In der zweiten Oktoberwoche des Jahres 1958 besuchte Moritz zum ersten Mal eine Lehrveranstaltung an der Universität, es war keine Vorlesung, sondern ein Seminar in Theaterwissenschaft. Etwa zwanzig Studentinnen und Studenten saßen in dem kleinen Raum. Schließlich trat ein junger Mann ein, er stellte sich als Assistent des Professors vor. Das Thema in diesem Semester, sagte er, lautet: Szenenanmerkungen in Theaterstücken. In einem Drama, fuhr er fort, wird nicht nur gesprochen. Die Szenen finden an bestimmten Orten statt, die Schauspieler bewegen sich auf der Bühne. Die Dramatiker notieren das in Szenenanmerkungen, manche wollen alles genau festlegen, andere begnügen sich mit wenigen Worten. Wir werden das im Seminar anhand verschiedener Beispiele diskutieren.
Außerdem, sagte der Assistent, wird jede und jeder von Ihnen eine Arbeit schreiben über Szenenanmerkungen eines Stückes Ihrer Wahl. Die Arbeit wird von Ihnen vorgelesen, was nicht länger als fünfzehn Minuten dauern soll, dann diskutieren wir darüber. In der nächsten Stunde ersuche ich Sie, mir mitzuteilen, für welches Stück Sie sich entschieden haben. Moritz hob die Hand. Bitte, Herr Kollege, sagte der Assistent. Ich nehme das »Endspiel« von Beckett, erwiderte Moritz. Der Assistent lachte. Endlich habe ich einen Grund, dieses Stück zu lesen.
Nach dem Seminar wandte sich ein Kollege an Moritz. Falls Sie das interessiert, sagte er, ich habe einen Essay von Adorno gelesen, der heißt: »Versuch, das Endspiel zu verstehen«. Moritz notierte den Namen des Autors und den Titel des Essays in seinem Schreibheft. Das Buch heißt »Noten zur Literatur«, ergänzte der Kollege. Auch das schrieb Moritz in sein Heft. In der nächsten Buchhandlung kaufte er das Buch, am Abend las er darin. Den Essay über das »Endspiel« fand er klug, vor allem sehr gut geschrieben. Ein brillanter Autor, dachte er. Was ihn störte, war dessen Enthusiasmus. Genauso enthusiastisch, erinnerte er sich, war ich nach der ersten Lektüre. Dann aber haben die Bemerkungen des Esels mich skeptisch werden lassen.
Viel interessanter fand Moritz Adornos Essay über Karl Kraus. Karl Kraus – diesen Namen hatte Moritz noch nie gehört. Am nächsten Tag ging er in die Buchhandlung, in der er am Tag zuvor gewesen war. Der Buchhändlerin, einer älteren, freundlichen Frau, die sich an ihn erinnern konnte, erzählte er, dass er in dem Buch, das er am Vortag gekauft hatte, auf einen interessanten Essay über Karl Kraus gestoßen war, und fragte sie, ob es Werke von diesem Autor gebe. Die Buchhändlerin bat Moritz an einen kleinen Tisch, ersuchte ihn, auf einem Hocker Platz zu nehmen und machte für beide Kaffee. Kunden, die ins Geschäft kamen, wurden von zwei jungen Mitarbeiterinnen betreut.
Die ältere Dame fragte ihn, was er in Wien treibe. Er berichtete, dass er aus der Obersteiermark stammte, nun in Wien studieren würde und von einem Studienkollegen den Tipp bekommen hatte, die »Noten zur Literatur« zu lesen. Die ältere Dame erzählte, wer Karl Kraus gewesen war, welche Rolle er in Wien und welche seine Zeitschrift »Die Fackel« weit über Österreich hinaus gespielt hatte. Gestorben ist er, sagte sie, 1936, so ist ihm erspart geblieben, den Einmarsch Hitlers zu erleben. 1936!, rief Moritz, hätte er länger gelebt, hätte ich ihn kennenlernen können. Die ältere Dame erwiderte: Wäre ich früher gestorben, wäre ich Napoleon begegnet. Moritz schaute sie verdutzt an.
Sie holte einige Bücher von Karl Kraus und breitete sie auf dem Tischchen aus. Moritz nahm eines in die Hand. »Dritte Walpurgisnacht«, sagte er, was für ein Titel! Das ist, erklärte ihm die Dame, eine Anspielung auf den zweiten Teil von Goethes »Faust«. Kraus hat das Werk 1933, also nach der Machtergreifung Hitlers, geschrieben. Als ich es gelesen habe, war mein Eindruck, das Werk sei nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verfasst worden. Doch Kraus hat alle Gräuel des Naziregimes schon 1933 aufs Eindringlichste dargestellt. Moritz dankte der Dame, versicherte ihr, sie bald wieder zu besuchen, und ging mit der »Dritten Walpurgisnacht« nach Hause.
Am Abend begann er zu lesen, am frühen Morgen fiel er todmüde ins Bett. Der erste Satz lautete: Mir fällt zu Hitler nichts ein. Die Genialität dieses Satzes erschloss sich Moritz erst später. Die triviale Form des Satzes wäre: Zu Hitler fällt mir nichts ein. Karl Kraus aber sagt: Mir fällt nichts ein. Euch allen fällt etwas ein, mir nicht. Moritz las einen Satz, las ihn noch einmal. Er las zwei Sätze, las sie mehrmals. O Gott!, rief er, und er fand, das war wirklich ein Anlass, Gott anzurufen. Diese Sätze!, dachte er, betörend schön, erschreckend wahr. Hier wird Sprache nicht verwendet, es wird aus der Sprache geschöpft. Werde ich, fragte er sich, in meiner Arbeit je an diese Prosa herankommen?
Nach wenigen Stunden Schlaf nahm Moritz das Buch und ging damit zum Esel in den Stall. Du siehst schlecht aus, sagte er Esel. Ich habe kaum geschlafen, erwiderte Moritz. Er hielt ihm das Buch hin und setzte sich auf einen Strohballen. Der Autor, sagte er, heißt Karl Kraus, ich erzähle dir ein andermal über ihn. Was er schreibt, vor allem, wie er schreibt – das hat mich umgeworfen. Lies mir vor, erwiderte der Esel. Moritz begann zu lesen. Nach einer Seite bat der Esel, Moritz möge diese Passage wiederholen. Es ergeht dir wie mir, sagte Moritz. Beim ersten Lesen erschließt sich der grobe Sinn. Man weiß aber, das ist nicht alles. Dann erst erkennt man die Schönheit des Textes – eine eigenartige Schönheit, gepaart mit philosophischer Einsicht. Ich habe den Text genauso empfunden, erwiderte der Esel. Lies bitte weiter.
Nach zwei Stunden waren beide erschöpft. Ich fürchte, sagte Moritz, dass ich niemals die Qualität eines solchen Textes erreichen werde. Du irrst, erwiderte der Esel. Moritz schaute ihn erstaunt an. Wer wie du, fuhr der Esel fort, so tief in einen Text eindringt, ist imstande, Ähnliches zu schaffen. Du bürdest mir viel auf, sagte Moritz und legte sich auf den Strohballen. Ich habe heute noch kein Frühstück gehabt, erwiderte der Esel und begann an einer Rübe zu knabbern.
Nachdem er den ärgsten Hunger gestillt hatte, sagte er: Ich bin mit dem russischen Offizier im Prater gewesen, im Wurstelprater. Wir haben unseren Rundgang beim Riesenrad begonnen und sind dann bis ans Ende spaziert, wo unter einem Rundbau aus Holz einige Pferde gestanden sind. Ich bin zu ihnen hingeeilt und habe sie gefragt, was sie hier tun. Wie kommst du hierher?, hat ein junges Pferd gefragt. Zu den vier jungen Pferden, die vor mir gestanden sind, haben sich zwei alte gesellt, und ich habe ihnen erzählt, dass ich aus der Steiermark gekommen und einige Tage unterwegs gewesen bin, bis ich endlich Wien erreicht habe. In der Steiermark, habe ich ihnen erzählt, bin ich viele Jahre mit einem Buben zusammen gewesen, er heißt Moritz, der nun zum Studium in Wien ist. Moritz hat hier einen Freund, der besitzt einen Garten und eine Hütte, dort lebe ich.
Ein junger Mann, so fuhr der Esel fort, hat zwei von den jungen Pferden weggeführt. Zwei Kinder in Begleitung ihrer Großeltern haben schon gewartet, der junge Mann hat das eine Kind auf ein Pferd gesetzt, das zweite Kind auf das andere, und ist mit den Pferden im Kreis gegangen. Wie bist du hierhergekommen?, hat mich eines der alten Pferden gefragt. Mit dem Mann, habe ich geantwortet, bei dem ich wohne. Ich habe mich umgesehen – der russische Offizier hatte auf einer Bank Platz genommen. Dort sitzt er, habe ich gesagt.
Hast du dir den Prater genau angesehen?, hat das alte Pferd gefragt. – Nein. – Das solltest du tun. Wenn du wissen willst, was sich während der letzten zehn Jahre auf der Welt zugetragen hat, brauchst du nur den Prater zu studieren. Die alte Hochschaubahn wird abgerissen, eine neue, viel größere entsteht an ihrer Stelle. Das Ringelspiel verschwindet, es wird ersetzt durch eine Scheibe, die sich mit aberwitziger Geschwindigkeit dreht. An der Stelle der ehemaligen Holzrutsche steht ein Turm, von dem man in die Tiefe rast. Die früheren Besitzer der kleinen Betriebe sind verschwunden. Ich habe sie gekannt. Sie haben sich jeden Mittag in dem Gasthaus da drüben zum Essen getroffen. Unter ihnen ist der Mann gewesen, dem der Betrieb gehört, wo ich arbeite – der Mann sitzt, wie du siehst, an der Kasse. Sein Sohn führt die Pferde im Kreis. Der Betrieb existiert nur deshalb noch immer, weil er am äußersten Rand des Praters liegt. Entschuldige, der junge Mann winkt mir zu, ein Kind will auf mir reiten.
Ich habe den Eindruck, sagte Moritz, dass Pferde einen Hang zur Welterklärung haben. Der Esel dachte nach. Dann sagte er: Pferde sind Angeber. Das heißt aber nicht, dass das, was sie sagen, falsch ist. Der Esel wandte sich von Moritz ab und knabberte an der Rübe. Moritz hatte den Eindruck, dass der Esel das Gespräch nicht fortsetzen wollte, und verließ den Stall. Jemand rief: Moritz! Er schaute sich um. Bachtin hatte es sich im Schatten eines Baumes in einem Liegestuhl bequem gemacht. Moritz setzte sich in die Wiese. Bachtin stand auf, holte einen Sessel und meinte, auf diesem sitze man besser. Wenn du glaubst, sagte Moritz.
Er reichte Bachtin das Buch von Karl Kraus. Die »Dritte Walpurgisnacht« habe ich noch nicht gelesen, sagte Bachtin. Ich bin erst am Anfang, erwiderte Moritz. Eine Offenbarung. Jeder Satz von Karl Kraus ist eine Offenbarung, sagte Bachtin. Zuletzt habe ich »Sittlichkeit und Kriminalität« von ihm gelesen. Karl Kraus war seiner Zeit voraus. Moritz dachte nach, dann fragte er: Kann man seiner Zeit voraus sein? Nach einigem Überlegen antwortete Bachtin: Deine Frage ist berechtigt. Niemand kann seiner Zeit voraus sein. Karl Kraus ist auf der Höhe seiner Zeit gewesen. Eine tiefere Einsicht als er in das Phänomen Sittlichkeit und in die Welt der Sexualität hat man nicht haben können. Die Gesellschaft ist hinterhergehinkt. Moritz stand auf, er wollte zu Hause weiterlesen.
Ich habe dir noch nicht erzählt, sagte Bachtin, was ich im Prater erlebt habe. Der Esel hat einige Pferde gesehen, ist auf sie zugegangen und eine gute halbe Stunde mit ihnen beisammengestanden. Kann er sich mit Pferden unterhalten? Frag ihn doch, erwiderte Moritz, aber nicht jetzt, er frisst gerade eine Rübe. Gehen wir am Abend essen?, fragte Bachtin. Morgen sehr gern, sagte Moritz, heute muss ich lesen.
Am nächsten Vormittag besuchte Moritz den Esel. Ich habe das Buch zweimal gelesen, sagte er, ich will unbedingt über die »Dritte Walpurgisnacht« schreiben. Kannst du das nicht verschieben?, fragte der Esel. Nein, war die Antwort. Was ist mit der Erzählung?, fragte der Esel. Ich habe sie an die »manuskripte« geschickt, antwortete Moritz. Was ist mit dem Roman?, fragte der Esel eindringlich, offenbar wollte er Moritz in die Enge treiben. Der antwortete: Ich komme mit dem Tippen gut voran. Na gut, seufzte der Esel. Es wird ein längerer Artikel, fuhr Moritz fort. Adorno nennt seine Texte Essays, ich werde meine Arbeit auch so nennen. Viel Glück, sagte der Esel missmutig, es missfiel ihm, dass Moritz an dem Plan rüttelte, den er, der Esel, ausgearbeitet hatte.
Während des Abendessens mit Bachtin erzählte Moritz, dass er sich entschlossen hatte, einen Essay über die »Dritte Walpurgisnacht« zu schreiben. Ein Thema werde sich durch die ganze Arbeit ziehen: dass Kraus im Jahr 1933 die Verbrechen des Naziregimes dargestellt habe, dass man also damals schon alles über die bereits begangenen und die noch geplanten Untaten habe wissen können, und das in einem Land, in dem es nach 1945 üblich gewesen sei, zu beteuern, man habe von jenen Verbrechen nichts gewusst. Ich habe allerdings keine Ahnung, fuhr Moritz fort, wo ich den Essay veröffentlichen kann.
Wie lange, fragte Bachtin, wirst du daran arbeiten? Nicht länger als zwei Wochen, antwortete Moritz, ich muss noch den Roman fertigtippen. Sehr gut, sagte Bachtin. In Wien erscheint einmal im Jahr eine Zeitschrift, immer Anfang Dezember, sie heißt »protokolle«. Ich kenne den Herausgeber, ich habe für ihn russische Gedichte ins Deutsche übertragen. Morgen rufe ich ihn an. Hast du übrigens bemerkt, dass es in deiner Wohnung ein Telefon gibt? Moritz nickte. Ich wüsste nicht, sagte er, wen ich anrufen sollte. Er trank nach dem Essen noch ein Glas Wein, dann eilte er nach Hause, um zu schreiben.
Moritz arbeitete bis in den Morgen. Zu Mittag ging er mit dem, was er in ein Heft geschrieben hatte, zum Esel und las es ihm vor. So ein schöner Text, sagte der. Er erinnert mich an deinen Artikel über das Kaiserquartett von Haydn. Und auch an die Sätze von Karl Kraus. Du imitierst ihn nicht, aber du schreibst in seinem Geist. Wir gehen den Text noch einmal durch. Der Esel machte Verbesserungsvorschläge, Moritz notierte sie. So arbeiteten sie Tag für Tag. Als der Essay fertig war, sandte Moritz ihn an die Zeitschrift. Zwei Tage später klingelte das Telefon, es meldete sich der Herausgeber der »protokolle«. Großartig, sagte er, ein wichtiger Essay, er wird Furore machen. Das Honorar überweise ich per Post.
Die Erzählung, für die der Herausgeber der »manuskripte« herzlich gedankt hatte, erschien im November-Heft. Als Moritz es in Händen hielt, freute er sich, seinen Text in einer richtigen Zeitschrift und nicht nur in einer Zeitung gedruckt zu sehen. Er zeigte das Belegexemplar dem Esel. Recht schön, sagte der. Er schien nicht sonderlich beeindruckt zu sein und fragte: Was macht das Studium? Gut, dass du mich erinnerst, war die Antwort. Moritz hatte die Seminararbeit noch nicht geschrieben. An diesem Tag aber wollte er nicht arbeiten. Ich habe mir, dachte er, ein wenig Erholung verdient.
Er hatte sich einen Stadtplan gekauft, darin das Wort »Naschmarkt« entdeckt und sich auf den Weg gemacht. Er staunte über diesen großen, üppigen Markt inmitten der Stadt. Er nahm sich vor, hier Lebensmittel zu kaufen und in seiner Küche Kochen zu lernen, beginnend mit einfachen Gerichten wie Eierspeise oder Spaghetti, nicht zu vergessen die wunderbaren Salate, die es auf dem Markt zu kaufen gab. Moritz schlenderte von Stand zu Stand und stieß auf ein kleines Café, vor dem ein paar Tische aufgestellt waren. Er bestellte einen Cappuccino – dieses Getränk hatte er im italienischen Restaurant kennengelernt – und einen Apfelstrudel und suchte im Stadtplan sein nächstes Ziel. Er entschied sich für den Prater, mied aber den Wurstelprater, ging vielmehr die Praterhauptallee entlang, kam zu einem Lokal, es hieß Lusthaus, und stärkte sich dort mit einem großen Schnitzel und Gurkensalat.
Am Abend schrieb er die Seminararbeit, danach entschloss er sich, am nächsten Tag nach Kapfenberg zu fahren, er verabschiedete sich zuerst von Bachtin, dann vom Esel. Der sagte: Hab es schön mit deiner Karla. Da kannst du dir sicher sein, antwortete Moritz, er sagte das sehr bestimmt, um den Esel zu ärgern. Ich werde aber auch, fuhr er fort, von den zwei Exemplaren der »manuskripte« eines meinen Eltern schenken. Und Karla bekommt keines?, fragte der Esel. Nein, antwortete Moritz, sie ist ein Esel und kann wie du nicht lesen. Er streichelte den Esel, der wiederum drückte seinen Kopf gegen Moritz’ Kopf, und so schieden sie in gutem Einvernehmen.
Moritz gab den Eltern die Zeitschrift, die Mutter las die Erzählung zuerst. Unwillig legte sie das Heft weg. Was du da alles über den Herrn Maroni zusammenschreibst, sagte sie, der wird keine Freude haben. Dann las der Vater die Erzählung, einmal und noch einmal. Das hast du sehr gut gemacht, sagte er. Moritz, du hast das Zeug zum Schriftsteller. Die Mutter stand auf. Mal den Teufel nicht an die Wand, sagte sie zu ihrem Mann. Am Abend beklagte Karla sich, dass Moritz nicht jede Woche zu ihr kam. Wahrscheinlich, sagte sie, hast du in Wien eine Freundin. Moritz war froh, als er wieder im Zug saß.
Anfang Dezember erschienen die »protokolle«. Moritz bekam zwei Belegexemplare mit der Post, es war ein dickes Paket. Die Jahreszeitschrift umfasste zweihundert Seiten. Am Tag darauf überbrachte der Geldbriefträger Moritz vierhundert Schilling. Mit einem derart hohen Betrag hatte er nicht gerechnet. Einige Tage später fand Moritz in seinem Postkasten einen Brief und begann zu lesen. Sehr geehrter Herr Zaunschirm, gestatten Sie, dass ich mich vorstelle. Ich war von Beruf Ministerialbeamter, nun bin ich schon lange in Pension. Hin und wieder schreibe ich über ein neu erschienenes Buch, aber nur, wenn es mir gefällt. In den Dreißigerjahren hatte ich die große Ehre, zum Bekanntenkreis von Karl Kraus zu gehören. Er schätzte mein Urteil über Literatur. Dieser Tage habe ich Ihren Essay über die »Dritte Walpurgisnacht« gelesen. Er ist die erste Arbeit über dieses Werk, welches derart hellsichtig ist, dass man ihm in großem Bogen ausweicht. Dass Karl Kraus 1933 wusste, was man heute noch nicht zu wissen vorgibt, kann man ihm offenbar nicht verzeihen. Umso verdienstvoller ist Ihr Text. Sie haben keine öde germanistische Arbeit, sondern einen glanzvollen Essay geschrieben. Der Essay ist eine literarische Form. Seine Wahrheit besteht in seiner Schönheit.
Moritz las dem Esel den Brief vor. Wie gut, sagte der Esel, dass wir in Wien sind. Hier zu sein in dem Wissen, dass irgendwo in dieser Stadt jemand lebt wie dieser pensionierte Beamte, erfüllt mich mit tiefer Befriedigung. Es gibt Augenblicke, da denke ich mir, dass das Leben schön ist. Nur Augenblicke?, fragte Moritz. Man soll nicht übertreiben, war die Antwort. Moritz ging vom Stall in die Residenz und traf Bachtin in dessen Arbeitszimmer an. Störe ich?, fragte Moritz. Ja, antwortete Bachtin. Ich wollte gerade deinen Essay ein zweites Mal lesen. Großartig. Ganz außergewöhnlich. Moritz reichte ihm den Brief, Bachtin las ihn. Was für ein kluger Mann, sagte er schließlich. Er schreibt in Zeitungen über Bücher. Ich werde meinen Sekretär bitten, sich auf die Suche nach Artikeln dieses Mannes zu machen.
Moritz ging nach Hause, um zu arbeiten, vorher wollte er sich vom Esel verabschieden. Der war nicht im Stall, Moritz suchte ihn im Park. Keine Spur vom Esel. Aufgeregt lief Moritz zu Bachtin. Beide suchten den Esel im Stall und im Park und fanden ihn nicht. Er ist allein weggegangen, sagte Moritz, sehr ungewöhnlich. Wenn er nach zwei Stunden nicht zurück ist, erwiderte Bachtin, lasse ich ihn von der Polizei suchen. Soll ich, fragte er, in Zukunft das Tor zum Park absperren? Auf keinen Fall, antwortete Moritz.
Der Esel hatte sich, als er mit Bachtin spazieren gegangen war, den Weg gut eingeprägt und schlenderte durch den Wurstelprater. Nicht weit vom Riesenrad stellten sich ihm zwei Polizisten entgegen. Soll ich, fragte sich der Esel, einfach weitergehen? Nein, entschied er, neugierig, wie diese Konfrontation enden würde. Ein Polizist rief ein paarmal: Wem gehört dieser Esel? Da kam ein älterer Herr gelaufen, begleitet von einem Mädchen, und sagte zu den Polizisten: Ich kenne den Esel. Die Polizisten nahmen Haltung an und salutierten. Sie standen dem österreichischen Außenminister gegenüber. Der hatte ein paar Tage Urlaub und besuchte mit seiner Enkelin den Prater. Er war auf dem Empfang bei Bachtin gewesen und hatte den Esel dort kennengelernt.
Der Außenminister erklärte den Polizisten, dass der Esel dem Botschafter der Sowjetunion gehöre, das Tier habe sich offenbar ohne Wissen des Botschafters entfernt. Er, der Außenminister, schlage vor, den Esel seines Weges gehen zu lassen, ersuche die Polzisten aber, den Esel im Auge zu behalten und, sollte der sich zu weit weg von der Stadt bewegen, zurück zur Residenz zu bringen. Der Esel konnte also seinen Spaziergang fortsetzen und war auch bald am Ziel: bei den Pferden.
Er erzählte dem alten Pferd, was vorgefallen war. Früher, sagte das Pferd, hat man im Prater nie einen Polizisten gesehen. Nun ist das anders. Schau dort hinüber. Siehst du den großen Einsatzwagen? In dem sitzen ein Dutzend Polizisten. Wozu?, fragte der Esel. In der Nähe des Praters, antwortete das Pferd, befindet sich ein Fußballstadion. Zurzeit spielen dort zwei Wiener Mannschaften. Jede hat eine fanatische Anhängerschaft, kräftige Burschen. Die Anhänger der einen Mannschaft sind mit denen der anderen verfeindet. Im Stadion sorgt die Polizei dafür, dass sie sich weit voneinander entfernt aufhalten, damit es nicht zu Prügeleien kommt. Ist das Match aber zu Ende, ziehen die Burschen in den Prater und fallen übereinander her. Deshalb die Polizei. Sie hat vor allem dafür zu sorgen, dass nicht auch noch Praterbesucher behelligt werden.
Ich an deiner Stelle, fuhr das Pferd fort, würde den Prater schleunigst verlassen, bevor die Rowdys auftauchen. Ich kann mich wehren, erwiderte der Esel. Ach, du lieber, kleiner Esel, sagte das Pferd, wie willst du dich wehren, wenn einer der Rowdys dir mit einer Eisenkette auf den Kopf haut? Aber noch ist das Match nicht zu Ende, ein paar Minuten können wir plaudern. Seit wann, fragte der Esel, herrschen hier solche Zustände? Ich vermute, antwortete das Pferd, dass man das, was sich hier abspielt, nicht isoliert betrachten darf. Ich habe dir das letzte Mal erzählt, dass das Geschäft hier im Prater immer brutaler wird. Ich sehe eine allgemeine Verrohung, weiß aber nicht, was die Ursache ist. Vielleicht kannst du darüber nachdenken. Der Esel nickte und verabschiedete sich. Auf dem Weg zurück beobachtete er, dass die beiden Polizisten, die ihn angehalten hatten, in einem Respektabstand hinter ihm hergingen und sich erst entfernten, als er das Tor zum Park der Residenz durchschritt.
Der Außenminister hatte Bachtin angerufen und ihm mitgeteilt, dass er im Prater den Esel getroffen hatte, der von zwei Polizisten angehalten worden war, und dass er die Polizisten gebeten hatte, dafür zu sorgen, dass der Esel unbeschadet zurückkehre. Bachtin und Moritz hatten also unbesorgt im Park auf den Esel gewartet. Der ging, ohne sie zu beachten, an ihnen vorbei in den Stall, denn er war hungrig. Der tut so, sagte Bachtin, als gäbe es uns nicht. Er tut nur so, erwiderte Moritz. Bachtin zog sich in sein Arbeitszimmer zurück, Moritz folgte dem Esel in den Stall.
Der hörte auf, an der Rübe zu knabbern, und fragte Moritz: Was ist die Ursache für die allgemeine Verrohung? Moritz dachte lange nach, dann fragte er: Wann hast du festgestellt, dass eine allgemeine Verrohung herrscht? Vor zwei Stunden, war die Antwort. Der Esel erzählte, was das alte Pferd ihm berichtet hatte. Kräftige Burschen, sagte Moritz vor sich her, prügeln aufeinander ein, tragen Ketten mit sich, mit denen sie auch auf Unbeteiligte einschlagen. Das Pferd hat dich davor gewarnt. Das ist gewiss eine Verrohung. Kann man aber von einer allgemeinen Verrohung sprechen?
Das Pferd hat gemeint, fuhr der Esel fort, dass man so ein Phänomen nicht isoliert betrachten kann, und es hat darauf hingewiesen, dass das Geschäft im Prater immer brutaler wird. Es kennt aber die Ursache nicht. Und mir hat es aufgetragen, darüber nachzudenken. Du weißt, dass ich denkfaul bin, und so gebe ich die Frage an dich weiter.
Moritz dachte nach. Dann sagte er: Ich hole weit aus. Vielleicht zu weit. Während der Arbeit an dem Essay über die »Dritte Walpurgisnacht« habe ich mir oft überlegt, warum dieses Werk gemieden wird. Der naheliegende Grund: In Österreich und Deutschland waren die meisten Menschen Nazis. Wer das Gewaltregime von Hitler nicht nur billigt, sondern unterstützt, hat einen Hang zur Gewalt. Nach dem Ende des Weltkriegs ist dieses Gewaltpotenzial nicht verschwunden, nur durfte es sich nicht zeigen, denn Österreich war nach 1945 zehn Jahre lang von den Siegermächten besetzt. Nun aber quillt die Gewalt wieder hervor. Ich weiß nicht, ob man die Rowdys im Stadion mit Nazis vergleichen kann, ihr Verhalten ist aber jedenfalls faschistisch. Du wirst sehen, Österreich steht politisch noch einiges bevor.
Danke, sagte der Esel, ich werde das dem Pferd berichten. Ich habe eine Bitte, erwiderte Moritz. Wenn du wieder in den Prater gehst, dann in Bachtins Begleitung. Auch ich würde gerne mit dir dorthin spazieren, um das Pferd kennenzulernen. Auf keinen Fall, sagte der Esel, ich komme allein zurecht. Da bin ich mir nicht sicher, entgegnete Moritz. Der Außenminister hat Bachtin angerufen und ihm erzählt, dass du von Polizisten angehalten worden bist und nur dank seiner Intervention weitergehen konntest. Nun aber, sagte der Esel, bin ich polizeibekannt und werde von den Polizisten beschützt. Da Moritz keine Möglichkeit sah, den Esel umzustimmen, verabschiedete er sich.
Zu Weihnachten besuchte er seine Eltern. Er blieb nur vier Tage und begründete das damit, dass er am Ende des ersten Semesters Prüfungen abzulegen hatte. Der Vater fragte, welche Fächer Moritz studiere. Mein Hauptfach, antwortete Moritz, ist Philosophie. In diesem Semester beschäftigen wir uns mit den antiken griechischen Philosophen Platon und Aristoteles. Der Professor behauptet, dass damals die Grundlagen geschaffen worden sind für alles, was später an Philosophie entstanden ist. Im nächsten Semester werde ich überprüfen können, ob das stimmt. Ich glaube es nicht. Jede Zeit hat doch ihre Kunst und wohl auch ihre Philosophie. Im nächsten Semester beschäftigen wir uns mit Kant und Hegel, zwei Denkern aus dem 18. und 19. Jahrhundert.
Interessant, erwiderte der Vater, wir werden darauf zurückkommen. Und was gibt es außer dem Hauptfach? Kunstgeschichte, antwortete Moritz. Zurzeit informiert man uns über die wichtigsten romanischen Kirchen in Europa. Daneben studiere ich auch Theaterwissenschaft. Moritz erklärte dem Vater, was Szenenanmerkungen in Theaterstücken sind und dass er darüber eine Seminararbeit geschrieben hatte. Außerdem gäbe es Vorlesungen über Theatergeschichte, in diesem Semester über das Theater der Goethezeit. Theater der Goethezeit, sagte der Vater, das würde mich interessieren. Gibt es darüber ein Buch? Das weiß ich nicht, erwiderte Moritz.
Wozu, fragte die Mutter, soll das alles gut sein? Moritz überlegte. Schwer zu sagen, antwortete er. Man studiert Jus, sagte die Mutter, und wird Rechtsanwalt, man studiert Medizin und wird Arzt. Und was wird aus dir? Aus Moritz, erwiderte der Vater, wird ein Philosoph. Spar dir die dummen Witze, antwortete die Mutter. Dir wird das Lachen noch vergehen. Der Bub studiert lauter Unsinn, und am Ende des Studiums steht er vor dem Nichts. Moritz wollte sagen: Dann kann ich immer noch in der Gesenkschmiede arbeiten. Doch er schwieg.
Zweimal traf er Karla. Sie verbrachten leidenschaftliche Stunden im Bett und öde Stunden in der Konditorei Hannecker, in denen Karla Moritz vorwurfsvoll anschaute. Als er wieder in Wien war, sagte der Esel: Du wirkst niedergeschlagen. Du täuschst dich, war die Antwort. Der Esel schüttelte den Kopf. Moritz’ Stimmung besserte sich erst, als Bachtin ihn fragte, ob er Lust habe, den Jahreswechsel mit ihm im italienischen Restaurant zu feiern. Er würde noch jemanden einladen. Agnes?, fragte Moritz, oder Gretel? Nein, antwortete Bachtin, Agnes und Gretel feiern mit Studienkollegen in Gretels Wohnung. Die arbeiten an einem Projekt. Sie arbeiten und feiern. Wir haben genug gearbeitet, wir feiern nur. Wen wirst du einladen?, fragte Moritz. Das soll eine Überraschung sein, war die Antwort.
Bachtin und Moritz saßen bereits im Restaurant, Bachtin hatte eine Flasche Wein bestellt, als ein Mann zu ihnen stieß – der Herausgeber der »protokolle«. Er kam sogleich auf Moritz’ Essay zu sprechen und nannte die Arbeit bahnbrechend. Zu meiner Schande muss ich gestehen, sagte er, dass auch ich die »Dritte Walpurgisnacht« nicht gekannt habe. Als Entschuldigung kann ich anführen, dass ich mich nicht ausschließlich mit Literatur beschäftige, sondern vor allem mit Architektur und Malerei.
Mit Architektur?, erwiderte Moritz. Ich habe in Kapfenberg, woher ich komme, den Architekten Schuster kennengelernt. Er hat mir Bücher über Otto Wagner und Adolf Loos geborgt. Schuster!, rief der Herausgeber, den kennen Sie? Ich habe mit ihm, sagte Moritz, im Orchester gespielt, er ist ein ausgezeichneter Cellist. Im vorletzten Heft, fuhr der Herausgeber fort, habe ich einen Artikel über Schuster geschrieben und Fotos seiner wichtigsten Bauten gebracht. Er ist einer der wenigen, die nach dem Krieg im Geist der radikalen Moderne, wie Loos sie begründet hat, gebaut haben und bauen.
Das habe ich nicht gewusst, sagte Moritz. Bachtin schenkte jedem ein, man stieß miteinander an, und er schlug vor, für den Anfang einen Vorspeisenteller zu bestellen. Man war damit einverstanden. Bachtin winkte dem Kellner, machte mit den Armen einen Kreis, das bedeutete wohl: Vorspeisenteller, der Kellner nickte. Bei aller Wertschätzung für Loos, sagte Bachtin, sollte man die Bedeutung Otto Wagners nicht vergessen.
Otto Wagner, erwiderte der Herausgeber, kommt eine Sonderstellung zu. Die Postsparkasse, ein Gebäude, das er vor dem Ersten Weltkrieg gebaut hat, ist, weltweit gesehen, der Beginn der Moderne in der Architektur. Dieses Gebäude ist von einer Klarheit und Schönheit, wie man sie nachher nicht mehr antrifft. Ich würde für die beiden Herren gern eine Führung machen. Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen, sagte Bachtin. Moritz sagte nichts. Er dachte: Ich werde mir dieses Bauwerk mit dem Esel anschauen, so haben wir es vor langer Zeit vereinbart.
Zum Herausgeber sagte er: Sie haben vorhin erwähnt, dass Sie nicht nur an Architektur, sondern auch an Malerei interessiert sind. Der Herausgeber holte tief Atem. Ich bin, sagte er dann, nur an einem einzigen Maler interessiert. Österreich hat große Architekten, große Komponisten, Schönberg und seine Schüler, und große Schriftsteller, Karl Kraus und Robert Musil, hervorgebracht. Moritz unterbrach ihn. Robert Musil?, fragte er. Es ist keine Schande, antwortete der Herausgeber, dass Sie Musil nicht kennen, er wird gerade wiederentdeckt.
Zurück zur Malerei, fuhr der Herausgeber fort. Österreich hat keine Philosophen hervorgebracht. Und keine Maler. Mit einer Ausnahme: Richard Gerstl. Niemand kennt ihn. Er hat zum Freundeskreis von Arnold Schönberg gehört und sich mit vierundzwanzig das Leben genommen. Ich bin gerade dabei, eine Biografie über ihn zu schreiben, nachdem es mir gelungen ist, seine Werke, die dank einiger Sammler noch vorhanden sind, zusammenzutragen. Ich plane eine Ausstellung, zur gleichen Zeit soll die Biografie erscheinen.
Was ist das Besondere an diesem Maler?, fragte Moritz. Die drei hatten die Vorspeisen verzehrt. Der Kellner brachte – Bachtin hatte das bestellt, ohne seine Gäste zu fragen – Fisch, garniert mit köstlichem Gemüse. Nachdem der Herausgeber vom Fisch gekostet hatte, sagte er: Richard Gerstl war ein Revolutionär. Er hat den Gegenstand aufgelöst, ohne ihn zu zerstören. Bis heute hat ihm das niemand nachgemacht, auch Picasso nicht. Der ist einen anderen Weg gegangen, er hat den Gegenstand zertrümmert, ihn aber nie aus den Augen verloren. Gerstls radikalste Bilder sind farbenfroh und fröhlich, die Gegenstände, zum Beispiel die Personen, die er malt, sind erkennbar, insofern gehören sie dieser Welt an, sie lösen sich aber auch in Farbe auf, insofern gehören sie in die Welt der Malerei.
Gerstl, fragte Moritz, ist mit vierundzwanzig gestorben? Der Herausgeber nickte. Mit den österreichischen Genies, sagte er schließlich, hat es eine eigene Bewandtnis. Schubert wurde dreißig und hat ein gigantisches Werk hinterlassen. Richard Gerstl blieben dazu vierundzwanzig Jahre. Bachtin bestellte offenbar aus Angst, das Gespräch könnte in Trübsinn versinken, eine Flasche Champagner, außerdem war es bald Mitternacht, Zeit, auf das neue Jahr anzustoßen. Der Wirt schaltete das Radio ein, der Donauwalzer erklang, und der Wirt rief: Prosit Neujahr! Die Gäste erhoben sich, einer ging zum anderen, man wünschte einander ein gutes neues Jahr.
Erschöpft setzte sich der Wirt neben Bachtin. Herr Botschafter, sagte er, Sie sind mein bester und liebster Gast. Und Sie, erwiderte Bachtin, sind mein bester und liebster Wirt. Moritz mischte sich ein. Sie sind Italiener, sagte er, aus welcher Gegend kommen Sie? Aus Turin, antwortete der Wirt, ich habe als junger Mann dort im Stahlwerk gearbeitet. Ich kenne jemanden, sagte Moritz, der ebenfalls in Turin im Stahlwerk gearbeitet hat, er heißt Michelangelo Maroni.
Madonna mia!, rief der Wirt, Sie kennen Maroni? In unserem Stahlwerk ist er zumindest dem Namen nach jedem bekannt gewesen. Ich war oft in dem Lokal, in dem er auf der Ziehharmonika gespielt und mit seiner Freundin wunderbare Lieder gesungen hat. Was für eine schöne Zeit! Ich bin vom Stahlwerk weggegangen, fuhr er fort, mir ist die Arbeit zu schwer gewesen. Ich habe Koch gelernt, bin dann nach Wien gegangen, und nun, Sie sehen ja, gehört mir dieses Restaurant. Jetzt müssen Sie mir aber erzählen, woher Sie Maroni kennen. Er arbeitet, sagte Moritz, im Stahlwerk in Kapfenberg, das ist die Stadt, aus der ich komme. Nach der Arbeit hat er im Haus meiner Eltern Fliesen gelegt. Ich habe viel mit ihm geredet, ich würde sagen, wir sind Freunde geworden. Sie müssen mir versprechen, erwiderte der Wirt, Maroni nach Wien zu bringen, ich muss ihn unbedingt wiedersehen. Ich verspreche es, sagte Moritz. Der Wirt stand auf, er musste sich auch um andere Gäste kümmern.
Moritz wandte sich an den Herausgeber. Sie haben behauptet, sagte er, Österreich habe keine Philosophen hervorgebracht. So ist es, erwiderte der Herausgeber. In Österreich hat es drei Schriftsteller gegeben, die auch große Philosophen waren: Johann Nestroy, Karl Kraus und Robert Musil. Ihre Philosophie ist in ihrer Dichtung enthalten. Gewiss hat es einige Berufsphilosophen gegeben, die sich redlich bemüht und als Positivisten, wie sie sich genannt haben, einige Werke zustande gebracht haben, welche sich an der Mathematik orientierten. Alles gut gemeint, mit aufklärerischer Absicht, letztlich aber doch eindimensional.
Um vier Uhr früh brachen die letzten Gäste auf. Moritz war todmüde, ging aber nicht zu Bett, sondern machte sich Notizen über die Gespräche der vergangenen Stunden, um dem Esel alles genau berichten zu können.