LXIV

Als sich die Titan Delos näherte, zeichnete sich die Insel im Schein der Morgendämmerung ab, die Sonne war noch nicht aufgegangen. Das Ufer war von Felsen übersät, hier und dort wuchs gelb-grünes Gras bis stellenweise zum Gipfel. Das alles sowie die vereinzelten griechischen Säulen schufen eine Stimmung antiker Pracht.

Es war undenkbar, die Benetti in den winzigen Hafen zu manövrieren, weshalb Hans in größtmöglicher Nähe zum Land vor Anker ging und ein Begleitboot bereitstellte, auf dem die Schwestern mitsamt Georg und Marina zur Insel übersetzen würden. Während Ally es zur Anlegestelle steuerte, sahen sie eine ihnen vertraute Gestalt. Claudia half den Bootsinsassen nacheinander beim Aussteigen und umarmte sie. Am längsten drückte sie ihren Bruder Georg an sich. Die sonst so reservierte Haushälterin brach an seiner Brust regelrecht zusammen.

»Meine Lieben«, schluchzte sie, »euer Vater ist ein wahrlich guter Mensch.«

»Bring uns zu ihm, Claudia«, bat Maia.

Die Haushälterin führte die Gruppe über den staubigen Weg vom Hafen zum Fuß eines grünen Hügels, wo der Pfad so schmal wurde, dass die Schwestern hintereinander her gehen mussten. Als sie sich der Anhöhe näherten, kam ein einsames weißgetünchtes Häuschen in Sicht. Der Ausblick von dort war so großartig, wie Pa geschrieben hatte, und erstreckte sich über die gesamte Insel und das umliegende Meer.

»Claudia, wie geht es ihm?«, fragte Ally.

»Nicht einmal er ist unverwüstlich. Vergangene Woche hatte er wieder einen leichten Herzinfarkt. Ich dachte, es wäre sein letzter Tag, und habe ihm erzählt, dass Merry endlich gefunden worden ist und ihr alle kommt, um einen Kranz ins Wasser zu werfen. Das hält ihn am Leben. Er hat sich doch immer schon geweigert aufzugeben … Aber jetzt …« Claudia drehte sich zu Merry und nahm ihre Hand. »Meine Liebe, vielleicht wäre es am besten, wenn die anderen ihn auf deine Ankunft vorbereiten. Er ist sehr schwach.«

Merry nickte. »Natürlich.«

»Ma, würdest du reingehen und ihm schonend mitteilen, dass wir alle hier sind?«, bat Maia.

»Ich habe so eine Ahnung, dass er das schon weiß«, flüsterte Tiggy.

»Natürlich, chérie «, sagte Marina mit einem traurigen Lächeln. »Ich gehe als Erste zu ihm.«

Claudia begleitete Marina durch die Eingangstür in das kühle, schattige Haus und einen Gang entlang zu einem rückwärtigen Schlafzimmer. »Bist du bereit?«, fragte Claudia. Marina nickte und öffnete die Tür.

Atlas lag in einem Doppelbett in einer Ecke des Raums und döste, ein halbes Dutzend Kissen im Rücken. Als Marina näher kam, öffnete er langsam die Augen und wandte sich ihr zu. Seine Haut war grau, die Augen eingesunken, aber sie besaßen immer noch denselben braunen Glanz wie eh und je.

»B onjour, chéri« , sagte sie leise und nahm seine schmale Hand. »Ich bin’s, Marina.«

Atlas lächelte. »Guten Morgen, Marina.« Sie umarmte ihn sacht, erneut ein wenig entsetzt darüber, wie schmal er geworden war. Dann zog sie einen Holzstuhl ans Bett und setzte sich zu ihm. »Marina … es … es tut mir so leid. So sehr leid. Alles«, flüsterte er.

»Schsch, chéri «, tröstete Marina ihn. »Es gibt nichts, was dir leidtun müsste.«

»Die Mädchen … ihnen geht’s gut?«

»Ihnen geht es sehr gut, Atlas.«

Die Auskunft beruhigte ihn. »Wissen sie, dass ich noch am Leben bin?«

»Ja, Atlas, das wissen sie. Sie stehen sogar draußen, um dich zu besuchen.«

Atlas riss die Augen auf. »Die Mädchen sind hier? Meinetwegen?«

»Ja. Und zwar alle.«

»Du meinst …?« Marina nickte. »Sie …« Atlas versagte die Stimme. »Sie ist hier? Meine erste Tochter?«

»Ja.«

Atlas rang um Fassung, sein Atem ging stoßweise. »Wissen sie, dass ich im Sterben liege?«

»Jetzt mach dich nicht lächerlich, chéri . Als könntest du je etwas so Normales tun wie sterben!«

»Marina«, sagte er und drückte ihre Hand etwas fester. »Es ist in Ordnung. Wissen sie Bescheid?«

Marina war den Tränen nahe. Atlas schützte seine Töchter bis zum Letzten. »Ja, sie möchten sich von dir verabschieden. Wie ich, mein Lieber.« Sanft streichelte sie ihm über den Kopf. »All das Schreckliche, das dir widerfahren ist.«

»All das Schreckliche, Marina?« Es gelang Atlas, den Kopf zu schütteln. »Nein. Nur all das Gute und Schlechte, das das Leben und die Menschen ausmacht, und das über neunzig Jahre hinweg.«

»Bevor die Mädchen hereinkommen, möchte ich dir dafür noch einmal danken, dass du mir ihre Erziehung anvertraut hast. Dass du mich engagiert hast, obwohl ich keine richtige Qualifikation hatte …«

»Meine liebe Marina«, sagte er lächelnd, »ich habe doch gesehen, wie du die Kinder damals in Paris umsorgt hast. Ich wusste, wie viel Liebe in dir steckt.«

»Ich habe auch einige furchtbare Dinge gemacht … Dinge, derer ich mich schäme.«

Er tätschelte ihr die Hand. »Wie ich meinen Töchtern immer wieder gesagt habe, man soll Menschen nie danach beurteilen, was sie tun, sondern nach dem, wer sie sind. Jetzt sag, ist Georg hier?« Ma nickte, und Atlas seufzte. »Fragst du dich nicht, warum er nie glaubte, dir seine Liebe gestehen zu können, wo es doch die ganzen Jahre lang so klar ist, was er für dich empfindet?«

Marina lachte leise auf. »Ich würde lügen, wenn ich Nein sagen würde. Aber es gibt so viele Dinge über mich, die er nicht weiß. Ich habe Angst, er könnte sich meinetwegen … schämen.«

»Ich bitte dich inständig, sprich mit ihm. Er und du, ihr müsst die Vergangenheit hinter euch lassen. Bitte, Marina, das Leben ist so kurz … versprich mir, dass du es versuchst.« Flehend sah er seine alte Freundin an.

»Gut, ich verspreche es dir.« Marina brauchte einen Moment, um sich zu fassen. »Fühlst du dich jetzt kräftig genug, deine Töchter zu sehen?«

Ein Lächeln zog über sein Gesicht. »Und wenn nicht, dann finde ich sie. Werden sie klarkommen?«

»Aber ja. Wir haben starke Frauen großgezogen.« Marina erhob sich, nahm noch einmal Atlas’ Hand und küsste sie. »Dann schicke ich sie zu dir rein.«

Atlas lehnte sich in den Kissen zurück und nahm alle Kraft zusammen, die er noch aufbringen konnte. Kurz schloss er die Augen und schickte ein Gebet gen Himmel.

»Danke, dass du sie zu mir geschickt hast.«

Dann öffnete sich seine Zimmertür erneut, und als er seine sechs Töchter nacheinander begrüßte, konnte er die Tränen nicht länger zurückhalten. Jede schloss er in die Arme und küsste sie sanft aufs Haar, genau wie in ihrer Kindheit. Auch wenn sie alle weinten, taten sie es aus Freude, nicht aus Schmerz. Ein letztes Mal führte das Universum sie alle zusammen.

Die Schwestern setzten sich rund um Pas Bett, und er war unverkennbar überglücklich, im Kreis der Menschen zu sein, die er über alles auf der Welt liebte.

»Meine tapferen, großartigen, wunderschönen Töchter. Eure Sicherheit war das Einzige, was für mich zählte.«

»Das wissen wir doch, Pa, das wissen wir doch«, tröstete Star ihn.

»Wir … wir freuen uns einfach so, dich noch mal zu sehen«, sagte Ally unter Tränen.

Atlas blickte zur Decke. »Es ist eine lange Geschichte. Ich habe nicht erwartet, noch zu leben …« Er sah wieder zu den Schwestern. »Aber ich habe alles aufgeschrieben und Georg gegeben. Ihr sollt alle die Wahrheit erfahren.«

»Wir kennen sie schon, Pa«, gestand Elektra leise. »Georg hat uns die Seiten gegeben, bevor wir hierhergekommen sind.«

»Ach ja?« Atlas runzelte die Stirn. »Bitte erinnert mich daran, dass ich ihn feuere.« Die jungen Frauen lachten trotz ihrer Tränen. »Wo ist er überhaupt?«, fragte Atlas dann keuchend.

»Draußen«, antwortete CeCe. »Soll ich ihn holen?«

Atlas lächelte. »Ja, bitte, CeCe.«

Maia beugte sich zu ihrem Vater vor. »Pa, durch deinen ›Tod‹ sind wir alle reifer geworden und haben uns selbst gefunden. Wir sind jetzt erwachsene Frauen – genau, was du dir immer gewünscht hast.«

Atlas nickte fast unmerklich. »Ich bin so stolz auf euch. Georg hat mir erzählt, dass ihr alle eure leiblichen Familien gefunden habt.«

»Ja«, bestätigte Maia sanft. »Aber wichtiger noch, wir haben auch alle unsere Zukunft gefunden. Und das Glück.«

»Und das«, brachte Atlas wispernd hervor, »ist das schönste Geschenk, das ich euch je machen konnte.«

»Eine Frage noch, Pa«, sagte Ally. »Im Lauf des letzten Jahres haben wir alle geglaubt, dich hier oder da gehört oder gesehen zu haben.«

»Oder dich sogar gerochen«, warf Elektra ein.

»Bist du je noch mal nach Atlantis gekommen?«, fragte Ally.

»Oder warst du in Bergen?«, wollte Star wissen. »Ich glaubte, dich bei Allys Konzert zu sehen.«

Ihr Vater lächelte. »Leider nicht. Obwohl ich eure Schritte immer verfolgt habe. Man könnte sagen, dass ich im Geiste bei euch war, und das werde ich auch in Zukunft sein … Schaut einfach zu den Sieben Schwestern der Plejaden, und da bin auch ich, Atlas – euer Vater, der euch behütet.«

»Für uns wirst du immer Pa Salt sein«, schluchzte Tiggy.

Er lächelte. »Natürlich. Rieche ich immer noch nach dem Meer, kleine Maia?«

Da mussten die jungen Frauen wieder lächeln. Er war stark, ihretwegen.

Es klopfte leise an der Tür, und Georg Hoffman trat herein. »Guten Morgen, Atlas«, begrüßte er seinen Vertrauten und Freund.

»Jetzt begrüßen wir uns noch einmal, Georg. Schön, dass du gekommen bist, um dich ein drittes Mal von mir zu verabschieden.« Er zwinkerte Georg leicht zu. »Meine Lieben, wenn ihr vielleicht ein bisschen Platz machen könntet?« Maia und Ally rückten zur Seite, damit Georg ans Bett treten konnte. Er griff nach Atlas’ Hand, wurde aber zu einer Umarmung herangezogen. Die Schwestern sahen, dass ihr Vater Georg etwas ins Ohr flüsterte, der heftig nickte, ehe er sich wieder aufrichtete. »Danke, mein Freund, dass du sie alle zu mir gebracht hast. Das ist das schönste Geschenk überhaupt.«

»Apropos Geschenk«, sagte Georg. »Ally? Bär ist jetzt hier.«

»Pa … möchtest du deinen Enkelsohn kennenlernen?«

»Deinen Sohn, Ally? Er ist hier auf Delos?«

Sie nickte. »Kapitän Hans hat ihn gerade von der Titan übergesetzt.«

Atlas rang erneut mit den Tränen. »Ja, bitte, bring ihn her …«

Ally verschwand und kehrte kurz darauf mit ihrem Sohn auf dem Arm zurück. »Pa, das ist Bär. Bär, begrüß deinen Großvater.«

»Guten Morgen, Kleiner. Darf ich ihn im Arm halten?« Ally zögerte einen Moment. »Bitte. Ich habe keine Einzige von euch fallen lassen und habe nicht vor, jetzt damit anzufangen!« Lächelnd legte Ally ihren Sohn in die Arme ihres Vaters. »Bär – ein wunderschöner Name. Du meine Güte, Ally.« Er blickte zu ihr auf. »Er sieht dir so ähnlich.«

Atlas sprach liebevoll murmelnd auf Bär ein, und die Schwestern verfolgten, wie die Anwesenheit des Kleinen ihrem Vater einen Schub neuer Lebensenergie verlieh – als beziehe er Kraft aus dem jungen Leben, das er in den Armen hielt und das die Zukunft bedeutete. Nun konnte sich Atlas auch bei seinen Töchtern nach ihren Gefährten erkundigen, von denen Georg ihm so viel erzählt hatte, und aus ihrem eigenen Mund die Geschichte der Familien erfahren, die er vor langer Zeit kennengelernt hatte.

In einem Moment der Stille blickte Maia reihum zu ihren Schwestern, alle hatten das Gefühl, dass der richtige Zeitpunkt gekommen war.

»Pa«, sagte Maia. »Es gibt noch jemanden, die dich sehen möchte. Sie wartet draußen.«

Atlas’ Atem beschleunigte sich. Tiggy nahm seine Hand. »Hab keine Angst, Pa. Das ist die Belohnung des Universums für dich.« Nacheinander standen die jungen Frauen auf, und als sie den Raum verließen, warf er jeder von ihnen eine Kusshand zu.

Dann ging sehr langsam erneut die Tür auf, und Merry trat herein.

»Hallo, Pa«, sagte sie lächelnd. Sie trat zu ihm ans Bett und küsste ihn sacht auf die Stirn.

Atlas hatte die Augen weit aufgerissen. »Elle …«, flüsterte er.

Merry schüttelte den Kopf. »Nein, die bin ich leider nicht. Ich bin Mary, meine Familie in Irland gab mir den Namen, aber alle nannten mich ›Merry‹, weil ich so ein fröhliches Kind war. Und deine Töchter sagen, dass du mich ›Merope‹ nennen würdest, wenn du mich früher gefunden hättest.«

»Merope … Merry.« Ein Strahlen ging über sein Gesicht, und er sah seine Tochter verwundert an. »Bist du es wirklich?«

»Ja, ich bin deine leibliche Tochter.«

Vor Rührung brachte Atlas kein Wort hervor. Er streckte eine Hand aus, und Merry nahm sie und drückte sie fest. Bald weinte auch sie. Eine Weile saßen Vater und Tochter schweigend da und betrachteten einander zum ersten Mal.

»Du bist deiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten«, sagte Atlas schließlich. »Merry, sie war so wunderschön. Schau, da ist sie.« Er deutete auf die Kohlezeichnung aus Atlantis, die jetzt seinem Bett gegenüber an der Wand hing.

»Georg hat mir die Kopie gezeigt«, erklärte Merry. »Die anderen haben gesagt, dass sie mich auf den ersten Blick erkannt haben.« Sie deutete mit dem Kopf zu der Zeichnung. »Alle haben sich gefragt, wohin das Original verschwunden ist.«

»Ich habe Claudia gebeten, es mitzubringen. Das ist das Einzige, was ich noch von ihr habe. Ich …« Überwältigt von Gefühlen betrachtete Atlas seine Tochter. »Und jetzt bist du hier – ein Teil von ihr ist bei mir. Es ist ein Wunder. Vergib mir, mein Liebling, dass ich nicht da sein konnte, um dich zu beschützen. Ich habe jahrzehntelang nach dir gesucht, kreuz und quer durch die Welt bin ich gereist. Ich hätte nie erwartet, dass du in Irland sein würdest. Ich …«

»Es ist alles gut, Pa. Jetzt ist alles gut. Aber erzähl mir von ihr, von Elle. Erzähl mir von meiner Mutter.«

Atlas lächelte. »Das wäre mir eine Ehre.«

Er hielt Merrys Hand und teilte all seine Erinnerungen an seine große Liebe mit ihr. Seine Tochter sah das Licht in seinen Augen tanzen, während er von Elle erzählte und von allem, was sie ihm bedeutete. Eine ganze Weile später wurde Atlas müde, und Merry beobachtete, wie er eindämmerte, doch er hielt immer noch ihre Hand umfasst. Sehr langsam löste sich sein Griff, und Merry hatte den Eindruck, als würde ihr Vater forttreiben. Rasch stand sie auf und holte die anderen Schwestern, damit sie sich verabschiedeten.

Jede von ihnen gab ihrem Vater einen Kuss, dann saßen sie im Kreis um sein Bett und hielten sich weinend an den Händen.

Als ein Sonnenstrahl auf Atlas’ Gesicht fiel, schlug er die Augen auf und lächelte, seine Züge verströmten Wärme und Liebe.

»Ich sehe sie«, sagte er. »Sie wartet auf mich. Elle wartet auf mich …«

Und dann, nach einem Leben von ebenso viel Schmerz wie unbeschreiblicher Freude und Güte, schloss Atlas Tanit für immer die Augen.