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Lassen Sie sich von Ihrem Körper leiten

Es gibt ein entscheidendes Missverständnis, das aufgeklärt werden muss. Die Vorstellung nämlich, dass Meditation »nur im Kopf« stattfindet. Die Menschen wollen mit Meditation praktische Resultate erzielen, was ja auch verständlich ist. Meditation kann Ihr Leben zum Besseren wenden, indem sie Ihnen hilft, weniger ängstlich zu sein und sich besser konzentrieren zu können. Sie lässt uns den Geist im Ruhezustand erleben. Der letzte Schrei derzeit ist außerdem der aufmerksame Zustand, der als Achtsamkeit bezeichnet wird. Aber der Geist ist nicht vom Körper getrennt, der immer beteiligt ist. Wenn Sie zum Beispiel die anhaltenden Auswirkungen alter, unerwü nschter Erinnerungen loswerden möchten, darf das Gehirn die Erinnerungen nicht mehr abrufen.

All Ihre Empfindungen, einschließlich derer, die mit Liebe, Frieden und sogar der Gegenwart Gottes verbunden sind, nehmen den Weg durch das zentrale Nervensystem. So außergewöhnlich jede spirituelle Erfahrung auch sein mag, de facto handelt es sich immer um eine physische Reaktion im Nervensystem. Wenn man Meditation nur als etwas Geistiges betrachtet, verkennt man, wie vollkommene Meditation wirklich funktioniert .

Die Geist-Körper-Verbindung fü hrt körperliche und geistige Aktivität zusammen. Der Geist reagiert im selben Moment auf den Körper, in dem der Körper auf den Geist reagiert. Diese Tatsache, die heute offensichtlich scheint, wurde frü her hartnäckig geleugnet. Nur wenige westliche Ärzte wollten an die Geist-Körper-Verbindung »glauben«, als von dieser immer mehr die Rede war. Sie bestanden darauf – und einige tun es heute noch –, dass nur die physische Seite von Bedeutung sei. Ich erinnere mich an meine Frustration, als leitende Ärzte an der Klinik in Boston ü ber die Vorstellung spotteten, dass der Körper durch Meditation beeinflusst werden könnte. Bei einem Gespräch mit einem Professor der Harvard Medical School, der die Verbindung zwischen Körper und Geist rigoros ablehnte, platzte mir der Satz heraus: »Um Himmels willen, was glauben Sie, wie Sie Ihre Zehen bewegen?« Aber er rü ckte keinen Millimeter von seiner Ansicht ab.

Solche Negierungen scheinen wie Schnee von vorgestern zu sein, und doch bestehen sie in der weitverbreiteten Vorstellung fort, dass das, was wir als das Selbst, das Individuum, betrachten, einfach eine Schöpfung der Hirnaktivität ist. Dies ist der neue Brennpunkt der Diskussion. Der Durchschnittsmensch mag eine solche Kontroverse als irrelevant fü r sein eigenes Leben abtun, aber das ist sie nicht. Jenseits der Geist-Körper-Verbindung verlangen grundlegende Fragen nach Antworten.

Erschafft das Gehirn den Geist? Wenn ja, sind wir dann nur Roboter, die dem Gehirn gehorchen?

Ist das Streben nach einem erweiterten oder höheren Gewahrsein eine Fantasie? Wenn Sie kein Selbst haben, abgesehen von der Gehirnaktivität, wie sie als Haufen eng gezogener Schnörkel auf einem EEG ersichtlich ist, ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie ein höheres Selbst haben, gleich null. Warum sollten Sie sich also ü berhaupt die Mü he machen, zu meditieren, zu beten oder freundlich zu Ihrem Nachbarn zu sein? Sie wü rden sich dann ja nur einer Illusion hingeben.

Aber kann der Geist sich wirklich ü ber das Gehirn hinwegsetzen? Die Redewendung, dass Geist ü ber Materie triumphiert, stößt bei der »nur Gehirn«-Fraktion auf Ablehnung und sogar auf Spott, obwohl es reichlich wissenschaftliche Erkenntnisse gibt, die darauf hindeuten, dass Sie Ihr Gehirn besser unter Kontrolle haben als Ihnen klar ist. Wenn Sie so viele Rechnungen angehäuft haben, dass Sie anfangen, sich um Ihre Finanzen zu sorgen, verändert sich Ihre Gehirnchemie. Ihr banges Gefü hl löst diese Veränderungen aus. Es ergibt keinen Sinn zu sagen, dass Sie sich Sorgen machen, weil Ihr Gehirn Sie beunruhigt hat – vielmehr hat Ihr Geist den Prozess eingeleitet, als Sie sich Ihre Kreditkartenabrechnung ansahen.

Dennoch sind viele von uns davon ü berzeugt, dass wir ausschließlich in einer sinnlich wahrnehmbaren Welt leben. An vielen Fronten, unter anderem in der Wissenschaft, der Philosophie und den Massenmedien, scheint die »nur Gehirn«-Position an Boden gewonnen zu haben. Nur wenige Menschen unterstü tzen voll und ganz die Möglichkeit, dass das Bewusstsein unabhängig vom Gehirn sein könnte. Noch geringer ist die Akzeptanz der Auffassung, wie sie in diesem Buch vertreten wird, nämlich dass das Bewusstsein das Gehirn erschafft. Wie soll ein nicht-physisches Etwas in der Lage sein, Neuronen zu bilden? Das Rätsel ist gelöst, wenn man erkennt, dass wir nicht in Geist und Körper aufgeteilt sind. Wir sind eins: der geistige Körper, der die beiden vereint.

Vollkommene Meditation

Lektion 7: Der geistige Körper

Die Hirnaktivität kann mit einer funktionellen MRT oder einem CT -Scan sichtbar gemacht werden, Gedanken jedoch nicht. Gehirn und Geist sind untrennbar miteinander verbunden. Es geht nicht darum, was zuerst da war. Der geistige Körper ist eins, und weil er als Einheit funktioniert, hat er schon immer als Einheit existiert.

Wenn Sie einen Beweis wollen, können Sie den folgenden kleinen Test machen:

Schließen Sie die Augen und stellen Sie sich eine leuchtend gelbe Zitrone mit einem Küchenmesser daneben vor.

Halten Sie die Augen weiter geschlossen und sehen Sie vor sich, wie das Messer die Zitrone in zwei Hälften schneidet und dabei Tropfen von Zitronensaft herausspritzen. Irgendwann in dieser Visualisierung werden Sie merken, wie der Speichelfluss in Ihrem Mund angeregt wird (mir geht es schon so, während ich diese Übung aufschreibe).

Das »Wasser-im-Mund-Zusammenlaufen« ist ein klassisches Beispiel für die Verbindung zwischen Körper und Geist. Das Gehirn kennt allerdings den Unterschied zwischen einer imaginären und einer realen Zitrone nicht und aktiviert in beiden Fällen die Speicheldrüsen. Ihr Geist jedoch kennt den Unterschied, weil Sie nicht Ihr Gehirn sind.

Sie benutzen Ihr Gehirn, und zwar im vollen Vertrauen darauf, dass Gehirn und Geist augenblicklich aufeinander reagieren. Es ist dabei unmöglich auszumachen, wo das eine aufhört und das andere beginnt.

Heilung der Trennung

Im Nachhinein erscheint es merkwü rdig, dass die sogenannte Geist-Körper-Verbindung erst von jemandem »entdeckt« werden musste, denn ohne sie ist ja gar kein Menschsein möglich. Das ist so, als wü rde man »entdecken«, dass Fuji-Äpfel rot und sü ß sind. Die Erfahrung dieser Apfelsorte schließt diese Eigenschaften mit ein. Ohne sie wäre der Apfel kein Apfel.

Es gab jedoch einen praktischen Grund dafü r, die Geist-Körper-Verbindung entdecken zu mü ssen, der mit einer Dissoziation genannten psychologischen Störung zu tun hat. Dissoziation wird im weitesten Sinne definiert als ein breites Spektrum von Erfahrungen von leichter Loslösung von der unmittelbaren Umgebung (wie die Nichtwahrnehmung von Schmerzen bei einem Marathonläufer) bis hin zu einer schwerwiegenderen Loslösung von körperlichen und emotionalen Erfahrungen (bei Traumaerfahrungen sind dissoziative Phänomene häufig). Kurz gesagt ist Dissoziation die Abspaltung von Wahrnehmungen.

Ärzte und Therapeuten behandeln Dissoziationen am äußersten Ende des Spektrums, an dem Geist und Körper stark voneinander getrennt sind. Anorexie zum Beispiel ist eine fatale Trennung zwischen einer obsessiven geistigen Beschäftigung mit dem eigenen Körpergewicht und der Wahrnehmung der physischen Anzeichen des abgemagerten Körpers, der dringend Nahrung braucht. Eine Magersü chtige könnte sich selbst im Spiegel betrachten und eine junge Frau sehen, die stark fettleibig ist, obwohl sie in Wirklichkeit nur noch vierzig Kilo wiegt und langsam an Unterernährung stirbt.

Dissoziation zeigt sich zum Beispiel auch, wenn eine Person unter Schock gerät und keine Schmerzen verspü rt. Jemand, der gerade in einer kalten Winternacht einen schweren Autounfall hatte, könnte vor Schock zittern, ohne dass er geistig auch nur im Geringsten erkennt, dass ihm kalt ist. Es braucht einen Außenstehenden, der ihm eine Decke umlegt, weil er selbst zu sehr unter Schock steht, um es selbst zu tun.

Die Dissoziation stellt ein Rätsel dar, das weit ü ber ihre medizinischen Implikationen hinausgeht. Schmerz kann betäubt werden, indem man sich bewusst davon loslöst, das genaue Gegenteil eines Schocks. Dies geschieht im inneren Zustand der Ablösung. Warum sind Anorexie und Bulimie Krankheiten, Schock ein Zustand akuter Taubheit und Ablösung ein spirituelles Ziel? Wir mü ssen tiefer in den geistigen Körper hineinblicken, um diese Unterschiede zu verstehen.

Beginnen wir mit der außergewöhnlichen Erfahrung des sü dafrikanischen Schriftstellers und Lehrers Michael Brown. Brown war ein Musikjournalist, der plötzlich eine sehr ungewöhnliche neurologische Störung entwickelte, den sogenannten Cluster-Kopfschmerz (auch Horton-Syndrom genannt), der bei Menschen unter fü nfzig Jahren selten diagnostiziert wird. »Die Erkrankung«, schreibt Brown, »die 1987 begann, manifestierte sich als tägliches mehrfaches Auftreten von qualvollen Schmerzen.« Die Ursache waren schwere Entzü ndungen der Arterien im Gehirn. Browns Fall war ein extremes Beispiel, und fast zehn Jahre lang fand er keine Linderung. Er versuchte es mit verschreibungspflichtigen Medikamenten, ging zu einheimischen afrikanischen Medizinmännern und konsultierte alle möglichen Heiler. Seine verzweifelte Lage veranlasste einen der fü hrenden Neurochirurgen des Landes zu der Aussage, dass Brown entweder eine lebenslange Sucht nach Schmerzmitteln entwickeln oder seine Schmerzen durch Selbstmord beenden wü rde.

»1994«, schreibt Brown, »war ich nach Jahren endloser, nirgendwo hinfü hrender Mü hen mit der Möglichkeit konfrontiert, dass nichts und niemand ›da draußen‹ mein Leiden lindern könnte. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich die Wahl: entweder aus- oder einchecken. «

Die Wahl der zweiten Option erwies sich als entscheidend. Brown experimentierte mit verschiedenen selbstverursachten psychischen Zuständen. Er entdeckte, dass seine Schmerzen nachließen, wenn er sich in eine, wie er es nennt, »hohe persönliche Energiefrequenz« bringen konnte. Er hatte von sich aus eine Geist-Körper-Verbindung hergestellt. »Dies war das erste Flü stern dessen, was ich heute als Gewahrsein des gegenwärtigen Augenblicks bezeichne.«

Ein dramatischer Durchbruch folgte 1996 in der Wü ste von Arizona. Brown nahm an einer Schwitzhü ttenzeremonie teil, unter der Leitung eines Medizinmannes der Yaqui-Indianer. Solche Zeremonien beinhalten intensive Hitze, Schwitzen, Gesänge und Trommeln. Gewöhnliche Gewahrseinszustände werden fü r einige Stunden unter extremen Druck gesetzt. Als Brown am Ende auf Händen und Knien wieder aus der Schwitzhü tte kroch, erlebte er eine tiefgreifende innere Veränderung.

»Als ich dort in der kü hlen Nachtluft stand, vibrierte alles in und um mich herum vor Leben, als wäre ich gerade erst geboren worden … Ich stand in ehrfü rchtiger Stille neben dem knisternden Feuer. Ich blieb noch bis spät in die Nacht und fü hlte das warme Blut durch meine Adern fließen, spü rte die frische Luft meine Lunge massieren und hörte auf den wohligen Rhythmus meines Herzschlags.« Er bezeichnet dies als seine erste Erfahrung von Präsenz oder Sein , von »Auftauchen« im eigenen Leben. Brown beschreibt diese Erfahrung wie folgt: »Ich fü hlte mich physisch präsent, mental klar, emotional ausgeglichen und mit den Schwingungen ›in Ü bereinstimmung‹.«

Wie in seinem Buch »Die Kraft gelebter Gegenwart« beschrieben, fü hrte dieser Durchbruch dazu, dass Brown die Kontrolle ü ber seine neurologische Erkrankung erlangte. Seine Erfahrungen in der Wü ste von Arizona unterstreichen, dass die Präsenz im eigenen Leben – mit anderen Worten, das Gewahrsein im gegenwärtigen Augenblick – erfordert, dass auch der Körper präsent ist. Was ist diese mystische Präsenz, auf die Brown gestoßen ist? Er nimmt dazu fast schon eine religiöse Haltung ein, aber ich glaube, die Antwort ist einfach: Wenn man gegenwärtig ist, kommt es zu einer Begegnung mit der Präsenz.

Nicht jede Person, die sich in eine Schwitzhü tte begibt (oder eine andere intensive spirituelle Praxis ausprobiert), wird eine solche Erfahrung vollkommener Präsenz machen. Wir driften in das Gewahrsein hinein und aus dem Gewahrsein heraus, und wenn wir das tun, schafft das die Unberechenbarkeit der Präsenz. Mit anderen Worten, wir befinden uns normalerweise in einem Zustand der Dissoziation oder der Trennung. Manchmal braucht es einen starken Ruck, um dies deutlich zu machen. Es gibt sowohl in östlichen als auch in westlichen Kulturen die Tradition, den Körper unter starken Stress zu setzen, was dann ein plötzliches »Umschalten« in das volle Gewahrsein zur Folge haben kann. Soldaten erleben dies auf dem Schlachtfeld, wenn sich ein Zustand der Angst und Furcht in die Wahrnehmung des vollkommenen Gewahrseins verwandelt. Solche Wahrnehmungen sind zum Beispiel:

Bei Soldaten, Extremsportlern oder Opfern von Traumata zeigt sich, dass das Gewahrsein plötzlich in einen höheren Bewusstseinszustand umschalten kann. Dies fü hrt jedoch nicht zu der Schlussfolgerung, dass wir unseren Körper mit Stress bestrafen, in den Krieg ziehen oder extreme körperliche Bedingungen anstreben sollten. Menschen, die ein Leben mit viel Stress gewohnt sind, könnten sich in einen vorü bergehenden Zustand veränderten Bewusstseins versetzen, aber es ist viel wahrscheinlicher, dass sie zu Adrenalin-Junkies und nicht zu Yogis werden. Ein erhöhtes Gewahrsein fü hlt sich nicht angespannt, aufgeregt und körperlich anstrengend an – das sind vielmehr alles Kennzeichen eines Adrenalinrausches. Nachdem man in einem höheren Bewusstseinszustand war, fü hlt man sich entspannt und glü ckselig.

Nachdem Michael Brown eine dramatische Bewusstseinsverschiebung erlebt hatte, versuchte er, seinen veränderten Zustand zu beherrschen, um ihn nach Belieben wiederholen zu können. Eine seiner Schlü sselpraktiken im »Präsenz-Prozess« (Presence Process), wie er sein Programm nennt, ist eine erweiterte Praxis der kontrollierten Atmung, die verschiedene detaillierte Schritte umfasst und ein hohes Maß an Disziplin erfordert. Yogis praktizieren schon seit vielen Jahrhunderten etwas in dieser Art. Ich bezweifle jedoch, dass die erforderliche anhaltende Disziplin im Alltag durchfü hrbar ist.

Brown kam aber auch zu derselben Schlussfolgerung, wie ich sie in dem vorliegenden Buch aufzeige: Präsenz stellt sich ganz natü rlich und ohne Anstrengung ein. Man kann sie nicht erzwingen. Man kann ihr jedoch den Weg bereiten, was wir mit der vollkommenen Meditation tun. Ich glaube, es wird immer wahr sein, dass sogenannte Gipfelerlebnisse nach ihrem eigenen Zeitplan auftreten. Sie können versuchen, sie zu finden, aber es ist viel wahrscheinlicher, dass sie Sie finden werden. Dies ist keine ärgerliche List der Natur.

Das Bewusstsein kennt uns besser als wir uns selbst. Präsenz, oder ein Gipfelerlebnis, verwandelt einen Menschen, wenn die Zeit fü r eine Transformation gekommen ist. Die gute Nachricht ist, dass es im Leben eines jeden Menschen eine Zeit fü r wertvolle Erfahrungen wie Euphorie und Glü ckseligkeit gibt.

Bei der vollkommenen Meditation geht es darum, den Zeiger auf der Skala vorwärts zu bewegen und dabei jeden Tag stetig Fortschritte zu machen. Dies mag nicht so spektakulär sein wie ein plötzlicher Ausbruch des Erwachens oder so aufregend wie ein Fallschirmsprung aus einem Flugzeug. Aber es ist etwas Dauerndes, weil Ihr ganzes Sein – Körper, Geist, Emotionen, Gedanken, Wü nsche und Beziehungen – Teil einer natü rlichen Entwicklung wird. Zustände der Trennung, die wir als normal akzeptiert haben, werden wieder mit der Harmonie des geistigen Körpers verknü pft, so wie es sein sollte.

Vollkommene Meditation

Lektion 8: Wie Sie sich im Leben zurechtfinden

Es gibt zwei grundlegende Wege, auf denen wir durchs Leben schreiten: das Denken und das Fühlen. Rationales Denken wird im Zeitalter von Wissenschaft und Technik hoch geschätzt, aber im täglichen Leben mischen sich alle möglichen Arten von Gefühlen ein. Die Menschen gehen davon aus, dass sie ihr Leben rational handhaben, doch bei jedem gibt es eine Mischung aus Denken und Fühlen. Diese Mischung ist verwirrend und muss geklärt werden, wenn man bewusst und mit vollem Gewahrsein durchs Leben gehen will.

Den Weg durchs Leben zu denken, spricht Rationalisten an, aber sie machen sich selbst etwas vor. Gefühl ist ein Teil jeder Erfahrung und Entscheidung im Leben. Nachstehend einige Beispiele dafür, wie das funktioniert.

Denken Sie an ein Lebensmittel, das Sie überhaupt nicht mögen (US -Präsident Bush senior machte einst Schlagzeilen, als er erwähnte, Brokkoli zu hassen). Stellen Sie sich nun vor, wie Sie einen Bissen von diesem ungeliebten Essen in den Mund nehmen. Vielleicht sind es Schnecken, eine rohe Auster oder eine Kohlspeise? Versuchen Sie im Geiste es als gut schmeckend zu genießen, so als ob es Ihre Lieblingsspeise wäre. Es wird Ihnen nicht gelingen, denn der Geschmack ist mit Ihrem Gefühl verknüpft.

Versetzen Sie sich in die Lage eines Obdachlosen, der auf der Straße lebt. Visualisieren Sie die Situation – Sie haben ganz bestimmt schon einmal so einen Menschen gesehen. Stellen Sie sich nun vor, ein Fremder kommt auf Sie zu und überreicht Ihnen einen 500-Euro-Schein. Sie danken ihm ausgiebig, aber dann plötzlich schnappt sich der Fremde den Schein wieder und lacht Sie höhnisch aus. Können Sie sich diese Situation ohne jegliche Emotionen vorstellen? Dies ist ein drastisches Beispiel dafür, dass alles, was wir sehen, mit einer Interpretation auf der Gefühlsebene einhergeht.

Stellen Sie sich vor, Sie sind auf einer Bergwanderung und haben das Zeitgefühl verloren. Es ist jetzt bereits dunkel, die Temperatur sinkt spürbar, und Sie müssen schnellstens zurück in die Hütte. Sie erreichen eine steile Böschung und stolpern fast über die Kante. Sie erinnern sich vage daran, dass es dort nur etwa einen Meter nach unten geht. Wenn Sie sich aber verirrt haben und sich in Wirklichkeit an einer anderen Stelle befinden, könnte es sein, dass Sie an einem bis zu dreißig Meter tiefen Abgrund stehen. Es gibt kein Zurück mehr. Können Sie ohne Angstgefühle mit der Situation fertig werden? Nur wenige Menschen könnten das.

Der springende Punkt dieser Beobachtungen ist, dass wir alle auf unserem Weg durchs Leben weit mehr fühlen , als uns bewusst ist. Wir gehen davon aus, dass wir bei allen Entscheidungen logisch denken. In Wirklichkeit aber überwiegt das Fühlen. Die Menschen der Antike glaubten, dass das Herz der Sitz der Intelligenz sei, und damit lagen sie eigentlich ganz richtig. Das Fühlen hat seine eigene tiefe Intelligenz.

Es ist einschränkend und oft schädlich, diese Tatsache zu übersehen. Es gibt Menschen, die sagen, das Fühlen würde bei ihnen zu sehr dominieren. Sie würden ihre Entscheidungen immer mit dem Herzen treffen, und als Folge würde ihnen deshalb immer wieder das Herz gebrochen. Doch sehr oft geht Liebe auch verloren, wenn man zu viel nachdenkt und den Gefühlen nicht genug vertraut und genügend Aufmerksamkeit schenkt. Ich denke, Herzlichkeit ist ebenso gegenwärtig wie Achtsamkeit.

Zu lernen, wie man seinen Weg durch das Leben fühlt, bietet letzt endlich die beste Hoffnung auf Glück und Erfolg. Fühlen findet im gesamten geistigen Körper statt , was uns einen praktischen Grund gibt, Körper und Geist zu vereinen, anstatt zu versuchen, sie vonein ander getrennt zu halten.

Die Weisheit des Körpers

In vielerlei Hinsicht sollte der Körper, nicht der Geist, das Maß dessen sein, was Meditation erreichen kann. Mit Körper meine ich nicht speziell das Gehirn, obwohl dessen Funktionen sich auf jede Zelle im Körper auswirken, was bedeutet, dass alles, was wir dem Gehirn zuschreiben, ü berall vorhanden sein sollte. Und so ist es auch. Ihr Immunsystem zum Beispiel funktioniert mit einer vollständigen Erinnerung an jede Krankheit, die Sie und Ihre Vorfahren jemals hatten. Dieses Gedächtnis tritt immer dann in Aktion, wenn Bakterien, Viren und Pilze in den Blutkreislauf eindringen. So wie Ihnen ein Gesicht bekannt oder unbekannt vorkommt, so können Immunzellen Bekanntes und Unbekanntes unterscheiden. Sobald sie bekannte Krankheitserreger erkennen, greifen sie sie an. Wenn der Eindringling eine neue genetische Identität angenommen hat, was bei schnell mutierenden Erkältungsviren häufig vorkommt, lernt Ihr Immunsystem rasch alles ü ber diese neue Identität und entwickelt spezielle Antikörper, um sie zu bekämpfen (COVID -19 ist ebenfalls ein Neuankömmling, den Immunzellen erst kennenlernen mü ssen).

Gerade habe ich in wenigen Sätzen vier Aspekte des Bewusstseins umrissen, die nicht nur zum Gehirn, sondern zu jeder Zelle gehören: Gedächtnis, Erkennen, Lernen und Kreativität . Wü rden wir uns nicht von der Vorstellung, dass Meditation »nur im Kopf stattfindet«, in die Irre fü hren lassen, wäre es offensichtlich, dass das Bewusstsein eine allumfassende Eigenschaft ist, die dem Leben selbst innewohnt. Aber die Geschichte hat einen anderen, tiefer liegenden Kern. An sich sind die Qualitäten des Bewusstseins sehr allgemein. Die weißen Gedächtniszellen teilen ihre Erinnerungen mit Herz-, Leber- und Gehirnzellen. Dies ist eine feste Eigenschaft oder Qualität des Bewusstseins. Das Leben ist jedoch ständig in Bewegung und verändert sich, deshalb muss das Gedächtnis mitlaufen und sich ständig an den nächsten eindringenden Krankheitserreger anpassen, aber auch an die nächste Stelle, an der eine Wunde geheilt werden muss, an die nächste abtrü nnige Zelle, die präkanzerös sein könnte, an den Namen der nächsten Person, an den Sie sich erinnern mü ssen, und so weiter. Die Aufgaben des Gedächtnisses sind end- und grenzenlos.

So funktioniert Ganzheitlichkeit. Indem sich das Bewusstsein an die unendlich vielen Erfahrungen des Lebens anpasst, muss es unbegrenzt sein, um sich gleichsam immer auf den neuesten Stand bringen zu können. In der Wirklichkeit weist das Bewusstsein den Weg, und die wichtigste Fü hrungsrolle kommt dem Körper zu. Sie können sich im Tiefschlaf oder im Koma befinden, und Ihre Zellen werden immer noch ü ber volles Bewusstsein und Gewahrsein verfü gen. Dieses Gewahrsein hat seine eigene Weisheit. Bestimmte Prinzipien des Körpers haben sich seit Millionen von Jahren, seit dem Auftauchen der ersten vielzelligen Organismen auf der Erde, bewährt, und diese Prinzipien bestimmen jetzt unser Dasein als geistiger Körper.

WEISHEIT IN AKTION

Der Körper ist von seiner eigenen Weisheit erfüllt und setzt die grundlegendsten Prinzipien des Bewusstseins in die Tat um. Wir erhalten sichtbare Beweise dafür, beginnend auf der Ebene der Zellen:

Die Tatsache, dass diese Grundsätze automatisch gelten, bedeutet nicht, dass sie sich Ihnen nicht ankü ndigen. Vielmehr tasten Sie sich im Leben langsam voran, indem Sie Botschaften ü ber Ihr eigenes Verhalten erhalten, so wie es Ihr Körper empfindet. Dies sind nonverbale Botschaften, die in chemischer Form ü bermittelt werden. Sie lassen sich grob in zwei Kategorien einteilen: Warnsignale und Anzeichen von Wohlbefinden.

WARNSIGNALE : Schmerzen, körperliches Unwohlsein, Muskelverspannungen, Kopfschmerzen, Rü ckenschmerzen und -steifheit, Ü belkeit, Schlaflosigkeit, Lethargie, Mü digkeit.

Viele Menschen gehen bei Auftreten solcher Symptome zum Arzt, um sie als Krankheiten behandeln zu lassen. Genauso wichtig wäre es aber, sie als wichtige Mitteilungen zu beachten. Jedes körperliche Warnsignal hat psychologische Verflechtungen. Ü belkeit kann von falscher Ernährung, aber auch von Nervosität herrü hren, die von leichten Schmetterlingen im Bauch bis zu lähmendem Lampenfieber reichen kann. Lethargie und Mü digkeit sind Zeichen von Stress. Der Stress kann körperlich sein, und beispielsweise von schwerer körperlicher Arbeit verursacht werden, oder mentale Grü nde, wie Termindruck bei der Arbeit, haben. Wenn Sie erkennen, was der Körper Ihnen zu sagen versucht, können Sie sich eher frü her als später auf den Weg der Heilung begeben.

ANZEICHEN VON WOHLBEFINDEN : Leichtigkeit, Energie, guter Muskeltonus, Beweglichkeit, gesunder Schlaf, gute Verdauung, Ausbleiben von Erkältungen und Grippe, strahlende Augen, Tatendrang.

Diese Zeichen sind das Gegenteil von Warnsignalen. In einer Konsumgesellschaft wird mit Produkten hausieren gegangen, die angeblich mehr Energie und Vitalität verleihen, aber in Wirklichkeit ist Wohlbefinden der normale Ruhezustand Ihres Körpers. Die Signale, die Sie empfangen, sind wie das leise Brummen eines perfekt getunten Automotors, nur dass diese Analogie die lebendige Natur des Wohlseins außer Acht lässt. Auch hier gibt es eine psychologische Komponente. Wohlbefinden bringt ein Gefü hl von Optimismus, Zufriedenheit, Sicherheit, Stabilität und Offenheit fü r neue Erfahrungen mit sich.

Wenn man einmal das ganze Ausmaß der Weisheit des Körpers verstanden hat, ist es schwer, nicht vor Scham zu erröten angesichts unseres persönlichen und gesellschaftlichen Versagens, dem zu entsprechen. Die friedliche Koexistenz, die ja nur einen kleinen Teil der Weisheit des Körpers ausmacht, ist in der Menschheitsgeschichte nur sporadisch erreicht worden. Leider herrschen statt des gegenseitigen Verständnisses, das die verschiedenen Organe fü reinander haben, auf gesellschaftlicher Ebene Vorurteile, Misstrauen und Hass vor.

Was ist schiefgelaufen? Wenn der geistige Körper ein nahtloses Ganzes ist, und wenn der Körper so weise ist, warum leiden viele von uns unter Schlaflosigkeit, Angstzuständen, Verdauungsproblemen und stressbedingten Störungen? Wo liegt die Diskrepanz? Stress ist sicherlich eine der Hauptursachen dafü r. Eine psychologische Studie aus Yale aus dem Jahr 2019 ergab, dass sich der Stress der Studenten in der vorangegangenen Dekade verdoppelt hatte. Sucht man nach der Ursache fü r diesen dramatischen Anstieg, kann man auf den zunehmenden Mangel an Ruhe und ablenkungsfreier Zeit hinweisen.

Smartphones zum Beispiel versetzen unser Hirn in einen permanenten Alarmzustand, so als wü rden wir die Haustü re ständig offenlassen. Durch die Reizü berflutung befindet sich unser vegetatives Nervensystem im Dauerstress. Studenten haben darü ber hinaus noch andere Probleme, wie die erdrü ckende Last der College-Schulden. Der Gesamtbetrag dieser in den USA angehäuften Schulden betrug am Ende des Jahres 2018 sage und schreibe 1,47 Billionen Dollar. Solche Schulden erhöhen den Druck, hervorragende Noten zu erzielen, um hinterher sicher eine gut bezahlte Stelle zu bekommen. Und das, obwohl viele Studenten zur Finanzierung des Studiums nebenher noch eine Teilzeitbeschäftigung ausü ben mü ssen. Diese Makrostressoren, wie sie von Dr. Rangan Chatterjee, einem auf Stress spezialisierten englischen Arzt, genannt werden, sind im Gesamtbild aber eigentlich weniger wichtig als die Mikrostressoren.

Die College-Verschuldung und der Leistungsdruck haben sich in den letzten zehn Jahren nicht vervielfacht. Wohl aber die fortwährende Ablenkung durch Videospiele sowie durch SMS , E-Mails und soziale Medien, die zu einem festen Bestandteil des Lebens geworden ist. Der natü rliche Ablauf fü r den geistigen Körper besteht darin, mit Stress fertig zu werden und dann so schnell wie möglich wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Je mehr Mikrostressoren (auch wenn sie ein Smartphone-Sü chtiger erst mal kaum als solche wahrnimmt) sich aber ansammeln, so Dr. Chatterjee, desto näher kommen wir der Schwelle, an der wir unser Leben nicht mehr erfolgreich bewältigen.

Es geht gleich los, wenn man morgens aufwacht und als Erstes die eingegangenen Nachrichten checkt. Hat man Pech, sind vielleicht schon drei dabei, die mit der Arbeit zu tun haben. Der geistige Körper geht in Alarmbereitschaft, und wenn beim Frü hstü ck mit der Familie und auf dem Weg zur Arbeit noch ein paar Mikrostressoren hinzukommen, dann sind Sie in der Minute, in der Sie im Bü ro ankommen, bereits nahe an Ihrer Stressgrenze. Das Ergebnis sind Ungeduld, Gereiztheit, Zerstreutheit und die Wahrscheinlichkeit, im Laufe des Tages wegen irgendetwas völlig Belanglosem in die Luft zu gehen.

Meditation versucht die oben beschriebene Diskrepanz zu reparieren, die Kluft zu ü berwinden. Es ist kein Geheimnis, wer die Reparaturarbeiten leitet – der Körper navigiert uns auf natü rliche Weise an den frü hen Warnsignalen einerseits und Anzeichen von Wohlbefinden andererseits entlang. Die Signale zu beachten ist von zentraler Bedeutung, um ein bewusstes Leben zu fü hren. Wenn Sie in den Meditationsmodus wechseln, kehrt Ihr Geist in einen Zustand des Gleichgewichts zurü ck, der den Gleichgewichtszustand des Körpers widerspiegelt.

Meditation an sich reicht jedoch wegen des geteilten Selbst nicht aus, um die Kluft zu heilen. Das Vorhandensein von schlechten Gewohnheiten, alten Konditionierungen, negativen Emotionen, festen Ü berzeugungen und all den anderen Altlasten, die wir in unserer Psyche mit uns herumtragen, weist auf eine viel tiefere Entfremdung hin. Wir fü hren Krieg gegeneinander und gegen uns selbst. Wir wissen nicht, was gut fü r uns ist, und wenn wir es wissen, gibt es keine Garantie dafü r, dass wir entsprechend handeln werden. Der Zustand des Nichtwahrhabenwollens mag in einigen Fällen effektiv sein, aber letztendlich bahnen sich Mü digkeit, Frustration, Depression, Angst, Selbstverleugnung und Selbstverurteilung auf die eine oder andere Weise ihren Weg.

Wir mü ssen erkennen, dass nur das Bewusstsein die Diskrepanz vollständig lösen kann, und es muss das vollkommene Bewusstsein sein, denn Geist und Körper haben gemeinsam gelitten und mü ssen gemeinsam heilen. Wohlbefinden ist ein Zustand der Ganzheit, und Ihr Leben kann nicht ganz sein, solange es der geistige Körper nicht ist. Das vollkommene Bewusstsein zu erreichen mag Ihnen an diesem Punkt des Buches unmöglich erscheinen, aber bitte lassen Sie sich davon nicht einschüchtern und lesen Sie weiter. Sie werden sehen, dass vollkommenes Bewusstsein nicht nur möglich, sondern ein natü rlicher Zustand ist.

Wenn Ihr Körper zusammen mit Ihrem Geist meditiert, werden Sie zu etwas Gesamtem. Eine der ersten Untersuchungen ü ber Meditation aus den Siebzigerjahren zeigte, dass die Alphawellenaktivität im Gehirn während einer Meditation zunimmt. Alphawellen sind ein Frequenzbereich der Hirnaktivität und organisieren sich synchron. Sie können durch ein EEG (Elektroenzephalogramm) nachgewiesen werden und wurden vom Erfinder des EEG , dem deutschen Neurologen Hans Berger, entdeckt.

Ozeanwellen sind ungeordnet, steigen und fallen nach dem Zufallsprinzip. Das Gehirn aber verwandelt seine elektrische Aktivität nicht in chaotisches Rauschen. Als die Hirnwellenaktivität entdeckt wurde – andere EEG -Messungen zeigten Beta-, Gamma-, Theta- und Deltawellen, von denen jede ein Signal in ihrer eigenen Frequenz sendet, wie bei separaten Radiosendern –, ergab sich daraus ein wahrer Fundus an Informationen. Fü r einen Hirnforscher sind Alphawellen »neuronale Schwingungen im Frequenzbereich von acht bis zwölf Hertz, die durch die synchrone und kohärente elektrische Aktivität der Thalamus-Schrittmacherzellen beim Menschen entstehen«.

Diese Informationen sagen jedoch nichts ü ber die Geheimnisse der Alphawellen aus. Warum hat sich unser Gehirn so entwickelt, dass es Alphawellen erzeugt? Sie mü ssen einem Zweck dienen, sonst wü rden sie zu der Kategorie der evolutionären Veränderungen gehören, die irgendwann in der Vorgeschichte verschwunden sind, weil sie aus darwinistischer Sicht nutzlos waren. Alphawellen sind physisch nü tzlich in Bezug auf das, was sie ü ber den geistigen Körper anzeigen: dass er sich entspannt.

Alphawellen sind hauptsächlich bei geschlossenen Augen feststellbar, im Zustand der leichten Entspannung oder entspannten Wachheit eines Menschen (eine zweite Art von Alphawellen tritt während der REM -Phase auf, also im Traum oder Schlaf). Dieses Phänomen an sich scheint nichts Besonderes zu sein; alle Lebewesen brauchen Ruhe und Schlaf. Es gibt aber menschliche Gewahrseinszustände jenseits der Entspannung, die (soweit wir wissen) nur wir besitzen und in denen Alphawellen dominieren. Dazu gehören:

Reibungslos fließende Gedanken

Wachsam sein im Augenblick

Meditation

Kreative Tätigkeiten

Stabile Stimmung, verminderte Depression

Warum nehmen die Alphawellen während dieser sehr menschlichen Aktivitäten zu? Das ist ungewiss. Der visuelle Cortex ruht sich aus, wenn Sie Ihre Augen schließen. Ist das ein Auftakt zum Beginn einer kreativen Tätigkeit? Das ist nur eine Vermutung, denn verwackelte Linien auf einem EEG reichen noch lange nicht aus, um auch nur annähernd anzudeuten, worauf sich eine Person vorbereitet. Aber jeder, der als kreatives Hobby Bilder malt, kann bezeugen, dass es entspannend wirkt.

Im Gegensatz zur Schläfrigkeit ist der entspannte Zustand, der durch Alphawellen angezeigt wird, recht wachsam. Einige Forscher bezeichnen Alphawellen als »Motor, der die Kraft der Gegenwart antreibt«. Es ist kein Widerspruch, wach und entspannt zugleich zu sein. Meditation fü hrt diesen Zustand ebenfalls herbei. Nur Menschen sind der Kraft der Gegenwart gewahr, und wir haben Jahrhunderte damit verbracht, darü ber nachzudenken, wie wir sie nutzen können.

Der Versuch, die unendliche Vielfalt menschlicher Aktivitäten dem Gehirn zuzuschreiben, wird sich immer als frustrierend erweisen. Wenn Sie etwas Neues und Kreatives tun, gehorcht der gesamte geistige Körper Ihrer Absicht. Kreativität als Phänomen des Gehirns wäre wie ein Radio, das eine neue Beethoven-Sinfonie komponiert. Neuronen können keine Schöpfer sein: Kreativität erfordert einen Geist, der sich in einen besonderen Zustand begibt, welcher durch erhöhte Aktivität der Alphawellen physiologisch angezeigt wird. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, wie Leonardo da Vinci eines Morgens beschloss, das Porträt einer schwer fassbaren und schönen jungen Frau zu malen, die dereinst als Mona Lisa weltberü hmt werden sollte. Sobald er seine Palette in die Hand nahm, grü belte er ü ber Farbe, Gestaltung, Form und die kü nstlerische Technik nach.

Wäre Leonardo heute noch am Leben, könnten wir auf einem EEG die Alphawellen erkennen, die auftreten, wenn er in eine kreative Stimmung gerät. Wenn die Neurowissenschaften eines Tages eine vollständige Karte sämtlicher Schaltkreise im Gehirn erstellen, können wir vielleicht nachvollziehen, Nervenzelle fü r Nervenzelle, was geschehen ist, als die Mona Lisa entstand. Auch dann bleibt es jedoch schwer zu begreifen, dass eine solche Karte in keiner Weise etwas ü ber das Kunstwerk Mona Lisa aussagen wü rde, denn bei der Entstehung eines stü mperhaften Gemäldes eines völlig unbegabten Amateurmalers wären die gemessenen Hirnaktivitäten in etwa gleich. Die Kunst steckt nicht in Alphawellen, sondern im Bewusstsein, das zufällig Alphawellen hervorruft. Dasselbe geschieht bei unzähligen anderen Aktivitäten, die kreativ bis entspannend sein können.

Vollkommene Meditation

Lektion 9: »Ich bin«

Der geistige Körper ist ein schönes Konzept, das so lange ein Konzept bleibt, bis man es in die eigene Erfahrung übersetzt. Das ist eine heikle Angelegenheit. Wir sind es gewohnt, verschiedene Wege für geistige und körperliche Erfahrungen zu beschreiten. Wenn Ihre Handflächen kalt und schweißig sind, geschieht dies auf einem anderen Weg als die Entstehung des Gedankens »Heute Abend habe ich mein erstes Date«, und doch gehören die beiden offensichtlich zusammen, wenn ein erstes Date Sie extrem nervös macht.

Wie können wir die beiden Wege zu einem einzigen vereinen? Nachstehend finden Sie eine Methode, die Körper und Geist durch ein einfaches Manöver verbindet, das darin besteht, überhaupt keinen Weg einzuschlagen, weder körperlich noch geistig. Sie erleben dabei den geistigen Körper, ohne dass die Worte Körper oder Geist ins Spiel kommen. Stattdessen gibt es einfach »Ich bin«, die Erfahrung Ihres Selbstgefühls. Sie müssen sich nicht zwicken, um zu wissen, dass Sie wach sind. Und ebenso wenig müssen Sie sich selbst daran erinnern, dass Ihr Selbstgefühl immer präsent ist.

So funktioniert das Ganze in der Praxis:

Blicken Sie sich im Zimmer um, um zu sehen, was Ihnen ins Auge fällt. Berühren Sie den Gaumen mit der Zunge, um seine Beschaffenheit zu spüren und eventuell auch noch etwas zu schmecken. Riechen Sie alles, was Ihre Nase zufällig wahrnimmt.

Schließen Sie nun die Augen und wiederholen Sie den gleichen Vorgang, indem Sie sich Gesehenes, Strukturen, Geschmacksnoten und Gerüche nur vorstellen.

Die ganze Zeit über sind Sie in diesen Empfindungen verstrickt, die nicht voneinander getrennt sind. Sie vermischen sich zu einer einzigen Empfindung, der Gesamterfahrung des Hier und Jetzt. »Ich bin« ist die Empfindung, mit der Sie sich im Moment identifizieren, wobei Sie manchmal einen Anblick oder einen Gedanken herausgreifen oder sich einfach nur mit der ganzen Empfindung vermischen (ein gutes Beispiel wäre die Erfahrung, an einem Strand in der Sonne zu liegen – dabei nehmen Sie die Brise und das Geräusch der Wellen zusammen wahr).

Während sich das Empfindungsvermögen in diese und jene Richtung bewegt, passt »Ich bin« auf. Sie sind bereit für die nächste Empfindung oder den nächsten Gedanken. Bei genauer Betrachtung werden Sie jedoch erkennen, dass »Ich bin« nicht wirklich ein Chamäleon ist. Es nimmt die Farbe eines Blattes an, den Duft einer Rose, die Textur eines Sandpapiers und so weiter. Aber all dies geschieht in einem offenen Raum, dem Raum des Bewusstseins.

Das Bewusstsein ist der Raum, in dem sich alles abspielt. Bilder, Geräusche, Texturen, Geschmäcker und Gerüche durchdringen den Raum, aber der Raum selbst bleibt unverändert, so wie sich ein Flughafen nicht verändert, wenn ihn täglich Tausende von Menschen durchqueren.

Wenn Sie begreifen, dass »Ich bin« ganz ist, frei von den Gedanken »Ich bin mein Körper« oder »Ich bin mein Geist«, findet eine große Veränderung statt. Sie stellen fest, dass Sie ganz problemlos in diesem unbegrenzten Raum leben können. Er ist sogar der natürliche Ort, an dem Sie sein sollten. Ein gutes Beispiel ist das Körperbild. Wenn Sie denken »Ich bin mein Körper«, wird das Bild, das Sie im Spiegel sehen, wahrscheinlich nicht ideal sein. Sie werden ein Urteil über dieses Bild abgeben, und davon ausgehend fassen Sie vielleicht Vorsätze wie ins Fitnessstudio zu gehen, weniger zu essen, sich nach Anti-Aging-Produkten umzusehen und so weiter.

Aber wenn Sie sich nicht auf ein Bild im Spiegel konzentrieren, das in Ihrem Kopf mit Bildern kollidiert, wie Sie aussehen sollten, dann hat die Realität nichts mehr mit Bildern irgendwelcher Art zu tun. Schließen Sie Ihre Augen, und Sie empfinden entweder Warnsignale oder Anzeichen von Wohlbefinden. Nichts anderes spielt wirklich eine Rolle. Bilder kommen und gehen, wie alle vorübergehenden Empfindungen. Aber im offenen Raum des »Ich bin« sind diese flüchtigen Erfahrungen nur vorübergehende Szenerien. Ihr wirkliches Ich ist ein Passagier, der die vorbeiziehende Landschaft betrachtet. Ihre Aufmerksamkeit schweift in der Landschaft umher, ohne dass Ihr Gewahrsein umherschweift. Ihr Gewahrsein bleibt dort, wo es immer war, im »Ich bin«, ohne zu urteilen. Dieses Nicht-Urteilen, diese Gleichmut, ist sehr befreiend, weshalb sie eines der Hauptziele der vollkommenen Meditation ist.

Wer hat das Sagen?

Ihr Gehirn hat keine Vorlieben oder Abneigungen hinsichtlich irgendeines Geisteszustandes. Es passt sich gehorsam den entsprechenden Anforderungen an. Die Diskrepanz zwischen Geist und Körper hat jedoch eine starke und dauerhafte Wirkung auf das Gehirn. Die Sorge um Geld kann dazu fü hren, dass Sie ein Engegefü hl in der Brust verspü ren und den Appetit verlieren. Sind die Sorgen vorbei, kehren diese Teile des geistigen Körpers wieder in ihren normalen Zustand zurü ck. Bei Menschen, die sich permanent Sorgen machen, passen sich nun aber mit der Zeit die Bahnen im Gehirn entsprechend an. Wenn diese aus Gewohnheit entstandenen Bahnen nicht irgendwann wieder verändert werden, wird das Gehirn zum »Mitverschwörer« der Sorgen. Das Gleiche wü rde fü r jeden Geisteszustand gelten, der lange genug andauert, um einen starken Einfluss auf die Gehirnfunktion zu haben, wie zum Beispiel Depressionen.

Glü cklicherweise ist das Gehirn selbsttransformierend. Traurigkeit löst sich normalerweise von selbst wieder auf, auch ohne dass Sie aktiv etwas unternehmen, um Ihre Stimmung zu heben. Im Gehirn gehen Veränderungen vor, wenn Ihre Stimmung sich wieder aufhellt (oder umgekehrt sich verschlechtert). Wie geht das? Es gibt hier einige Rätsel, die nur das Bewusstsein lösen kann.

Das Gehirn ist nicht wie ein Auto, das nur läuft, wenn man die Zü ndung einschaltet. Es unterliegt vielmehr zwei Steuerungsmechanismen und gehorcht sowohl bewussten als auch unbewussten Impulsen. Niemand hat bisher wirklich erklären können, wie dies geschieht. Unbewusste Prozesse laufen ohne Anweisungen immer weiter. Sie sind Ihres Blutdrucks, der Herzfrequenz, der Verdauung, der Aktivität Ihres Immunsystems, des Gleichgewichts der endokrinen Hormone und so weiter nicht gewahr. Im Schlaf verlieren Sie das Gewahrsein, dass Sie ü berhaupt einen Körper haben. Wenn Sie wach sind, haben Sie Gedanken, ohne möglicherweise irgendetwas ü ber neuronale Abläufe zu wissen. Ein Mensch, der ü ber keinerlei angelernte Kenntnisse ü ber den menschlichen Organismus verfü gt, wird ü berhaupt nicht wissen, dass er ü berhaupt ein Gehirn hat. Er hat es ja noch nie gesehen.

Es ist normal fü r das Gehirn, je nach Aufgabe entweder unabhängig oder gemäß Ihren Anweisungen zu arbeiten. Diese zweifache Steuerung erscheint noch mysteriöser, wenn wir danach fragen, wie das Nervensystem den Unterschied zwischen bewusster und unbewusster Aktivität erkennen kann. Die Nerven zum Beispiel, die mit der Atmung verbunden sind, erledigen ihre Arbeit automatisch und mit dem richtigen Gefü hl fü r die Situation, in der Sie sich befinden. Die Atmung gibt verräterische Hinweise auf Kampf, Stress, Anspannung, sexuelles Verlangen und Mü digkeit – ebenso wie auf externe Faktoren wie die Höhe, die Menge an Sauerstoff, Schadstoffe und Allergene in der Luft usw. Gleichzeitig können Sie mit einer bestimmten Absicht eingreifen, zum Beispiel mit der Entscheidung, tief durchzuatmen. Sie können absichtlich seufzen oder gähnen, auch wenn dies normalerweise unwillkü rlich geschieht. Wenn Sie im Begriff sind zu niesen und versuchen, das Niesen zu stoppen, kämpfen die beiden Hälften des Atemmechanismus, die freiwillige und unfreiwillige, gegeneinander, und irgendwann gewinnt das Niesen, egal wie sehr Sie versuchen, den Niesreiz zu unterdrü cken.

Ich glaube nicht, dass das Gehirn selbst entscheidet, ob es automatisch arbeitet oder nicht. Eine solche Erklärung wü rde Ihr Gehirn bewusster machen, als Sie es sind. Das wäre, als ob ein selbstfahrendes Auto nicht nur seiner Software gehorcht, sondern auch den Fahrer kontrolliert und ihn daran hindert, Entscheidungen zu treffen. Oder stellen Sie sich vor, Sie wollen einer Freundin zuwinken, während sie mit einem Zug abfährt, aber Ihr Gehirn entscheidet selbstständig: »Nö, mit Abschieden will ich nichts zu tun haben« und hindert Sie daran, den Arm zu heben. Das geschieht aber nicht, niemals.

Der Grund, warum dieser Punkt nicht fü r jeden offensichtlich ist, liegt darin, dass der geistige Körper so ü bergangslos ist, dass man selbst nicht immer sagen kann, wer die Kontrolle hat. Alle möglichen Dinge – plötzliche Wut, Aufregung, sexuelle Begierde, Panikattacken, Phobien, schlechte Gewohnheiten, Sü chte, zwanghaftes Verhalten und Denken, Depressionen, Angstzustände – ü berkommen einen Menschen, als hätten sie einen eigenen Willen. Betrachten wir zum Beispiel eines der psychologischsten Sonette Shakespeares, in dem die Frage, wer das Sagen hat, eine Hauptrolle spielt.

Im Sonett 129 geht es darum, dass das sexuelle Verlangen die Oberhand gewinnt und dann losgelassen wird, sobald der Orgasmus erreicht ist. In der Ü bersetzung von Stefan George lauten die ersten 8 Verszeilen:

Verbrauch von geist in schändlicher verzehr

Ist lust in tat und bis zur tat ist lust

Meineidig mörderisch blutig voll unehr

Wild tierisch grausam roh des lugs bewusst.

Genossen wo gleich drauf verachtung trifft

Sinnlos erjagt und gleich nach dem empfang

Sinnlos gehasst wie ein verschlucktes gift

Eigens gelegt dass toll wird wer es schlang.

In acht intensiven Gedichtzeilen erfassen wir das Extreme der Doppelsteuerung des Gehirns. Ein fleischlicher Impuls »Sinnlos erjagt« [auf Englisch »past reason« – wörtlich »jenseits der Vernunft«] ü bernimmt das Kommando. Die Lust ist so mächtig, dass Shakespeare sie so beschreibt, wie man einen grausamen Diktator in einem totalitären Staat beschreiben wü rde (meineidig, mörderisch, blutig usw.). Wenn die Lust ihren »kopflosen« Lauf genommen hat, gibt es ein Nachspiel. Die Rationalität kehrt zurü ck, man fü hlt sich beschämt und reumü tig, und nun sieht die Lust im Rü ckblick aus wie ein Köder, der in eine Falle gelegt wurde, um einen hinein zu locken.

Warum war Shakespeare so versessen darauf, sexuelle Begierde mit Scham zu verbinden? Vielleicht war es ein persönliches Geständnis des verheirateten Shakespeare, dessen Frau in Stratford zurü ckblieb, während er monatelang in London unterwegs war. Gesteht ein Betrü ger seine Tändeleien öffentlich in einem Gedicht oder sagt er nur, dass er in Versuchung gefü hrt wurde? Scham könnte auch religiöse Ü berzeugungen, dass Sex Sü nde sei, widerspiegeln, obwohl die Engländer des Elisabethanischen Zeitalters, vor allem die in Theaterkreisen, ein ziemlich wilder Haufen mit lockerem Lebenswandel waren. Puritanische Prediger stellten Schauspieler gerne auf eine Ebene mit Taschendieben und Huren. Im Licht freiwilliger und unfreiwilliger Handlungen betrachtet, geht es im Sonett 129 mehr um die conditio humana als nur darum, dass der Sexualtrieb die Macht ü bernimmt, als ob er einen eigenen Willen hätte.

Das Rätsel, wer das Sagen hat, wird durch ein faszinierendes Experiment bekräftigt, bei dem es um »Aha!«-Erlebnisse ging, Heureka-Momente des kreativen Durchbruchs, in denen einem schlagartig und oft unerwartet ein Licht aufgeht. Professor Joydeep Bhattacharya und seine Kollegen von der Goldsmiths University of London baten eine Gruppe von Freiwilligen, innerhalb von 60 bis 90 Sekunden ein Worträtsel zu lösen. Wenn sie die Lösung nach 90 Sekunden nicht gefunden hatten, erhielten sie einen Tipp. Nur relativ wenige Probanden lösten das Rätsel, und interessanterweise ließ sich anhand ihrer Gehirnwellen, gemessen durch ein EEG , jeweils voraussagen, wer in welche Gruppe fallen wü rde. Offenbar begü nstigte ein bestimmtes Hirnstrommuster den Lösungsprozess.

Bei denjenigen, die eine plötzliche Erkenntnis hatten, um das Rätsel zu lösen, zeigte sich eine Spitze in hochfrequenten Gammawellen, und zwar immer im rechten Temporallappen, dessen Hauptaufgabe unter anderem Objekterkennung, verbale Erinnerungen, Lesen und Sprache sind. Die Spitze in den Gammastrahlen zeigte sich etwa acht Sekunden, bevor dem Proband die Antwort einfiel. Die Forscher kommentierten, dass diese Spitze in den Gammastrahlen die gleiche Aktivität ist, die auch bei transformatorischem Denken auftritt – der Ü bergang vom Alltagsdenken in die Erfahrung eines »Aha!«-Moments.

Im Zuge dieses Experiments wurde darü ber spekuliert, woher gute Ideen kommen. Ein Kommentator vermutete deren Ursprung in einem »Netz von Zellen, die die benachbarten möglichen Verbindungen erkunden, die sie im Geist eines Menschen herstellen können«. Diese Schlussfolgerung scheint nur dann auf die richtige Spur zu fü hren, wenn man glaubt, dass Gehirnzellen in der Lage sind, sich umzusehen, die richtigen Verbindungen zu finden und von sich aus »Aha« zu sagen, bevor sie dem Geist ein »Aha!« ü bermitteln.

Zwischen den Schaltkreisen im Innenleben eines Computers und dem, was Sie auf dem Bildschirm sehen, der Ihnen Wörter, Fotos, Videos und so weiter anzeigt, besteht eine Diskrepanz. Wenn Sie sich einen Fallschirmspringer auf YouTube anschauen, passiert das Video dann in den Schaltkreisen Ihres Computers oder Smartphones? Ganz sicher nicht. In den Schaltkreisen erfolgt lediglich eine digitale Verarbeitung. Das Video findet in Ihrem Gewahrsein statt.

Ebenso erlebt der Fallschirmspringer in dem Video nicht den Rausch des freien Falls in seinem Gehirn. Das Gehirn ist ein organischer Schaltkreis, der verschiedene chemische Ionen und elektrische Signale verarbeitet. Der Fallschirmsprung geschieht im Gewahrsein. Die Schaltkreise des Gehirns können diese Erfahrung genauso wenig machen wie ein Computer, der mit dem Fallschirm aus einem Flugzeug gestoßen wird. Ohne ein Selbst gibt es keinen Erfahrenden. Nebenbei gesagt möchte ich die Neurowissenschaften nicht verunglimpfen – um zum Beispiel Heilmittel fü r zerebrale Leiden wie Epilepsie, Parkinson und Alzheimer zu finden, ist ein Verständnis der Hirnaktivität unbedingt notwendig.

Ich möchte aber darauf hinweisen, dass Menschen schon seit Tausenden von Jahren keine Gefangenen ihrer Schaltkreise mehr sind. Irgendwann fand in der Menschheitsgeschichte ein Evolutionssprung statt, als der Homo sapiens die Kluft vom neuronalen Schaltkreis im Gehirn zum Gewahrsein ü berbrü ckte. Der hochentwickeltste Hochgeschwindigkeitscomputer kann einen solchen Sprung nicht vollziehen, aus dem einfachen Grund, dass ein Computer, wie das Gehirn, keine Erfahrungen hat.

Wer hat also das Sagen? Die einzige tragfähige Antwort ist, dass niemand das Sagen hat. Der geistige Körper arbeitet einfach in dem einen oder anderen Modus, manchmal freiwillig, manchmal automatisch. Es muss niemand das Sagen haben, nicht einmal Sie. Auch Sie sind Teil der Ganzheit. Wenn es eine Antwort darauf geben muss, dann können wir konstatieren, dass das Bewusstsein fü r sich selbst verantwortlich ist. Es gibt nichts jenseits des Bewusstseins, das das Sagen haben könnte. (Damit trete ich auf religiöse Zehen, ich weiß, aber Gott die Verantwortung zu ü bertragen, fü gt einfach eine weitere Ebene des Bewusstseins hinzu. Es geht nicht ü ber das Bewusstsein hinaus, weil das nicht möglich ist.)

Eine Visualisierung könnte helfen. Denken Sie an den Ozean. Er kann stü rmisch oder ruhig sein. Warme und kalte Strömungen fließen durch ihn. Unter der Oberfläche lebt die unzählige Vielfalt der Meerestiere. Jede Kreatur durchläuft ihren Lebenszyklus. Einige sind Raubtiere, andere sind Beutetiere. Wer ist fü r den Ozean verantwortlich? Es kann nur der Ozean selbst sein. Er ist ein sich selbst erhaltendes Ökosystem. In ähnlicher Weise ist das Bewusstsein ein Ökosystem, das fü r alles verantwortlich ist, was im geistigen Körper geschieht.

Vollkommene Meditation

Lektion 10: Unbegrenztheit

Für einen Fisch, der in einem Korallenriff schwimmt, gibt es keine Grenze zum Ozean. Als Ökosystem schuf und erhält der Ozean alles Leben darin. Bewusstsein ist das allumfassende Ökosystem. Es hat wirklich keine Grenzen, denn im Gegensatz zu einem fliegenden Fisch, der aus dem Ozean springen kann, um wahrzunehmen (wenn er ein menschliches Gehirn hätte), dass es ein nicht wassergebundenes Ökosystem gibt, kann niemand aus dem Bewusstsein springen. Eine solche Bewegung ist unvorstellbar.

Wir sind mit dieser Unbegrenztheit verbunden. Alles, was das Bewusstsein in seiner Gesamtheit betrifft, gilt auch für uns. Die Meditation bringt uns dem unbegrenzten Geist, der der Gesamtgeist ist, immer näher und näher. Wenn der Gesamtgeist erlebt wird, fallen die Grenzen weg. Man erkennt, wie unnötig es für den Geist ist, sich selbst so viele Grenzen aufzuerlegen. Wenn man erwacht, wird einem klar, wie sinnlos Begrenzungen sind.

Auf der Reise zum unbeschränkten Geist wird das Ziel nicht auf einmal erreicht – das Ganze ist ein Prozess. Aber es hilft, eine Vision des Ziels zu haben. Hier sind ein paar einfache Möglichkeiten, sich für einen oder zwei Momente mit dem Unbegrenzten zu verbinden.

Legen Sie sich an einem sonnigen, wolkenlosen Tag auf den Rücken, sodass Ihr Sichtfeld mit dem klaren blauen Himmel gefüllt ist. Tauchen Sie in das Gefühl dieses Blaus ein und machen Sie es zu Ihrem Hauptempfinden. Blicken Sie nun über das Blaue hinaus. Es gibt kein Rezept dafür, versuchen Sie es einfach. Für einen kurzen Moment können Sie spüren, dass der Himmel sozusagen die Grenze des Unendlichen ist.

Schließen Sie die Augen und stellen Sie sich vor, Sie seien eine NASA -Sonde, die mit einer enormen Geschwindigkeit, Hunderte von Kilometern pro Sekunde, in den Weltraum fliegt. Sehen Sie die Sterne vorbeiziehen und entfernte Galaxien näherkommen. Beschleunigen Sie immer mehr, und lassen Sie dann die Sterne und Galaxien verschwinden. Jetzt gibt es nur noch die schwarze Leere, aber kein Gefühl von Geschwindigkeit. Sie schweben in einem unbegrenzten Raum, ohne eine andere Erfahrung außer seiner Unbegrenztheit.

Hören Sie sich ein Musikstück an, das Sie lieben, und nehmen Sie seine anmutige Schönheit wahr. Stellen Sie die Musik ab, aber verweilen Sie in der Anmut der Musik. Die Quelle der Musik ist verschwunden, aber die Anmut existiert auch für sich. So fühlt sich grenzenlose Glückseligkeit an – sie braucht keinen Grund, sie ist einfach da.

Wenn das Bewusstsein fü r sich selbst verantwortlich ist, kann es alles tun. Aber unsere persönliche Erfahrung ist ganz anders. Wir können nicht alles tun. Oft beschleicht uns das Gefü hl, dass unsere Taten so dü rftig, so unzureichend sind, dass sie kaum eine Rolle spielen. Das muss sich ändern. Andernfalls bleiben uns nur Macht- und Möglichkeitsfantasien, die sich nicht in die Realität umsetzen lassen. Wo ist die vollkommene Macht des Bewusstseins, wo es wirklich zählt, hier und jetzt? Das ist die Frage, die wir als Nächstes ausloten werden.