3 Jahre zuvor
Kaaya
Mit wild pochendem Herzen musterte Kaaya die gut besuchte Straße aus ihrem Versteck heraus. Der Händler des Gewürzstandes sah immer wieder zu ihr herüber, doch er würde keinen Alarm schlagen, solange sie sich nicht an seinen Waren vergriff. Wie gut, dass das auch gar nicht ihr Plan war. Der sonnige Tag hatte heute genügend andere Menschen auf den größten Marktplatz Silbersturms gelockt. Routiniert ließ sie ihren Blick weiter über die vielen Besucher schweifen und entdeckte endlich ein paar wohlhabende Kaufleute.
Einer davon schlenderte gerade an dem Stand entlang, hinter dem sie hockte, und sie duckte sich noch etwas tiefer. Die langen, weiten Roben, die der alte Mann trug, waren aus Seide gefertigt und das Hemd, das darunter hervorlugte, aus feinstem Leinen. Sie brauchte nicht weiter nachzudenken, um eine Entscheidung zu fällen: Er würde ihr nächstes Opfer sein.
Nachdem der Kaufmann weitergegangen war, richtete Kaaya sich auf und lief unauffällig in seine Richtung. Wie immer ignorierte sie das aufkeimende schlechte Gewissen und das nervöse Kribbeln in ihren Adern. Wenn das hier fehlschlug, würde sie heute Abend erneut mit knurrendem Magen einschlafen müssen.
»Oh!«, rief sie, als sie sich scheinbar unbeabsichtigt fallen ließ. Sie unterdrückte ein erleichtertes Aufatmen, als der Mann sie wie geplant auffing. »Bitte verzeiht!«
»Ist ja gerade noch gut gegangen.« Er richtete seinen Hut, nachdem er sie losgelassen hatte. »Alles in Ordnung bei dir?«
»Ja, m-mir geht es gut.«
Der Mann schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, neigte den Kopf zum Abschied und setzte seinen Weg fort.
»Danke!«, rief Kaaya ihm hinterher, ehe auch sie schnellen Schrittes weiterlief. Zielsicher schritt sie über den Marktplatz, auf dem sich noch immer viel zu viele Menschen umtrieben. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte sie das Hafenviertel und bog in eine schmale, dunkle Gasse.
Die Luft hier war feucht und ein salziger Dunst legte sich auf ihre Haut. Einen erleichterten Seufzer ausstoßend senkte sie die Lider und nahm einen tiefen Atemzug. Der immerwährende Geruch nach Fisch und Algen stieg ihr in die Nase. Der Geruch von Zuhause. Sie öffnete ihre Augen und schüttelte den Kopf. Silbersturm war nicht ihr Zuhause.
Mit zitternden Fingern klemmte sie sich eine ihrer goldbraunen Haarsträhnen, die ihr nass auf der Stirn klebte, hinters Ohr und konzentrierte sich wieder auf das Hier und Jetzt. Sie wollte gerade nach ihrem kleinen Lederbeutel greifen, den sie an ihrem Gürtel befestigt hatte, als der Klang einer tiefen Stimme sie hochschrecken ließ.
»Nette Darbietung!«
Kaayas Herz setzte einen Schlag aus, um dann mit doppelter Geschwindigkeit weiterzuschlagen. Sie wirbelte herum und sah sich einem Jungen gegenüber, der nicht viel älter zu sein schien als sie selbst.
Mit einem schiefen Grinsen musterte er sie, bevor er mit einer knappen Kopfbewegung auf den Lederbeutel deutete. »Wie viel hast du erbeutet?«
Misstrauisch beäugte Kaaya ihn und machte einen vorsichtigen Schritt nach hinten. »Bist du mir gefolgt?«
Der Junge hob abwehrend die Hände. »Du musst nicht weglaufen. Und da kommst du ohnehin nicht rüber«, fügte er hinzu und deutete hinter sie.
In dem Moment spürte sie den Zaun in ihrem Rücken.
»Ich will nicht weglaufen.« Sie bückte sich, um mit einer raschen Bewegung hinter eine der Abfalltonnen zu greifen, die sich in der Gasse drängten. Als sie ihm ihr Schwert unter die Nase hielt, weiteten sich seine Augen für einen kurzen Moment, dann sah er sie wieder belustigt an.
»Was willst du von mir?« Sie funkelte ihn an.
Nun war er derjenige, der einen Schritt zurückwich, die Hände noch immer in der Luft. Ihr Blick glitt unweigerlich über das zerknitterte weiße Hemd, das er trug. Er hatte es falsch geknöpft, außerdem war das Kleidungsstück viel zu groß – oder er viel zu schmal. Vermutlich hatte er nicht viel Geld bei sich.
»Ich habe nur gesehen, wie du den Mann bestohlen hast.«
Sie reckte ihm die Schwertspitze weiter entgegen. »Und?«
»Das war beeindruckend.«
»Was?«
»Ich habe schon viele Diebe kennengelernt. Männer, die ihre ehrliche Arbeit verloren haben und stehlen müssen, um die Kinder zu ernähren, die zu Hause mit knurrenden Mägen auf sie warten. Männer, die zu schwach sind, um sich ihr Brot mit harter körperlicher Arbeit zu verdienen.« Er senkte die Hände und sah ihr fest in die Augen. »Jungen, die zu Hause aushelfen müssen, damit die kranke Mutter nicht allzu bald dem geliebten Vater unter die kalte Erde folgt. Aber ein kleines Mädchen?« Nun trat er einen Schritt auf sie zu, wobei ihm eine pechschwarze Haarsträhne in die Stirn fiel. »Was machst du auf der Straße?« In seinem Gesicht stand keine Spur mehr von Belustigung.
»Ich bin kein kleines Mädchen.« Sie hielt seinem Blick stand, dann senkte sie das Schwert. Er würde ihr nicht gefährlich werden. »Und was machst du auf der Straße?«
»Ich bin Arian«, sagte er nur und reichte ihr die Hand.
Skeptisch betrachtete sie diese, bevor sie nach ihr griff. »Kaaya.«
Seine Augen blitzten für den Bruchteil einer Sekunde auf und erst jetzt bemerkte sie ihre ungewöhnliche Farbe. Sie waren von einem hellen Grau, das fast schon an flüssiges Silber erinnerte.
»War schön, dich kennenzulernen, Kaaya.« Wieder setzte er sein schiefes Grinsen auf und deutete hinter sich. »Ich muss weiter zur Arbeit.«
»Bist du ein Hafenarbeiter?« Die Worte hatten ihre Lippen verlassen, bevor sie sie aufhalten konnte. Wieso sollte es sie interessieren, wo er arbeitete?
»Nein, ich helfe bei einem Obsthändler aus. Gleich dort drüben auf dem Marktplatz.«
Sie zuckte betont gelassen mit den Schultern. »Dann … leb wohl.«
Arian lächelte sie ein letztes Mal an, bevor er sich umdrehte und in Richtung Marktplatz verschwand.
___
Allmählich zog sich die Sonne zurück und es wurde dunkler über den Dächern der Hauptstadt. Kaaya hatte sich nach einem weiteren Ausflug zum Marktplatz wieder in ihre Gasse zurückgezogen und holte die Decke hervor, die sie gemeinsam mit ihren anderen Habseligkeiten hinter der Abfalltonne versteckt hatte, um sie sich um die Schultern zu legen. Von den Kupfermünzen des Kaufmanns hatte sie sich ein Stück Brot kaufen wollen, doch der Bäcker hatte sie fortgejagt. Vermutlich hatte sie ihn einmal zu oft bestohlen.
Zitternd und mit leerem Magen saß sie in der Gasse und hoffte, dass der Schlaf bald kommen würde, um sie zumindest für einige Stunden von ihrem Elend zu erlösen. Ihr Blick wanderte die Gasse entlang zur gegenüberliegenden Anlegestelle der Schiffe, und plötzlich musste sie an den Jungen denken, der sie verfolgt hatte. Arian. Seine Kleidung war abgenutzt gewesen, doch seine Hände hatten sauber gewirkt. Da war kein Dreck unter seinen Fingernägeln gewesen wie bei ihr. Vermutlich gehörten seine Eltern dem Mittelstand an, vielleicht waren sie Bedienstete eines Adligen. Unwillkürlich schweiften Kaayas Gedanken zu ihrer eigenen Familie und ließen sie zusammenzucken. Es war jetzt vier Jahre her, dass sie ihren Vater das letzte Mal gesehen hatte. Damals war sie noch ein Kind gewesen, gerade elf Jahre alt.
Seufzend ließ sie die Stirn auf ihre Knie sinken, die sie fest an ihren Körper gezogen und mit dem linken Arm umschlungen hatte. Mit ihrer rechten Hand umklammerte sie wie jede Nacht den Griff ihres Schwerts, um gewappnet zu sein, wenn sich ihr jemand näherte. Und dass das auch dringend nötig war, bestätigte sich, als sie eine Berührung an ihrer Schulter spürte. Verschlafen riss sie den Kopf hoch und bemerkte einen Schatten über sich. Blitzartig griff sie nach dem Handgelenk ihres Angreifers, richtete sich auf und drehte ihm seinen Arm auf den Rücken, während sie ihm ihr Schwert von hinten an die Kehle hielt.
»Au, verdammt!«
Schwer atmend verengte sie die Augen. »Du schon wieder!« Sie lockerte ihren Griff und gab Arians Arm frei. Erst jetzt fiel ihr auf, dass der Himmel inzwischen pechschwarz war. Nur der Mond, der riesig über ihren Köpfen prangte, warf sein Licht in die Gasse.
»Ich wollte dich nicht erschrecken«, murmelte er, während er sich das Handgelenk rieb und sich zu ihr umdrehte.
»Dann solltest du dich vielleicht nicht anschleichen, während ich schlafe.«
»Tut mir leid.« Arian zuckte mit den Schultern. »Du hast schlecht geträumt.«
Sie hob die Augenbrauen. Wovon sprach er da? »Ich träume nie.«
»Das sah aber anders aus. Du hast sogar im Schlaf gesprochen.«
»Was habe ich gesagt?«
»Du hast … dich entschuldigt.«
Kaaya lachte, um ihre Unsicherheit zu überspielen, aber als die nächsten Worte über seine Lippen kamen, hielt sie inne.
»Willst du mit zu mir kommen?«
Ihre Kinnlade klappte herunter. »Ich bin doch keine Prostituierte!«
»Das meinte ich nicht!«, erklärte er hastig, während sich eine leichte Röte auf seine Wangen schlich. »Ich dachte nur, wegen deiner Knie.«
Irritiert folgte Kaaya seinem Blick und sah an sich hinunter. Ja, ihre Hose war an einigen Stellen zerschlissen, aber was machte das schon? »Das ist nichts«, murmelte sie achselzuckend. Als sie wieder zu ihm hochschaute, knurrte ihr Magen.
»Ich habe auch etwas zu Essen dabei.« Arian bückte sich und hob einen Korb auf, in dem sich verschiedenste Sorten Obst und Gemüse befanden. Er musste ihn fallen gelassen haben, als sie ihn angegriffen hatte. Trotz schlechtem Gewissen spürte Kaaya, wie ihr das Wasser im Mund zusammenlief. »Manchmal darf ich nach der Arbeit etwas von den übrig gebliebenen Waren mitnehmen.«
»Hast du bis jetzt noch gearbeitet?«
Arian nickte. »Wir hatten viel zu tun.«
»Wie spät ist es überhaupt?«
»Bald Mitternacht.«
Sie weitete überrascht die Augen. Wenn Arian ihr etwas zu essen gab, müsste sie sich morgen früh nicht schon wieder mit dem Bäcker streiten. »Nehmen wir an, ich komme mit dir. Was erwartest du im Gegenzug?«
Als Arian leise auflachte, bemerkte sie ein eigenartiges Kribbeln in ihrem Bauch. »Ich erwarte gar nichts«, sagte er und Wärme trat in seinen Blick.
»Und du bist auch kein Meuchelmörder oder so was?«
»Ich bin sicher, du würdest mir die Eingeweide aus dem Körper schneiden, bevor ich nur eine falsche Bewegung machen könnte.« Er deutete auf Stahlschwinge, ihr Schwert. »Woher hast du es?«
Arian hätte nicht ahnen können, wie sehr die Frage sie treffen würde. Sie hatte ja selbst nicht gewusst, wie tief der Schmerz noch saß.
Als sie nicht antwortete, setzte er erneut zum Sprechen an. »Du bist eine Diebin, du hast es sicher –«
»Ich habe es nicht gestohlen«, unterbrach sie ihn entschieden. »Es war ein Geschenk.«
Arians amüsierter Gesichtsausdruck wich einem zerknirschten und er erwiderte nichts weiter. Kaaya musterte ihn neugierig, während er verlegen den Blick gesenkt hatte. Sie konnte es sich nicht erklären, aber er hatte irgendetwas an sich, das ihr sagte, dass sie ihm vertrauen konnte. Und was hatte sie schon zu verlieren? Zur Not wusste sie, wie sie sich verteidigen konnte.
»Dann lass uns gehen.«
Er sah überrascht hoch. »Sicher?«
»Sicher.«
Schnell sammelte Kaaya ihre Habseligkeiten zusammen und folgte Arian bis tief in den dunklen Erlenwald, der sich um Silbersturm herum erstreckte. Sie mussten mindestens vier Kilometer gelaufen sein, als sie in der Ferne eine kleine Holzhütte am See ausmachen konnte.
»Da wohnst du?«, fragte sie. Ihr Herz machte einen Satz, als er zu ihr runterblickte. Er war mindestens einen Kopf größer als sie.
»Ja.«
»Es gibt nicht viele Menschen, die … Nun ja, im Wald leben.«
Arian lächelte. »Das Haus gehörte meiner Tante. Sie ist eine Elfe.«
Kaaya wäre beinahe über ihre eigenen Füße gestolpert, so sehr überraschte sie Arians Aussage. Nachdem die Elfen vor fast eintausend Jahren nach Eseria gekommen waren, war es nicht unüblich, ab und an auf sie zu treffen, obwohl sie lieber in ihren eigenen kleinen Siedlungen lebten, die sie sich hier in den Wäldern aufgebaut hatten. Manchmal zogen sie durch die Städte und veranstalteten Feste. Sie waren inzwischen ein Teil von Eseria und doch kannte Kaaya keinen Elfen persönlich. Und wenn sie Arians Ohren betrachtete, so war auch er kein Elf – zumindest kein reinblütiger.
»Ich weiß, was du jetzt denkst«, sagte er, noch immer lächelnd. »Ich bin ein Halbelf. Oder Menschelf, falls du den Begriff bevorzugst.«
»Nein!«, gab sie rasch zurück. Menschelf klang so herabwürdigend, und sie hatte nichts gegen Verbindungen zwischen Menschen und Elfen, obwohl es diese nicht oft gab. »Und du lebst nun allein hier?«, warf sie ein, weil sie nicht wusste, ob er das Thema weiter ausführen wollte.
Arian nickte und schritt auf das Haus zu, das sie inzwischen erreicht hatten. Ein angenehm kühler Wind wehte Kaaya entgegen, als er die kleine Zauntür, die sein Zuhause einrahmte, mit einem Quietschen nach innen stieß. Neugierig folgte sie ihm in den Garten und ließ ihren Blick über die Holzhütte wandern, die von schmalen Baumstämmen zusammengehalten wurde. Äste rankten sich an ihnen hinauf und umschlossen ein moosbewachsenes Dach. Die ganze Konstruktion schien ein Teil des Waldes zu sein, ein Stück Natur, weit abgelegen vom Lärm der Hafenstadt, auf deren dreckigen Straßen sie die letzten Jahre verbracht hatte.
Ungläubig strich sie mit ihren Fingern über das raue Holz der Tür, dann drehte sie sich zu Arian. Er nickte ihr zu, als Bestätigung, dass sie eintreten durfte. Sie senkte den Blick, wandte sich wieder der Tür zu und drückte die Klinke hinunter.
Ein wohliges Gefühl empfing Kaaya, als sie über die Schwelle ins Haus trat, Arian dicht hinter ihr. Die Wärme musste ihren Ursprung in dem kleinen Kamin haben, der sich in der Wand gegenüber befand. Neben ihm stand ein riesiges, dunkles Sofa, das über und über mit bunten Kissen bestückt war. Bei dem Anblick entwich ihr ein überraschtes Keuchen. Sie trat einige Schritte weiter in das Zimmer hinein, ihr Blick huschte über den runden Esstisch, die Stühle, den Teppich unter ihren Füßen und fand schließlich den Vorratsschrank in der Ecke neben einem kleinen Ofen.
»Wie lange hast du auf der Straße gelebt?« Arians Stimme klang rau. »Was ist mit deinem Zuhause?«
Hin- und hergerissen, ob sie ihm die Wahrheit erzählen sollte oder nicht, hüllte Kaaya sich in Schweigen. Als sie sich schließlich zu ihm umdrehte, stellte Arian gerade den Obstkorb auf den Tisch, bevor er auf den Schrank zuging und seine Türen mit einem leisen Knarren öffnete.
»Ich habe auch ein wenig Brot da. Irgendwo muss außerdem ein Stück Käse sein. Obst allein wird uns nicht satt machen.« Er kramte in dem Schrank. »Wenn du möchtest, kannst du in den Waschraum gehen.«
Kaaya nickte nur, obwohl er ihr noch immer den Rücken zugewandt hatte. Sie sah sich ein weiteres Mal in dem behaglichen Raum um und musste erst den Kloß in ihrem Hals hinunterschlucken, bevor sie etwas sagen konnte. Wann hatte sie zuletzt die Wärme eines Zuhauses gespürt?
»Ich habe kein Zuhause.« Arian drehte sich langsam zu ihr um. Verlegen schaute sie auf den Boden. »Mein Vater hat mich rausgeworfen, nachdem meine Mutter und mein Bruder gestorben sind.«
Als Arian nicht reagierte, hob sie doch wieder den Kopf, nur um seinem durchdringenden Blick zu begegnen.
»Das tut mir leid.« Es klang aufrichtig.
»Ich erinnere mich nicht mehr an sie«, sagte sie nach einer Pause. Arian runzelte die Stirn, erwiderte jedoch nichts. »Ich bin gemeinsam mit ihnen an der Seuche erkrankt. Nur bin ich nicht daran gestorben. Aber ich habe mein Gedächtnis verloren.« Seine Augen weiteten sich. Sie hatte diese Worte bisher nie laut ausgesprochen und jetzt vertraute sie ihr dunkelstes Geheimnis einem Fremden an. Die Blutseuche, die Eseria damals fest im Griff gehabt hatte, hatte Tausenden von Menschen das Leben gekostet. Ein bitteres Lächeln trat auf ihre Lippen. »Ist schon in Ordnung. Ich habe mich inzwischen daran gewöhnt.« Eine Lüge. Sie räusperte sich. »Wo ist der Waschraum?«
»Direkt hinter dir.« Das Lächeln in Arians Gesicht wirkte gequält. »Lass dir ruhig Zeit.«
Kaaya nickte, dankbar, dass er das Thema nicht vertiefte. Sie ging in den angrenzenden kleinen Raum und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht, während sie dem Klappern von Geschirr lauschte. Nachdem sie sich auch die Hände gewaschen hatte, setzten sie sich gemeinsam an den Tisch. Den Käse hatte Arian anscheinend nicht finden können, aber das störte sie kein bisschen. Während sie sich über ein paar Rosinen oder eine Handvoll Nüsse gefreut hätte, befanden sich allerlei Sorten Obst auf dem Tisch und ein ganzer Laib Brot.
»Ich muss morgen bei der Ernte helfen«, sagte er zwischen zwei Bissen. »Ich könnte dich danach … abholen?«
Kaaya trank ihren letzten Schluck Tee. »Und dann kommen wir wieder hierher?«
»Ja. Also, nur, wenn du das möchtest.«
Ein vorsichtiges Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. »Das klingt gut.«
»Ich begleite dich noch zurück zu deinem Schlafplatz.« Er wollte sich gerade erheben, da griff sie nach seiner Hand. »Bitte nicht. Du hast dir meinetwegen bereits genug Umstände gemacht.«
Arian starrte auf ihre Hand, die noch immer auf seiner lag. »Das habe ich gern gemacht. Und es ist stockdunkel, das ist –«
»Gefährlich?« Sie hob einen Mundwinkel an. »Das weiß ich zu schätzen, Arian, ehrlich.« Und das tat sie wirklich. Aber sie hatte die letzten vier Jahre nachts auf den Straßen verbracht und wusste sich zu verteidigen.
»Hast du denn keine Angst?«, fragte er leise.
»Mir sind schon viele schlimme Dinge passiert. Und ich habe sie alle überlebt. Danke für heute«, fügte sie hinzu, als Arian nicht reagierte.
Nun hob er seinen Blick und hielt ihren fest. »Dann bis morgen, Kaaya. Pass auf dich auf.«
Den ganzen Weg zurück musste sie an Arian denken. Konnte es wirklich sein, dass er einfach nur nett zu ihr war?
Hast du denn keine Angst?
Natürlich hatte sie Angst. Das war das einzige Gefühl, das ihr geblieben war. Zumindest bis zu diesem Moment. Denn nun war da noch etwas anderes, ein Funken Hoffnung, der auch am nächsten Tag entflammte, als Arian sein Wort hielt und wieder in ihrer Gasse auftauchte. Er trug erneut einen Korb in den Armen und hielt ihn ihr hin, damit sie hineinschauen konnte.
Augenblicklich hellte sich ihre Miene auf und begeistert griff sie in den Korb. »Mareenabeeren!«
Gerade wollte sie eine der purpurfarbenen Beeren an ihren Mund führen, da griff Arian sachte nach ihrem Handgelenk. »Wir sollten sie erst waschen«, lachte er. »Prior hat sie mir geschenkt, da sie bis morgen früh sicher säuern. Zu Hause kannst du das Grünzeug abrupfen und dann bereiten wir uns ein Festmahl zu.«
Zu Hause.
Kaaya lächelte breit.