LXIII

Star legte die letzte Seite auf den Tisch und sah sich in der Tischrunde um. Die meisten ihrer Schwestern weinten und wurden von ihren Lieben getröstet. Sie spürte Maus’ Hand auf ihrem Rücken.

»Ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll«, brachte Ally stammelnd hervor.

»Der Dreckskerl«, schimpfte Elektra. »Hat ihm Elle einfach weggenommen. Wegen nichts und wieder nichts.«

»Merry … ist alles in Ordnung?«, fragte Miles besorgt.

Sie schluckte schwer. »Ich glaube schon …« Ihr versagte die Stimme, und sie schluchzte auf. »O mein Gott, entschuldigt«, sagte sie und fächelte sich Luft zu.

»Ach, Mum …« Mary-Kate stand auf und umarmte sie.

»Es tut mir leid, Merry. Wie schrecklich zu hören, was deiner Mutter widerfahren ist«, meinte Tiggy.

»Und der arme Pa. Das alles am Ende seines Lebens zu erfahren …« Maia schluckte.

»Ich kann es einfach nicht fassen«, sagte Ally und schniefte, »dass ich so nah an ihm dran war. Wäre Theos Boot nur ein bisschen schneller gewesen.«

»Er hat uns beschützt, bis zuletzt«, stellte Star fest. »Er wollte sein Leben opfern, um unsere Sicherheit zu gewährleisten. Das sieht Pa so ähnlich.«

»Könnt ihr akzeptieren, weshalb er vorgeben musste, tot zu sein?«, fragte Georg in die Runde. »Er hatte panische Angst, dass Zed, wenn er herausfand, dass euer Vater zum Zeitpunkt von Kreegs Tod in dessen Nähe gewesen war, euch etwas antun würde.«

Die jungen Frauen nickten. »Wann ist er denn gestorben, Georg? Also wirklich gestorben?«, wollte Elektra wissen.

»Ja, wie bald nach seiner Ankunft auf Delos ist er … von uns gegangen?«, fragte CeCe mit belegter Stimme.

Georg zögerte. »Ich habe ihn das letzte Mal drei Tage später gesehen. Ich habe ihm beim Kauf des Hauses geholfen. Wie ihr vielleicht wisst, ist die Insel sehr klein und von großer mythologischer Bedeutung. Es gibt da nur eine Handvoll Häuser. Wir haben dem gegenwärtigen Besitzer das Vierfache des Werts geboten, daraufhin sind er und seine Ziegen mehr oder minder sofort auszogen.«

»Aber das ist keine Antwort auf meine Frage, Georg. Wann ist Pa gestorben?«, hakte Elektra nach.

Georg schüttelte den Kopf und sah flehentlich zu Ally. Ally schaute zu Marina, die aufstand.

Sie holte tief Luft. »Meine lieben Mädchen, jetzt müsst ihr tapfer sein. Euer Vater ist noch nicht tot.«

An Deck herrschte für einen Moment absolute Stille.

Tiggys Augen waren ganz groß geworden. »Ich hab’s doch gewusst …«

Elektra holte keuchend Luft. »Das kann doch nicht … Willst du damit sagen, dass Pa Salt noch am Leben ist? In diesem Moment?«

»Ja«, bestätigte Marina.

Die Meeresbrise wehte über den Tisch.

»Das hast du uns vorenthalten …«, wisperte Star. »Wie konntest du nur so grausam sein!«

»C hérie , ich …«

»Ist er noch auf Delos?«, fragte Maia.

Georg nickte. »Ja. Aber er ist sehr, sehr schwach.«

»Die Anrufe …«, flüsterte CeCe. »Hast du mit ihm telefoniert, Georg?«

»Nicht mit ihm persönlich. Claudia ist seit ein paar Wochen bei ihm. Deswegen war sie die ganze Zeit nicht in Atlantis. Sie hält mich regelmäßig auf dem Laufenden. Ihm schwinden zunehmend die Kräfte.«

»O mein Gott!«, rief CeCe.

»Jetzt ergibt das alles Sinn …«, sagte Star.

»Kein Mensch hätte vorhersehen können, dass er noch so lange leben würde«, erklärte Georg. »Wir sind davon ausgegangen, dass er nur ein paar Wochen auf Delos bleiben würde. Aber er hat die Vorhersagen der Ärzte lang überlebt.«

»Typisch Pa«, meinte Ally.

Georg fuhr fort: »Er lehnt jede medizinische Versorgung ab und will auch keine weiteren Untersuchungen.«

»Wie schafft er es nur, immer noch am Leben zu sein?«, fragte Elektra staunend.

Georg sah zu Marina, die lächelnd zu Merry blickte. »Ich glaube … nein, ich weiß, der Gedanke, die verschwundene Schwester zu finden, hat ihn am Leben erhalten.«

»Die Kraft des Glaubens.« Tiggy nickte verständnisvoll.

Star sah zu Ally. »Wie lange weißt du das alles schon?«

»Seit heute Nachmittag. Ich habe darauf bestanden, dass Georg es uns allen sagt und uns Pas letzte Seiten zu lesen gibt; die sollten wir eigentlich erst nach seinem Tod bekommen.«

Georg zitterten die Hände, als er einen Schluck Wasser trank. »Bitte glaubt mir, ich wollte euch so gern die Wahrheit sagen. Aber ihr wisst, was euer Vater für mich getan hat. Ich habe geschworen, ihm gegenüber absolut loyal zu sein.«

»Es gibt einen Unterschied zwischen Loyalität und Grausamkeit, Georg«, widersprach CeCe.

Der Anwalt nickte. »Im tiefsten Inneren wusste ich, dass ich euch die Wahrheit sagen sollte«, gestand er mit brüchiger Stimme. »Und wie viel es ihm bedeuten würde, euch vor seinem Ende alle noch einmal zu sehen.«

Daraufhin herrschte Schweigen.

»Warum zum Teufel fahren wir dann nicht?«, fragte Elektra schließlich. »Wenn er im Sterben liegt, dann haben wir keine Zeit zu verlieren! Holen wir Kapitän Hans. Ich bin nicht bereit, bis morgen zu warten, wenn die Möglichkeit besteht, ihn noch einmal zu sehen. Findet ihr anderen das auch?«

»Ja, absolut«, sagte Maia und erhob sich. »Wir haben die Wahl. Wir können wütend und verbittert sein. Das ist die einfache Möglichkeit. Oder wir akzeptieren, was passiert ist, und bewahren uns unsere Liebe. Wofür würde Pa sich entscheiden?«, fragte Maia. Sie streckte die Hand zu Tiggy aus, die sie ergriff und ihre andere Hand wiederum Ally reichte, bis sich alle sieben Schwestern im Kreis an den Händen hielten.

»Georg«, sagte Ally. »Du hast gehört, was Elektra gesagt hat. Geh Hans holen. Wir fahren zu Pa. Jetzt.«

Hastig ging Georg davon.

Alle am Tisch standen unter Schock. Insbesondere die Partner waren sprachlos. Nichts, was sie sagen könnten, würde zu den Schwestern vordringen, die gerade eine emotionale Achterbahnfahrt durchlebten.

Ally sprach schließlich als Erste. »Erinnert eine von euch sich, dass ich glaubte, ich hätte am Telefon Pas Stimme gehört, als ich in seinem Büro einen Anruf entgegennahm?«, fragte sie in die Runde. »Vielleicht stimmte es ja tatsächlich.«

Das brachte Elektra auf einen Gedanken. »Ma?«, sagte sie. »Als ich in Paris zufällig Christian begegnete, hat er da etwas für Pa erledigt?«

Marina nickte. »Ja, chérie . Er hat nach Manon Landowski gesucht – Pauls Enkeltochter.«

»Warum denn das?«

»Er wollte einfach der Familie, die ihm in jungen Jahren das Leben gerettet hat, ein letztes Mal vor seinem Tod danken. Damit ihre Güte in den nächsten Generationen nicht vergessen würde.«

»Hat Christian sie gefunden?«

Marina nickte. »Ja. Sie ist eine Singer-Songwriterin! Christian gab ihr den Brief, und sie erzählte ihm, dass ihr Vater – Marcel – oft freundlich von dem ›stummen Jungen‹ gesprochen hat.«

»Freundlich?«, rief Maia. »Tja, wer hätte das gedacht!«

Die Motoren der Titan dröhnten auf, und Georg kehrte zurück. »Hans schätzt, dass wir bei Sonnenaufgang in Delos sein werden. Ich rufe Claudia an und sage ihr, dass wir kommen.« Er zögerte. »Meine Lieben – machen wir wirklich das Richtige?«

Der Mann, der den Schwestern im vergangenen Jahr so unerschütterlich zur Seite gestanden hatte, sah jetzt zutiefst verunsichert aus.

»Doch, Georg, genau das Richtige«, bestätigte Star.

»Können wir vielleicht gleich am Telefon mit ihm sprechen? Für den Fall, dass etwas passiert?«, bat Ally.

Georg schüttelte traurig den Kopf. »Es würde ihm zu schwerfallen, am Telefon zu reden. Er hat so gut wie keine Kraft mehr. Um sein Herz zu schonen, wird es vermutlich das Beste sein, wenn Claudia ihm gar nicht sagt, dass wir morgen früh kommen.«

»O mein Gott. Was, wenn er die Nacht nicht überlebt?«, fragte Star.

»Das wird er aber, Star. Ganz bestimmt«, versprach Tiggy.