neptun hat kostbare Fracht an Bord!«

»Kostbare Fracht?«, fragte ich mich laut.

»Zur Bestätigung«, drang es aus dem Funkgerät. »Wir haben Ihre Tochter Ally an Bord. Sie fragt, ob Sie vielleicht mit ihr eine Tasse Tee trinken möchten.«

Der Boden wollte unter meinen Füßen nachgeben. Ally? Was zum Teufel machte sie hier? Nein, nein, nein … All meine mühsam ausgearbeiteten Pläne lösten sich in Wohlgefallen auf. »Komm, altes Mädchen«, trieb ich die Titan an.

Wieder knisterte der Funk. »Pa? Ich bin’s, Ally! Wir können dich sehen! Wie wär’s mit einem Rendezvous in der Ägäis? Over.«

Allys Stimme war sowohl Balsam auf meiner Seele als auch reinstes Gift. Es tröstete mich sehr, sie zu hören, und schmerzte mich zugleich zutiefst, ihr nicht antworten zu können.

Es vibrierte in meiner Tasche, und ich holte mein Handy heraus. Das Display zeigte eine mir unbekannte Nummer an. Da ich vermutete, dass der Anruf mit größter Wahrscheinlichkeit von Ally an Bord der Neptun stammte, reagierte ich nicht. Und in der Tat, wenige Sekunden später gab das Telefon wieder einen Ton von sich und teilte mir mit, dass ich eine Sprachnachricht bekommen hatte. Schnell hörte ich sie ab, und wieder drang mir die Stimme meiner Tochter ans Ohr.

»Hi, Pa! Hier ist Ally. Hör mal, du wirst es nicht glauben, aber ich bin direkt hinter dir. Ich bin mit einem … Freund unterwegs, und ich dachte, vielleicht hast du ja Lust auf ein Wiedersehen. Wir könnten uns doch zum Lunch treffen, oder? Wie auch immer, gib mir Bescheid. Hab dich lieb. Tschüss.«

»Ich hab dich auch lieb, Ally«, flüsterte ich.

Tränen traten mir in die Augen. In Wirklichkeit hätte ich nichts lieber getan, als die Titan anzuhalten, Ally fest in die Arme zu schließen und ihr alles zu erzählen. Aber im tiefsten Inneren wusste ich, dass das ausgesprochen töricht wäre. Ich hatte erwartet, zu diesem Zeitpunkt bereits tot zu sein und dass Kreeg weiterlebte. Jetzt war es umgekehrt. Zu ihrem eigenen Schutz mussten meine Töchter glauben, dass ich gestorben war. Sollte Zed je Wind davon bekommen, dass ich an diesem Tag hier gewesen war … Mich schauderte, wenn ich mir überlegte, welche Folgen das für meine Töchter haben könnte.

Nachdem ich fast eine Stunde mit dem Gashebel am Anschlag gefahren war, war Allys Sunseeker außer Sichtweite geraten. Ich drosselte das Tempo, holte wieder mein Handy aus der Tasche und rief den einen Menschen an, von dem ich wusste, dass ich ihm vertrauen konnte: Georg Hoffman.

»Atlas?«, fragte er fassungslos. »Sie sind am Leben?«

»Ja, Georg, ich bin am Leben. Und wie Sie wissen, ist das ein großes Problem.«

»Und Kreeg?«

»Tot. Wir müssen auf Plan B umschalten. Sofort.«

»Verstanden, Atlas.«

***

Meine Töchter. Dies ist nun wirklich das Ende meiner Geschichte. Mithilfe von Georg, Marina, Claudia, Hans und vielen anderen meines »Teams« wurde die Titan nach Nizza zurückgebracht. Ihr erfuhrt von meinem Herzinfarkt und meiner Beisetzung und erhieltet eure Briefe und dazu die Koordinaten auf der Armillarsphäre.

Die Frage, die euch sicher am meisten auf den Nägeln brennt, ist: »Wo bist du hingegangen, Pa?«

Ich kehrte zur Insel Delos zurück, um meine letzten Tage in Ruhe inmitten der Schönheit der griechischen Küste zu verbringen. Mit Georgs Hilfe kaufte ich ein kleines Haus mit einem fantastischen Blick aufs Meer und wartete, dass meine Zeit käme. Ihr sollt wissen, dass meine letzten Tage voll glücklicher Erinnerungen an unser gemeinsames Leben an den zauberhaften Gestaden von Atlantis waren.

Jetzt wisst ihr alles.

Atlas’ Geschichte.

Die Geschichte von Pa Salt.

Eure Geschichte.

Das schönste Geschenk meiner verlängerten Zeit auf Erden waren die Nachrichten, in denen Georg mir von euren Erlebnissen berichtete. So erfuhr ich von den Abenteuern, die ihr unternommen habt, um euren leiblichen Familien zu begegnen. Ich könnte nicht stolzer auf euch sein, das müsst ihr mir glauben. Auch wenn keine von euch mit mir blutsverwandt ist, ist es mir ein großes Glück, dass ihr meine Freude am Reisen geerbt habt, meine Abenteuerlust und vor allem meine große Liebe zu den Menschen und den Glauben an das Gute in ihnen. Es tut mir im Herzen weh, dass ich euch hintergehen musste. Da ihr jetzt meine Situation in all ihrer Tragweite kennt, glaube ich, dass ihr mir verzeihen werdet.

Vor allem aber hoffe ich, dass es Georg gelungen ist, die verschwundene Schwester zu finden. Ich weiß, dass er unermüdlich tätig war, um sie aufzuspüren, nachdem ich ihm den Namen von Argideen House geben konnte sowie eine Zeichnung des Rings, den ich einst ihrer Mutter schenkte.

Allerdings habe ich das Gefühl, dass er eure Hilfe brauchen wird. Wenn ihr sie findet, dann, meine Töchter, seid freundlich zu ihr. Sagt ihr, wie sehr ich sie liebe. Wie sehr ich mich danach sehnte, sie zu finden. Dass ich nie die Suche aufgegeben habe. Sagt ihr, wie stolz es mich macht, ihr Vater zu sein, wie auch der eure.

Es gibt für mich nichts mehr zu sagen, was nicht schon gesagt wäre. Aber ihr sollt wissen, dass durch euch alle mein Leben lebenswert war. Auch wenn ich Tragödien und Schmerzen erfahren habe, hat mir jede von euch mehr Hoffnung und Glück geschenkt, als ihr es je ahnen könnt. Wenn das Lesen meiner Geschichte euch etwas gelehrt hat, dann, so hoffe ich, ist es der Rat, den ich euch euer Leben lang gab:

Carpe diem!

Lebt für den Moment!

Freut euch an jeder Sekunde des Lebens – selbst in den schwierigsten Momenten.

In Liebe,

Euer Pa (Salt)