Karlas Wohnung lag im Hochparterre. Um mit dem Rollstuhl auf die Straße zu gelangen, musste man neun Stufen überwinden. Bachtin fand eine Lösung. Agnes wohnte bereits in Stammersdorf, im Haus Wachtl, wie sie zu sagen pflegte. Sie hatte ihr Studium abgeschlossen, ein eigenes Architekturbüro gegründet und bereits einige interessante Aufträge bekommen. Um die zu bewältigen, hatte sie zwei Mitarbeiter engagiert, die sie vom Studium kannte. Das Büro war provisorisch im Wirtschaftsgebäude untergebracht worden, da der Esel ja noch nicht dort lebte.
Bachtins Trakt, der noch nicht bewohnt war, konnte mit dem Rollstuhl ohne Stufen von der Straße über den Hof erreicht werden, in der Wohnung selbst mussten nur das Klo und das Bad behindertengerecht adaptiert werden. Das war bald geschehen, und der Bub konnte einziehen. Er fühlte sich, wie er Moritz versicherte, sehr wohl. Brauchte er Lebensmittel, um sich etwas zu kochen, und, ganz wichtig, etliche Flaschen Wein, wandte er sich an Agnes oder ihre Mitarbeiter um Hilfe. Als Moritz seinem Sohn ein behindertengerechtes Auto kaufte, konnte dieser auch in den Supermarkt fahren und sich selbst versorgen.
Der Bub begann ein Doppelleben zu führen. Er schlief lange, dann machte er sich etwas zu essen, am Nachmittag zeichnete und malte er. Dass er begabt war, hatten seine Eltern schon im Volksschulalter festgestellt. Am Abend kamen seine Freunde – niemand fand je heraus, wer sie waren –, es wurde Haschisch geraucht und reichlich Wein getrunken. Moritz sprach mit seinem Sohn darüber. Der sagte: Ich brauche Betäubungsmittel. Ich kann mich nicht damit abfinden, gelähmt zu sein. Dagegen gab es kein Argument.
Eines Tages bekam Moritz einen Anruf von Gretel. Von diesem Augenblick an änderte sich sein Leben vollkommen. Die beiden verabredeten sich in Gretels Wohnung, sie standen einander gegenüber, umarmten sich, fielen ins Bett und schliefen miteinander. Um neun Uhr in der Früh, sie hatten kein Auge zugemacht, frühstückten sie. Danach ging Gretel zur Arbeit und Moritz zum Esel. Der fragte: Was ist mit dir? Ich war bei Gretel, sagte Moritz. Ich sehe es dir an, erwiderte der Esel.
Die beiden schwiegen. Dann fragte der Esel: Wie geht es ihr? Ich vermute, antwortete Moritz, dass sie so glücklich ist wie ich. Ach, rief er, war das eine Nacht! Willst du darüber reden?, fragte der Esel. Nichts lieber als das, erwiderte Moritz. Dann begann er zu erzählen. Wir liegen im Bett. Auf einmal sagt Gretel: Ich habe einen Freund, den Franzi, er sitzt wegen eines Raubüberfalls im Gefängnis. Übrigens nicht zum ersten Mal. Als ich ihn zuletzt besucht habe, hat er gesagt: Du wirst mit anderen Männern schlafen, das macht mir nichts aus. Ich möchte aber nicht, dass sie deine Brüste berühren. Und Gretel, fuhr Moritz fort, hat sich daran gehalten. Ich nicht. Es begann ein liebevolles Gerangel, und schließlich gelang es mir, eine von Gretels Brüsten zu streicheln.
Der Esel nickte zufrieden, dann sagte er: Es hat lange, sehr lange gedauert, bis ihr zueinandergefunden habt. Nun hat jeder von euch seinen Weg eingeschlagen, und ihr werdet eine Möglichkeit finden, um gemeinsam weiterzuleben. Moritz lachte. Selten, sagte er, hast du so feierlich gesprochen. Unsinn, erwiderte der Esel. Übrigens: Gestern hat mich dein Sohn wieder einmal besucht. Er hat einige Zeichnungen und Gemälde mitgebracht. Was für ein großes Talent! Lange habe ich meinen Kopf an seinem Kopf gerieben, zum Zeichen, wie sehr ich ihn bewundere. Ich beneide dich, sagte Moritz. Der Bub hat nichts dagegen, wenn du seine Bilder anschaust, mir aber zeigt er sie nicht. Ich habe ihn nach dem Grund gefragt. Die Antwort war: Der Esel ist der Einzige, der meine Arbeit versteht.
Als Moritz seinen Sohn besuchte, erfuhr er, dass Gretel bei ihm gewesen war. Ich nehme an, sagte dieser, dass sie deine Freundin ist. Moritz nickte. Ich mag die Gretel, fuhr der Bub fort, sie hat mir zwei Stunden lang von eurer Zeit auf dem Frauenberg erzählt. So habe ich erfahren, dass ihr damals den russischen Offizier kennengelernt habt. Ich sehe Bachtin nun mit anderen Augen. Schade, fuhr der Bub fort, dass du nie mit uns darüber gesprochen hast. Ach, erwiderte Moritz, ich habe gedacht, dass euch diese alten Geschichten nicht interessieren. Nun, sagte der Bub, habe ich ja die Gretel, die mir alles erzählt. Und ich werde es meinen Schwestern weitererzählen. Moritz überkam ein Gefühl der Zuversicht, er ging auf seinen Sohn zu und küsste ihn.
Tags darauf traf Moritz seine ältere Tochter. Er berichtete ihr von Gretel und deren Besuch bei seinem Sohn. Dein Bruder, sagte er, hat sich beklagt, dass ich euch nichts über meine Kindheit und die Zeit auf dem Frauenberg erzählt habe. Interessiert dich das? Sehr, war die Antwort. Sie machten einen langen Spaziergang, die Praterhauptallee entlang bis zum Lusthaus, wo sie Kaffee tranken und ein Stück Kuchen aßen, und wieder zurück. Moritz begann seine Erzählung damit, wie er den Esel befreit und mit nach Hause genommen hatte. Dass der Esel mit ihm sprechen konnte, musste ein Geheimnis bleiben.
Moritz schilderte seiner Tochter, wie das Haus, in dem er mit seinen Eltern gewohnt hatte, durch eine Bombe, die im Nebenhaus eingeschlagen hatte, beschädigt worden war, wie sie auf den Frauenberg gebracht wurden, der Krieg schließlich zu Ende ging, die Russen kamen und der russische Offizier, der dann Botschafter in Wien wurde, vor ihnen stand. Wie es weitergegangen ist, erzähle ich dir das nächste Mal, sagte Moritz. Ehe sie sich trennten, fragte er seine Tochter, die die letzte Klasse des Gymnasiums besuchte, wie ihre Pläne für die Zukunft aussahen. Ich werde, sagte sie, Germanistik studieren. Willst du, fragte er, das Lehramt machen und Professorin an einem Gymnasium werden? Auf keinen Fall, erwiderte sie. Was dann?, fragte er. Willst du an der Universität bleiben und Wissenschaftlerin werden? Du fragst mich zu viel, sagte sie. Ich werde mit dem Studium beginnen, und wenn es mich nicht freut, mache ich etwas anderes.
Bachtin rief Moritz an. Wir waren, sagte er, schon lange nicht mehr gemeinsam essen. Heute Abend, erwiderte Moritz, beim Italiener. Als sie sich trafen, berichtete Bachtin, dass er auf einem Empfang in der Residenz mit dem ägyptischen Botschafter gesprochen hatte. Der hat mir, fuhr er fort, merkwürdige Dinge erzählt. Ihm ist zu Ohren gekommen, dass jemand mitten in der Wüste zwischen Kairo und Alexandria eine Farm gegründet hat. Dieser Mann, ein Ägypter, soll in Graz Maschinenbau studiert haben und mit einer Grazerin verheiratet sein. Mithilfe von Geologen der Montanistischen Hochschule Leoben soll er in der Wüste nach Wasser gebohrt haben und fündig geworden sein. Gewissermaßen, hat der ägyptische Botschafter gemeint, handelt es sich auch um eine österreichische Geschichte. Ich habe versucht, Wiener Journalisten dafür zu interessieren, doch die haben abgewunken. Eine Farm in der Wüste?, haben sie gefragt. Das klingt nach einem orientalischen Märchen.
Warum ich dir das erzähle?, sagte Bachtin. Du erinnerst dich, dass wir über Musils mögliche Wirklichkeiten gesprochen haben. Eine Farm in der Wüste ist vielleicht eine mögliche Wirklichkeit. Wir wissen nichts darüber. Aber wir müssen, erwiderte Moritz, etwas darüber in Erfahrung bringen. Zuallererst Name und Adresse des Mannes, dem die Farm gehört. Ich werde, sagte Bachtin, den Botschafter um seine Hilfe bitten. Das ist das eine. Das andere ist, dass ich deinen Sohn besucht habe.
Er ist, fuhr Bachtin fort, immer freundlich zu mir gewesen. Diesmal war er anders. Geradezu vertraulich. Und weißt du, warum?, fragte Moritz. Gretel ist bei ihm gewesen und hat ihm erzählt, wie wir dich auf dem Frauenberg kennengelernt haben und dass du seit unserer Kindheit unser Freund bist. Gretel hat kommen müssen, um dem Buben das zu erzählen. Ihr wart, sagte Bachtin, schon als Kinder ein Liebespaar. So ist es, erwiderte Moritz.
Ich habe also, fuhr Bachtin fort, deinen Sohn besucht. Du weißt, dass ich seine Zeichnungen und Bilder sehr schätze. Ich bin noch in Verbindung mit dem Herausgeber der »protokolle«. Durch ihn habe ich einen Mann kennengelernt, der im ersten Bezirk eine Galerie besitzt. Den habe ich gefragt, ob er Interesse hätte, die Arbeiten deines Sohnes auszustellen. Ich würde mit ihm nach Stammersdorf fahren, um ihm die Bilder zu zeigen. Das sei nicht nötig, hat er geantwortet, er vertraut meinem Urteil.
Ich habe deinen Sohn gefragt, was er von diesem Plan hält. Er war einverstanden. Ich habe ihm vorgeschlagen, dass er eine Auswahl trifft. Der Galerist habe in seinen Räumen Platz für fünfzig Zeichnungen und fünfzig Gemälde. Dein Sohn hat versprochen, bis zum Ende der Woche hundert Bilder auszusuchen. Ich würde die Arbeiten nächste Woche abholen und rahmen lassen. Rahmen für hundert Bilder, hat dein Sohn gesagt, kosten ein Vermögen. Sie kosten gar nichts, habe ich geantwortet. Die Botschaft hat einen Tischler unter Vertrag, der für Renovierungsarbeiten in der Botschaft und in der Residenz herangezogen wird. Ich habe ihn gefragt, ob er Bilder rahmen kann. Bilder rahmen, hat er gerufen, endlich eine vernünftige Aufgabe!
Am Tag darauf besuchte Moritz den Esel und berichtete ihm von der Farm in der Wüste. Der Esel dachte lange nach. Dann sagte er: Moritz, zum ersten Mal bedaure ich, nicht reisen zu können. Diese Farm hätte ich gern gesehen. Oft habe ich mir gedacht: Die Menschen leben in uralten Ortschaften, in Bruck an der Mur zum Beispiel oder in Wien. Kapfenberg ist eine rühmliche Ausnahme. Diese Stadt besteht in erster Linie aus einem Stahlwerk. Drumherum leben die Arbeiter. Ich habe mich gefragt: Warum baut man nicht neue Städte mit neuer Architektur und neuen Industriebetrieben? Wahrscheinlich aus Gewohnheit und Faulheit und Dummheit. Du musst, fuhr er fort, unbedingt nach Ägypten fahren.
Mit Bachtins Hilfe, erwiderte Moritz, versuche ich, mit dem Gründer der Farm in Kontakt zu kommen. Ich weiß nicht, ob es gelingt. Dann erzählte er dem Esel, dass Bachtin es zustande gebracht hatte, eine Ausstellung mit den Bildern seines Sohnes zu arrangieren. Wenn der Bub das will, sagte der Esel, ist das gut so. Ich bin nicht dafür. Dein Sohn zeichnet und malt vor allem für sich. Er wird nicht damit fertig, dass er gelähmt ist. Deshalb trifft er am Abend seine Freunde, mit denen er Wein trinkt und Haschisch raucht. Die Nachmittage aber, wenn er nüchtern ist, sind der Arbeit vorbehalten. Das rettet ihn vor dem körperlichen Verfall. Ich weiß nicht, ob es gut für ihn ist, wenn diese Intimität durch eine Ausstellung öffentlich gemacht wird.
Daran, erwiderte Moritz, habe ich nicht gedacht. Er hielt die Bedenken des Esels aber für nicht gewichtig genug. Zu Hause trödelte er vor sich hin. Er hatte mit den beiden Filmen einiges Geld verdient, und da er sehr sparsam lebte, musste er nicht arbeiten, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Angeregt von Adorno, las er Hegel und Marx. Er fand heraus, dass der scharfe polemische Ton, den Marx angeschlagen hatte, bereits bei Hegel zu finden war, ein Ton, den es in der Philosophie zuvor nicht gegeben hatte. Philosophie seit Hegel, dachte Moritz, ist Kampf. Marx ist ein würdiger Schüler Hegels.
Moritz besuchte den Esel und las ihm das Kommunistische Manifest vor, das Marx mit seinem Freund Engels verfasst hatte. Der Esel war begeistert. Dieser Text, sagte er, wird die Welt auf unabsehbare Zeit zerreißen – in ein kapitalistisches und ein sozialistisches Lager. Und was tue ich? Ich liege auf meinem Strohbett und fresse eine Rübe. Beschämend. Und was tue ich?, fragte Moritz. Ich besuche Gretel zweimal in der Woche und bin glücklich. Du bist, erwiderte der Esel, im Unterschied zu mir kein Revolutionär. Oh, sagte Moritz, das höre ich zum ersten Mal. Kannst du mir das erklären?, fragte Moritz. Nicht jetzt, antwortete der Esel und drehte sich weg zum Zeichen, dass er nun in Ruhe gelassen werden wollte.
Bachtin bemühte sich, mithilfe des ägyptischen Botschafters Name und Adresse des Begründers der Farm herauszufinden. Das dauerte ein Jahr. Der Botschafter schrieb an das Außenministerium in Kairo. Von dort kam eine Anfrage, wer denn in Wien die Daten erhalten wolle. Der Botschafter antwortete, es handle sich um einen zuverlässigen Mann. Nach Monaten fragte das Außenministerium, wer für dessen Zuverlässigkeit garantieren könne. Der Botschafter erwiderte, jener Mann sei ein Freund des sowjetischen Botschafters. Monate später wurden endlich Name und Adresse nach Wien gemeldet.
In der Zwischenzeit fand die Ausstellung statt. Dutzende Menschen drängten sich in der Galerie und warteten darauf, dass das Buffet eröffnet würde und sie sich auf Sekt und Brötchen stürzen könnten. Sie warteten geduldig. Denn der Herausgeber der »protokolle« sprach, nachdem er Moritz’ Sohn vorgestellt hatte, so engagiert über dessen Arbeit, dass die Leute ihm gern zuhörten. Danach hielt er sich in der Nähe des Künstlers auf und schützte ihn vor Journalisten. Der junge Mann, sagte er, sei es nicht gewohnt, in der Öffentlichkeit zu stehen und Interviews zu geben. Dennoch konnte man in fast allen Wiener Zeitungen wohlwollende Berichte über ihn und seine Arbeit lesen.
Davon neugierig geworden, besuchte ein bekannter Maler, der als Professor an der Akademie der bildenden Künste wirkte, die Ausstellung. Er war von den Arbeiten so beeindruckt, dass er Moritz’ Sohn einen Brief schrieb. Er, der Professor, sei sehr angetan vom Können des jungen Künstlers. Diese Begabung gelte es zu fördern. Er würde ihn sehr gern in seine Meisterklasse aufnehmen. Der Bub las dem Vater den Brief vor. Moritz war außer sich vor Freude. Der Bub aber sagte, er werde dem Professor nicht antworten. Er wisse selbst, dass er sich zwar nicht bei den Zeichnungen, aber in der Malerei verbessern müsse. Dazu brauche er keine Akademie.
Betrübt erzählte Moritz das dem Esel. Der war ganz auf der Seite des Buben. Für ihn, sagte der Esel, ist Zeichnen und Malen Therapie. Er will gute Arbeit machen, aber kein bekannter Künstler werden. Ich verstehe euch beide nicht, erwiderte Moritz. Er besuchte Gretel und klagte ihr sein Leid. Moritz, sagte sie, du machst einen Fehler. Du willst, dass dein Sohn so wird wie du. Du bist ehrgeizig, willst ein bedeutender Schriftsteller werden. Deinem Sohn fehlt dieser Ehrgeiz. Ach, erwiderte Moritz, du bist so gescheit. Du erinnerst dich, sagte Gretel, dass ich mich als Kind für das Universum interessiert habe. Wenn ich Rat brauche, frage ich die Sterne. – Und wenn ich Rat brauche? – Dann fragst du mich, erwiderte sie.
Die Ausstellung war vier Wochen geöffnet. In dieser Zeit wurden zwei Drittel der Arbeiten verkauft. Da der Besitzer der Galerie die Preise hoch angesetzt und nur fünf Prozent Provision einbehalten hatte, konnte Moritz’ Sohn mit einem Haufen Geld rechnen. Zu selben Zeit erhielt Moritz endlich den lang erwarteten Brief vom Gründer der Farm. Der fragte, was Herrn Zaunschirm bewege, sich für die Farm zu interessieren. In seinem Antwortschreiben berief Moritz sich auf Robert Musils mögliche Wirklichkeiten. Dieses Thema sei im Zentrum seiner Romane gestanden. Die Farm in der Wüste scheine ihm die Realisierung einer solchen möglichen Wirklichkeit zu sein.
Der Brief aus Ägypten war verheißungsvoll. Lieber Freund, so war zu lesen, ich habe den Eindruck, Sie denken ähnlich wie ich. Ich schlage vor, dass Sie uns im Oktober, wenn es nicht mehr so heiß ist, besuchen. Ich werde mich in Kairo um ein gutes und kostengünstiges Hotel umschauen. Von dort aus können Sie die Farm mit einem Taxi zu einem Pauschalpreis erreichen. Mit sehr herzlichen Grüßen, Ihr Zacharias Sarani. Moritz las dem Esel den Brief vor. Wir haben, sagte der Esel, in Herrn Sarani einen Geistesverwandten getroffen. Du darfst nicht zu lange in Ägypten bleiben, damit du mir Bericht erstatten kannst. Ich bleibe nicht länger als vier Wochen, erwiderte Moritz. Es wird wohl nicht mein letzter Besuch sein.
Vor seiner Abreise fuhr Moritz nach Kapfenberg, um zu sehen, wie es seiner Mutter ging. Er fand sie in einem völlig verwahrlosten Zustand vor. Die Rettung brachte sie ins Krankenhaus, wo die Ärzte feststellten, dass die Frau auf keinen Fall weiter allein in ihrem Haus leben konnte. Moritz gelang es, in einem Pflegeheim in der Nähe von Kapfenberg einen Platz für seine Mutter zu bekommen. Er brachte sie dorthin, sie bezog ein Zimmer, in dem eine andere alte Frau im Bett lag, die nicht mehr ansprechbar war. Moritz’ Mutter saß in einem Rollstuhl, es war Nachmittag, Kaffee wurde serviert. Sie setzten sich an einen Tisch auf dem Gang. Man sah auf einen Hügel, die Mutter rief: Schau, Moritz, siehst du die Kühe? Da waren keine Kühe, Moritz aber nickte und sagte: Schöne Tiere. Die Mutter erwiderte: Und nun zahlen wir und fahren nach Haus. Moritz sagte: Ich hole den Ober, stand auf, verließ das Pflegeheim und fuhr nach Wien.
Anfang Oktober reiste er nach Ägypten. Zweimal die Woche besuchte er die Farm. Er wollte Sarani nicht zu sehr beanspruchen, außerdem brauchte er viel Zeit, um niederzuschreiben, was er in Erfahrung gebracht hatte, außerdem wollte er Kairo kennenlernen. Nach einem Monat kehrte er nach Österreich zurück. Sein erster Weg führte ihn ins Pflegeheim bei Kapfenberg. Seine Mutter lag im Bett, sie war zu schwach, um im Rollstuhl zu sitzen. Sie schaute Moritz lange an, dann sagte sie: Wer sind Sie? Moritz nahm ihre Hand und weinte. Eine Woche später war sie tot. Gretel begleitete Moritz zum Begräbnis. Danach sagte er: Nun bin ich allein auf der Welt.
In Wien traf Moritz den Esel. Ehe ich dir alles über die Farm erzähle, treffe ich meine Kinder. Dein Sohn, sagte der Esel, hat mich besucht. Ich bin erschrocken, er war abgemagert und zittrig. Er hat eine Zeichnung mitgebracht, die völlig anders ist als seine übrigen Arbeiten. Auf dieser Zeichnung ist der Bub zu sehen, wie er von Schlangen attackiert wird. Moritz war vorgewarnt. Als er dann vor seinem Sohn stand, sagte er: Du siehst nicht gut aus. Der Bub lachte und sagte: Weißt du, ich war zu dick und habe ein paar Kilo abgenommen. Gibt es neue Arbeiten von dir?, fragte Moritz. Ja, erwiderte der Bub, ich will sie dir aber nicht zeigen, ich weiß nicht, ob sie was taugen.
Am Tag darauf traf Moritz seine ältere Tochter. Sie hatte Germanistik zu studieren begonnen, das Studium, sagte sie, interessiere sie aber nicht. Moritz nickte zustimmend. Vielleicht, fuhr sie fort, mache ich auch noch ein zweites Semester. Die Zeit nutze ich, um etwas zu finden, das für mich beruflich infrage kommt. Ich habe einiges in Aussicht, aber es ist zu früh, darüber zu sprechen. Das klingt gut, sagte Moritz und gab ihr einen Kuss. Die jüngere Tochter zu treffen war nicht einfach, sie hatte sehr viel zu tun. Sie war zur Schulsprecherin gewählt worden, eine wichtige Funktion, die sie in ständige Konfrontation mit dem autoritären Direktor brachte, außerdem gab sie mit anderen eine Schülerzeitung heraus, und sie gestaltete Beiträge für eine Jugendsendung im Radio.
Eines Tages fand sie doch Zeit, mit dem Vater einen Kaffee zu trinken. Nach ihren Plänen gefragt, sagte sie: Ich werde es so machen wie meine Schwester und nach der Matura ein Studium beginnen, wahrscheinlich Soziologie. Die Zeit werde ich nutzen, um mich beruflich zu orientieren. Ich würde gern fürs Radio arbeiten. Und wann, fragte Moritz, fahren wir wieder die Donau hinunter? Sie lachte und sagte: Ich fahre mit meinem Freund in den Ferien mit dem Zug durch Europa, nach Rom, Madrid und Paris, die Donau kenne ich ja schon. Aber die Ausrüstung von damals – Zelt und Luftmatratzen, untergebracht in einem Seesack – geht mit auf die Reise.
Endlich konnte Moritz dem Esel Bericht erstatten. Es war November und eiskalt, also trafen sie sich im Stall. Ich habe nicht geahnt, sagte Moritz, dass die Farm als sozialistische Genossenschaft organisiert ist. Wer ein Jahr dort gearbeitet hat und vorhat, länger zu bleiben, wird Mitbesitzer. Der Gründer der Farm hat eine Ausnahmestellung. Für die Anfangsarbeiten hat er Kredite aufgenommen, die nun zurückgezahlt werden müssen.
Auf großen Flächen, fuhr Moritz fort, werden Zucchini und Erdäpfel angebaut. Geerntet wird dreimal im Jahr. In einer großen Halle verpackt man das Gemüse in Kartons, es wird zum Flughafen transportiert und von dort nach London gebracht, wo ein Großabnehmer die Ware abholt. Auf einer kleineren Fläche wird Baumwolle gepflanzt, ohne sie, wie Sarani betont hat, mit Chemikalien zu behandeln, was äußerst ungewöhnlich ist. Die Baumwolle wird auf der Farm zu Stoff verarbeitet, den ein Modedesigner in New York zu einem sehr hohen Preis kauft.
Ich habe mich, sagte Moritz, vor allem für den wirtschaftlichen Ablauf interessiert. Die Farm floriert. Das ist wichtig, denn es wird nicht nur angebaut, auch soziale und kulturelle Einrichtungen werden geschaffen. Deshalb geht nur ein Teil dessen, was erwirtschaftet wird, an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die erwähnten Einrichtungen, fuhr Moritz fort, sind im Aufbau begriffen, ich werde sie bei meinem nächsten Aufenthalt studieren. Geplant sind ein Kindergarten, eine Musikschule, ein Zahnambulatorium und eines für Allgemeinmedizin. Denn, so hat Sarani gesagt, der gesundheitliche Zustand der Leute ist miserabel.
Moritz ging nach Hause und rief Gretel an. Er wollte sich mit ihr in ihrer Wohnung verabreden, sie aber schlug vor, sich im Kaffeehaus zu treffen. Das machte ihn stutzig. Sie küssten und umarmten einander, doch Gretel war anders als früher. Komm, setz dich, sagte sie. Es geht um deinen Sohn. Er hat mit dem Verkauf seiner Arbeit viel Geld verdient. Dann ist es gekommen, wie es kommen musste. Er ist von Haschisch auf Heroin umgestiegen. Ich habe mit Ärzten gesprochen, die Erfahrung mit Drogensüchtigen haben. Sie sind der Meinung, dass die meisten Haschischkonsumenten mit der Zeit nach stärkeren Betäubungsmitteln verlangen. Wenn sie die nötigen finanziellen Mittel haben, wechseln sie zu Heroin. Oder sie werden kriminell, um sich das Geld zu beschaffen.
Zum Glück, fuhr Gretel fort, spricht dein Sohn mit mir über sein Problem. Ich bin seine einzige Vertraute. Halte du dich bitte heraus. Von den Ärzten weiß ich, dass Heroinkonsum immer in einer Katastrophe endet. Eine Spritze Heroin verschafft einen kurzen Genuss, alsbald verlangt der Körper unter starken Schmerzen nach der nächsten Dosis. Ich weiß, habe ich zu deinem Sohn gesagt, wie es dir geht. Du bist gefangen in einem Teufelskreis, aus dem du aus eigener Anstrengung nicht herauskommt. Eine Möglichkeit, dem zu entrinnen, ist ein Entzug in einer Klinik. Den mache ich auch, hat dein Sohn gesagt. Ich habe geantwortet, dass ich ihn in der Klinik anmelden werde, dass es aber eine Wartezeit von ein paar Wochen geben wird.
Moritz rief Bachtin an und entschuldigte sich, dass er noch keine Gelegenheit gefunden hatte, ihn zu treffen. Wir sehen uns beim Italiener, sagte Bachtin. Ehe Moritz sich auf den Weg ins Restaurant machte, kam ein Anruf von Gretel. Stell dir vor, sagte sie, wir haben einen Termin in der Klinik bekommen. In zwei Tagen bringe ich deinen Sohn dorthin. Im Restaurant sagte Moritz: Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht. Er berichtete Bachtin von der Heroinsucht des Sohnes und dass es Gretel gelungen war, einen Platz in einer Klinik zu bekommen, wo der Bub einen Entzug machen würde. Bachtin war sprachlos. Nach einer Weile sagte er: Ich fühle mich schuldig. Dein Sohn hat erst nach der Ausstellung mit dem Heroin begonnen. Ich hätte diese Ausstellung nicht organisieren dürfen.
Und ich, erwiderte Moritz, hätte nie von der Seite meines Sohnes weichen dürfen. Dann hätte er keinen Autounfall gehabt und wäre nicht gelähmt. Was wir nicht alles nicht hätten tun dürfen. Wenn wir diesem Motto folgen, landen wir bei jenen traurigen Philosophen, die meinen, es wäre besser, nicht geboren worden zu sein. Sergej, fuhr Moritz fort, du kennst diesen dummen, grausamen, sinnlosen Satz: Das Leben geht weiter. Bachtin nickte. Die Frage ist, erwiderte er, wie es weitergeht. Beide schwiegen. Dann sagte Moritz: Wahrscheinlich ist die Biologie, die bloße Natur des Menschen, stärker als das, was wir Geist und Bewusstsein nennen. Sonst würde der Mensch angesichts der Schrecken, die ihm widerfahren, den Verstand verlieren. Viele, erwiderte Bachtin, verlieren ihn ja auch. Wir beide, sagte Moritz, hoffentlich nicht. Dann sollten wir trotz allem, antwortete Bachtin, etwas essen und trinken.
Endlich konnte Moritz dem Freund von der Farm berichten. Eine mögliche Wirklichkeit, sagte Bachtin. Konntest du herausfinden, ob die Farm, wie immer sie sich entwickeln wird, als Insel konzipiert ist – oder als etwas, das hinauswirken soll ins Umfeld? Interessant, antwortete Moritz, dass du diese Frage stellst. Sarani, so heißt der Gründer der Farm, hat einige Male mit mir darüber gesprochen. Er hat die Farm keinesfalls als Insel konzipiert, im Gespräch aber erkennen lassen, dass die Farm eine Insel bleiben wird. Insofern, hat er gesagt, betrachte ich das Projekt jetzt schon als gescheitert. Die Leute, die hier arbeiten, würden am liebsten auf dem Areal Häuser bauen und hier wohnen. Ich habe auf sie eingeredet, hat Sarani gesagt, dass sie alles, was sie hier lernen, in ihren Dörfern praktizieren sollten, dass ich die Anfangsarbeiten wie das Bohren nach Wasser finanzieren und auch sonst jede Hilfestellung leisten würde. Kein Interesse.
Wann fährst du wieder nach Ägypten?, fragte Bachtin. Mein Sohn, antwortete Moritz, kommt in die Klinik, er wird dort einige Wochen bleiben und dann als geheilt entlassen werden. Ich kann also ruhigen Gewissens abreisen. Für mich gibt es noch viel zu erkunden. Ich möchte ein Buch schreiben, kein Sachbuch, sondern einen Roman. Der Titel: »Die Farm«. Es wird eine schwierige Arbeit werden. Ich habe Fakten über Fakten, aber keine Idee für eine Erzählung. Ehe du uns verlässt, sagte Bachtin, werde ich in der Residenz ein Essen geben. Ich werde deine Töchter einladen, außerdem Gretel und Agnes. Was für eine Schande, erwiderte Moritz, ich habe Agnes noch immer nicht kennengelernt.
Am Tag darauf besuchte Moritz den Esel im Stall. Ich werde, sagte er, meine Geige mit nach Ägypten nehmen. Ich sehe dich schon, erwiderte der Esel, wie du mitten in der Wüste die Frühlingssonate spielst. Als du auf der Farm gewesen bist, bin ich draußen im Park gelegen und habe zugehört, wie Agnes und der russische Offizier über die Wüste geredet haben: dass Kamele die wichtigsten Tiere für die Wüstenbewohner sind. Du wirst also auf der Geige spielen, und die Kamele werden herbeieilen und dir zuhören. Und danach, fuhr Moritz fort, gehe ich in die Musikschule, die es auf der Farm gibt. Dort unterrichtet eine junge Musikerin aus Graz vier Mädchen und einen Buben auf der Geige, drei Mädchen und drei Buben auf dem Klavier, fünfzehn Kinder auf der Blockflöte, und alle zusammen erhalten Gesangsunterricht. Auf diesen legt Sarani größten Wert. Er behauptet, der orientalische Gesang sei, anders als der abendländische, stark an die Sprache gebunden. Deshalb sei es für die Kinder wichtig, auch den abendländischen Gesang zu erlernen. Und ich werde mit der Geige dazu spielen.
Das wird dein nächster Roman, sagte der Esel. Moritz seufzte. Mir ist noch keine Geschichte eingefallen, erwiderte er, mit der ich all das erzählen kann. Mir schon, sagte der Esel. Wie bitte?, fragte Moritz. Der junge Mann, fuhr der Esel fort, nennen wir ihn Moritz, verliebt sich in die Musikerin aus Graz. Sie investieren ihre ganze Kraft in den Ausbau der Musikschule. Immer mehr Schüler kommen. Das spricht sich herum. Moritz und die Grazer Musikerin werden vom Bürgermeister von Kairo eingeladen, eine Musikschule in der Hauptstadt zu gründen. Sie nehmen die Einladung an. Die Musikschule auf der Farm wird von einigen fortgeschrittenen Schülern weitergeführt, die Musikschule in Kairo floriert.
Die beiden werden eingeladen, fuhr der Esel fort, in Alexandria eine Musikschule aufzubauen. Die ersten Jugendorchester entstehen. Niemand in Ägypten spricht mehr von der Farm, alle von den großartigen Musikschulen. Eines Tages aber steht Gretel vor Moritz und fragt: Hast du mich vergessen? Ich weiß nicht, sagte der Esel, was Moritz antwortet. Weißt du es? – Moritz dachte lange nach, dann sagte er: Dieser Moritz entscheidet sich für Gretel und für die Musikschulen. Das ist doch, erwiderte der Esel, eine schöne Geschichte.