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Befreien Sie sich

Das Loslösen findet ganz im Bewusstsein statt, denn dort spielen sich alle Erfahrungen ab. Die vollkommene Meditation macht sich diese Tatsache in perfekter Weise zunutze. Wenn Sie etwas nicht vergessen oder jemandem etwas nicht verzeihen können, gibt es kein körperliches Heilmittel. Nur das Bewusstsein kann das Bewusstsein verändern. Gedächtnislöschende Medikamente gibt es nicht, und wenn es sie gäbe, ist es schwer vorstellbar, wie ein solches Medikament gezielt schlechte Erinnerungen ausmerzen und die guten intakt lassen könnte.

Es gibt physische Spuren wie Fingerabdrü cke an einem Tatort oder Fußabdrü cke im Schnee. Aber auch das Bewusstsein hinterlässt Spuren. Die Suche nach Antworten in den Gedächtniszentren des Gehirns ist hier wenig Erfolg versprechend. Man braucht ein Gehirn, um sich an Dinge zu erinnern, so wie man ein Fernsehgerät braucht, um elektronische Signale in Bilder auf einem Bildschirm umzuwandeln. Wenn Sie den Fernseher aus einem Fenster im dritten Stock werfen, wird er Ihnen keine Bilder mehr anzeigen, die Signale jedoch bleiben davon unbeeinflusst.

In ähnlicher Weise erzeugt das Gehirn Gedanken, Bilder und Erinnerungen aus Signalen, die vom Bewusstsein ausgehen. Wenn Sie eine Gehirnerschü tterung erleiden, kann das Gehirntrauma eine vorü bergehende Amnesie verursachen, und offensichtlich ist der dauerhafte Gedächtnisverlust einer der gefü rchtetsten Aspekte der Alzheimer-Krankheit. Bei Gehirnverletzungen und Demenz wird das Gedächtnis geschädigt, aber das sagt wenig ü ber das normale Gedächtnis aus. Das normale Gedächtnis bleibt vielmehr ein fast gänzliches Rätsel. Es stimmt, dass die Gedächtnisforschung in den letzten Jahrzehnten viele neue Erkenntnisse gewonnen hat, die weit ü ber das hinausgehen, was Medizinstudenten frü her gelehrt wurde. Nach allem, was wir frü her ü ber das Gedächtnis wussten, hätte der Kopf ebenso gut mit Sägemehl gefü llt sein können. Heute können Forscher bei Menschen falsche Erinnerungen schaffen und bei Versuchstieren Erinnerungen löschen. Beides schaffen wir aber eigentlich auch ganz gut alleine.

Der gefeierte englische Neurologe Oliver Sacks war im Herbst 1940, als die Angriffe der deutschen Luftwaffe auf London begannen, sieben Jahre alt. Seine Familie lebte in der Zone, in der deutsche Militärflugzeuge Brandbomben abwarfen. Dabei handelte es sich um Bomben, die nicht mit Sprengstoff, sondern mit leicht brennbaren Chemikalien wie Magnesium, Phosphor oder entflammbarem Petroleum (Napalm) gefü llt waren. Ihr Zweck war es, Flächenbrände zu verursachen und Angst und Schrecken unter der Bevölkerung zu verbreiten. Sacks erinnerte sich daran, wie sein Vater nach dem Fall einer Brandbombe mit Wassereimern in den Hinterhof rannte, nur um feststellen zu mü ssen, dass sich die Flammen weiter ausdehnen, wenn Wasser auf ein Magnesium- oder Phosphorfeuer gegossen wird. Das Feuer wird dadurch letztendlich noch schlimmer.

Erst Jahrzehnte später, als Sacks sich daran machte, seine Autobiografie zu schreiben, erfuhr er von seinem älteren Bruder, dass keine dieser lebhaften Erinnerungen stimmte. Wie alle kleinen Kinder war Sacks während der Luftschlacht um England nämlich aufs Land geschickt worden. Er befand sich gar nicht in London, als die Brandbomben in den Hinterhof fielen. Sein älterer Bruder hingegen hatte alles miterlebt, und Sacks hatte die Erzählungen des Bruders zu seinen eigenen Erinnerungen gemacht. Seine wirkliche Erinnerung, nämlich die an die Abwesenheit von zu Hause auf dem Land, war also gelöscht und durch eine falsche Erinnerung ersetzt worden.

Da wir im Grunde keine Ahnung haben, wie Gedanken ü berhaupt entstehen, tappen wir im Dunkeln, wenn es um das Verständnis geht, wie sie erinnert oder vergessen werden. Auf Sanskrit gibt es den Begriff Samskara , der unbewusste geistige Eindrü cke bezeichnet, die unserem Verhalten zugrunde liegen. Es gibt positive Samskaras, wie musikalisches oder kü nstlerisches Talent, oder negative, wie eine Neigung zur Gewalt.

Die Samskaras entstehen in der Vergangenheit und sind im Unterbewusstsein gespeichert. Wenn sie an die Oberfläche des Bewusstseins dringen, wird dies Erinnerung genannt. Niemand weiß aber, warum die eine Erinnerung einen unauslöschlichen Eindruck macht und die andere nicht. Ein Anhaltspunkt ist die Emotion. Wenn mit einer Erfahrung eine starke Emotion verbunden ist, ist die resultierende Erinnerung wahrscheinlich auch intensiver und lebendiger. Deshalb erinnern Sie sich an Ihren ersten Kuss, aber nicht an die Farbe des Autos Ihres Nachbarn im selben Jahr. Es ist ziemlich offensichtlich, dass starke Emotionen Erinnerungen unauslöschlicher machen als neutrale Erlebnisse, die keine intensiven Gefü hle hervorrufen. Jeder, der 1963 schon erwachsen war, weiß noch, wo er die Nachricht vom Attentat auf US -Präsident Kennedy vernommen hat. Dies ist eines der schockierendsten Ereignisse im kollektiven Gedächtnis der Menschheit, ebenso wie der Unfalltod von Lady Diana. Weniger bedeutendere, persönliche Erinnerungen sind viel flü chtiger.

Gedächtnisforscher sind weit davon entfernt zu wissen, warum das Gedächtnis selektiv, unvollkommen und persönlich ist. Es ist nicht einmal klar, an wie viel von der Vergangenheit man sich erinnert. Einige außergewöhnliche Menschen können jeden Moment ihrer Vergangenheit abrufen, einschließlich des Musters auf der Tapete ihres Schlafzimmers, als sie fü nf Jahre alt waren, der Fernsehsendungen, die sie an einem bestimmten Datum gesehen haben, oder, sofern sie sich fü r Fußball interessieren, wie in der Vorrunde der Fußball-WM 1990 Kamerun gegen Rumänien gespielt hat (2:1). Kurz gesagt, ihre Erinnerung ist lü ckenlos.

Nur sehr, sehr wenige Menschen verfü gen jedoch ü ber ein solches ü berlegenes autobiografisches Gedächtnis. Niemand weiß, ob ein durchschnittlicher Mensch seine gesamte Vergangenheit im Gedächtnis gespeichert hat oder nicht. Es geht vielleicht auch weniger um das Gedächtnis, sondern um das Abrufen der Erinnerungen. Wir mü ssen in der modernen westlichen Welt bescheiden genug sein, uns einzugestehen, dass die Genetik vielfach keine besseren Erklärungen fü r etwas bietet als einfache Alltagserfahrungen. Wenn ein Kind seinen Eltern in irgendeiner Weise ähnelt, ist die Erklärung »Das liegt in der Familie« nicht viel weniger präzise als jene aufgrund der Identifizierung eines bestimmten Gens. In beiden Fällen wird lediglich eine Wahrscheinlichkeit ausgedrü ckt, und manchmal nicht einmal das. Die Körpergröße eines Menschen wird zum Beispiel von mehr als zwanzig verschiedenen Genen beeinflusst, ebenso wie von der Ernährung und anderen Faktoren in der Kindheit.

Angeborene genialische Veranlagungen lassen sich ebenfalls keine Vorschriften von irgendeinem Gen machen. Auf YouTube können Sie sehen, wie ein siebenjähriges Mädchen, Himari Yoshimura aus Japan, mit schillernder Virtuosität Paganinis Violinkonzert Nr. 1 spielt. Die Tatsache, dass Yoshimura 2019 den ersten Preis bei einem prestigeträchtigen Violinwettbewerb gewann, in einem Alter, in dem so manch andere Kinder erst lernen, ihre Schuhe zu binden, wirft das gegenwärtige Wissen ü ber die Kapazität der frü hen Entwicklung des Gehirns völlig ü ber den Haufen.

Ob wir die Samskaras nun eingeprägte Erinnerungen, gemeinsame Familienmerkmale, angeborene Neigungen, Genie, erstaunliche Talente oder Alltagserfahrungen nennen, es stellt sich die Frage, wie wir ihnen entgegenwirken, wenn sie uns beschränken? Dazu bedarf es der Intervention des Bewusstseins. Wir sprechen hier ü ber psychische Einschränkungen – körperliche Samskaras wie eine Erbkrankheit oder ein Geburtsfehler sind ein anderes Thema. Lassen Sie mich veranschaulichen, was mit einer in der Vergangenheit verwurzelten psychischen Einschränkung gemeint ist.

Ein Kind, das in der Schule Schwierigkeiten hat, braucht Unterstü tzung und Hilfe von Lehrern und Eltern. Wenn es diese Hilfe nicht bekommt, redet eine innere Stimme dem Kind ein: »Niemand wird dir jemals helfen.« Und falls dem Kind, schlimmer noch, das Gefü hl vermittelt wird, dumm zu sein, fängt die innere Stimme an zu sagen: »Du bist nicht gut genug.«

Kü rzlich lernte ich einen Mann mittleren Alters – nennen wir ihn Randy – kennen. Er war ein erfahrener Software-Programmierer, hatte aber wenig Selbstvertrauen, und es fiel ihm schwer, sich am Arbeitsplatz zu behaupten. Er erzählte mir von seiner traumatischen Kindheit: In der ersten und zweiten Klasse hatte er große Mü he mit dem Unterrichtsstoff und war dadurch sehr gehemmt und sprach kaum. Die Lehrer stuften ihn als lernbehindert ein, und seine Eltern stimmten zu, ihn in eine Sonderschulklasse zu schicken. Dort zeigte er weiterhin schlechte Leistungen, und die Nähe von Kindern, die aufgrund von Verhaltensproblemen in die Klasse gesteckt worden waren, machte ihm Angst.

Zwei Jahre vergingen auf diese Weise, bevor seine Eltern zum ersten Mal bemerkten, dass es Randy schwerfiel, einen Ball zu fangen. Bei einer Augenuntersuchung wurde dann extreme Kurzsichtigkeit festgestellt. Es kam heraus, dass Randy eigentlich einen ü berdurchschnittlich hohen IQ hatte, aber in der Schule nicht mithalten konnte, weil er schlichtweg nicht lesen konnte, was auf der Tafel geschrieben stand. Er wurde daraufhin wieder von einer normalen Schule aufgenommen und zeigte, jetzt mit Brille, gute Leistungen. Die zwei Jahre, in denen er missverstanden und als Versager angesehen worden war, hatten ihn jedoch schwer gezeichnet.

Als junger Erwachsener begann Randy zu meditieren und konnte sich so von den traumatischen Erlebnissen in seiner Kindheit allmählich etwas befreien. Er identifizierte sich nicht mehr damit, und wenn die alten verletzenden Erinnerungen gelegentlich wieder auftauchten, fü hlte er sich weniger schlecht. Er ließ die Vergangenheit hinter sich. Der Prozess, sich von der Prägung durch Samskaras zu lösen, kann auf natü rliche Weise geschehen, wenn das Ego, das tief in der Vergangenheit verwurzelt ist, einem erweiterten Selbstgefü hl Platz macht (in Randys Fall mithilfe von Meditation).

Randys Geschichte erinnerte mich an ein Sprichwort, das ich zum ersten Mal als Kind in Indien gehört hatte: Samskaras werden zuerst in Stein, dann in Sand, dann im Wasser und schließlich in der Luft geschrieben. Dies drü ckt auf poetische Weise aus, wie das Bewusstsein die Wirkung von Eindrü cken aus der Vergangenheit abschwächt. Aber wie lässt sich dieser Prozess praktisch veranschaulichen? Um diese Frage zu beantworten, mü ssen wir uns genauer ansehen, wie Erfahrungen aus der Vergangenheit ü berhaupt haften bleiben.

Vollkommene Meditation

Lektion 13: Anhaftung

Haftend ist eine passende Umschreibung für Erfahrungen, die einen tiefen Eindruck hinterlassen und kleben bleiben. Das Bild der Anhaftung ist anschaulich, aber es ist nur ein Bild. Niemand kann vorhersagen, welche Erfahrungen haften bleiben und welche sich wieder verflüchtigen, ohne einen Eindruck zu hinterlassen. Im Vordergrund steht für uns sowieso die Gegenwart. Das Loslösen geschieht hier und jetzt. Erklärungen aus der Vergangenheit sind faszinierend, aber nicht wirklich relevant. Gedächtnisstudien haben zum Beispiel gezeigt, dass der Erinnerung an etwas Traumatisches in der Vergangenheit, wie zum Beispiel, dass man als Dreijähriger im Supermarkt in Panik geriet, weil die Mutter verschwunden war, vielfach nicht zu trauen ist. Oftmals verschmelzen in der Erinnerung mehrere Panikerlebnisse, die man im Gedächtnis nicht mehr auseinanderhalten kann. Außerdem sind die Details solcher Erinnerungen eher traumartig als fotografisch. Möglicherweise hatten Sie Ihre Mutter auch in einem Möbelhaus oder auf einem großen Parkplatz aus den Augen verloren.

Im Grunde kann man sich der »Anhaftung« durch zwei ihrer Aspekte nähern: Überzeugung und Emotionen. Erfahrungen bleiben an uns haften, wenn wir überzeugt sind, dass sie unserer persönlichen Geschichte etwas Wahres hinzufügen, und sie haften noch fester, wenn sie emotional aufgeladen sind. Lassen Sie uns zuerst den Aspekt der Überzeugung betrachten. Halten Sie einen Moment inne und denken Sie an eine persönliche Eigenschaft, von der Sie glauben, dass sie auf Sie zutrifft, formuliert als »Ich bin ___.« Füllen Sie die Lücke mit einem positiven Begriff wie sympathisch, attraktiv oder intelligent . Möglicherweise fällt Ihnen das gar nicht so leicht, weil einem vielfach eher negativ besetzte Wörter einfallen, um sich selbst zu beschreiben, wie unsozial, ungeschickt oder unscheinbar .

Welche Eigenschaft Sie auch immer gewählt haben, sie kam nicht aus heiterem Himmel. Sie war Ihnen als Überzeugung unter Bedingungen eingeprägt worden, die dafür sorgten, dass sie haften blieb. Auf verwurzelte Überzeugungen treffen im Allgemeinen die folgenden vier Aussagen zu:

Wir glauben der ersten Person, die uns etwas gesagt hat.

Wir glauben Dinge, die oft wiederholt werden.

Wir glauben den Menschen, denen wir vertrauen.

Wir haben keine gegenteilige Aussage gehört.

Egal, ob Sie glauben, dass Sie attraktiv oder unattraktiv sind, es wäre typisch, dass die erste Person, die Ihnen das gesagt hat, Ihr Vater oder Ihre Mutter war. Mit diesem einmal eingepflanzten Samenkorn hörten Sie immer und immer wieder das Gleiche oder machten wiederholte Erfahrungen, die die Annahme noch verstärkten. Als kleines Kind vertrauten Sie Ihren Eltern und glaubten, was sie Ihnen erzählten. Und später im Leben hat niemand dieser Aussage von damals widersprochen.

Persönliche Dinge, die uns unsere Eltern erzählt haben, die sogenannten normativen Aussagen, sind besonders stark. »Du bist faul«, »Du bist nicht so hübsch wie andere Mädchen« oder »Du wirst nie viel wert sein« werden von kleinen Kindern als Fakten angesehen. In Wirklichkeit sind sie von subjektiven Werten oder Normen durchdrungen. Die Aussage »Du hast eine Eins in Mathe« hat kaum eine subjektive Wirkung im Vergleich zu einer normativen Aussage wie »Wow, du hast eine Eins in Mathe bekommen, du bist echt super«. Letztere Aussage wird viel wahrscheinlicher haften bleiben.

Die anhaftenden Dinge, die Ihnen über sich selbst erzählt wurden, sind Ihnen als Samskaras eingeprägt. Der Eindruck kann tief oder oberflächlich sein und wird zu einem Bestandteil Ihrer Lebensgeschichte. Der Einfluss, den ein anhaftendes Erlebnis ausübt, ist individuell ganz verschieden. Wenn Ihnen zum Beispiel gesagt wird, dass Sie nicht so hübsch sind wie andere Mädchen, kann das zu ganz unterschiedlichen Reaktionen bei Ihnen führen: Sie könnten Frauen beneiden, die Sie für schöner halten; Sie könnten denken, schön sei gleich dumm; Sie könnten Ihr persönliches Aussehen vernachlässigen oder sich umgekehrt auf Kosmetika fixieren – jede Reaktion ist möglich.

Es gehört zum Erwachen dazu, den Unterschied zwischen Realität und Illusion zu erkennen. Das Bewusstsein wirkt sich auf alle Aspekte Ihres Lebens aus, aber Sie können sich auch auf Überzeugungen konzentrieren, die Sie unbewusst angenommen haben. Sich anhaftender Überzeugungen bewusst zu werden, erfordert eine Analyse – man sieht sich die vier Elemente hinter starken Überzeugungen an und fragt:

Wer hat mir das zuerst gesagt?

Wurde es oft wiederholt?

Warum habe ich der Person vertraut, die es mir gesagt hat?

Gibt es einen Grund, das Gegenteil anzunehmen?

Mit anderen Worten, man kehrt die Erfahrungen um, die dazu führten, dass die Überzeugung haften blieb, und indem man sie umkehrt, haftet der Glaube immer weniger. Wenn Ihre Mutter sagte, dass Sie nicht hübsch seien, oder Ihr Vater, dass Sie faul seien, warum sollten Sie ihnen automatisch vertrauen? Es spielt keine Rolle, wie oft Sie solche Aussagen früher gehört haben. Jetzt, da Sie erwachsen sind, können Sie die Meinung von den Fakten trennen. Denken Sie an Erfahrungen, die gezeigt haben, wie attraktiv Sie in den Augen anderer Menschen sind oder mit wie viel Elan Sie sich für eine Aufgabe eingesetzt haben.

Es geht darum, mit dem geschädigten Kind in Ihnen in Kontakt zu treten, anstatt zuzulassen, dass es weiterhin diktiert, was Sie glauben. Die wichtigsten Bereiche, auf die Sie sich konzentrieren müssen, sind Ihre tiefsten persönlichen Überzeugungen, die sogenannten Kernüberzeugungen.

Ist das Leben fair?

Kann man anderen Menschen vertrauen?

Gibt es eine höhere Macht im Universum?

Triumphiert das Gute über das Böse?

Sollte ich das Beste erwarten oder mich auf das Schlimmste vorbereiten?

Sollte meine Haltung entspannt oder wachsam sein?

Bin ich sicher?

Werde ich von anderen geliebt, umsorgt und unterstützt, oder kann ich mich nur auf mich selbst verlassen?

Bin ich gut genug und freundlich genug?

Sie haben sicherlich irgendeine Meinung zu all diesen Dingen, auch wenn einige Fragen von größerer Relevanz für Sie sein werden als andere. Es gibt keine objektiv richtigen Antworten, an denen Sie sich orientieren können. »Ich bin sicher« oder »Ich bin liebenswert« sind subjektive Bewertungen. Sie wurzeln darin, wie die Ego-Persönlichkeit konstruiert wurde. Als Erwachsener können Sie erkennen, dass Ihre Kernüberzeugungen viel mit Ihrem Elternhaus zu tun haben. Entweder Sie haben die subjektiven Meinungen Ihrer Eltern übernommen oder aber Sie vertreten im Gegenteil heute ganz andere Meinungen. Auf diese Weise wird »Ich« aus einem Wertesystem erschaffen, das im Wesentlichen aus zweiter Hand stammt.

Wenn Sie erkennen, wie brüchig selbst Ihre innersten Überzeugungen tatsächlich sind, haben Sie der Realität ins Auge gesehen. Jetzt sind Sie frei, Ihre eigenen Kernüberzeugungen zu bilden. Genau das ist es, was erwachsene Menschen tun. Sie haben ihre eigenen persönlichen Werte, sie treffen ihre Urteile auf der Grundlage tatsächlicher Gegebenheiten und direkter Erfahrungen. Sie lassen sich nicht unangemessen durch Meinungen anderer beeinflussen. Das sind psychologisch betrachtet gute Entwicklungen, aber im Grunde sind alle Überzeugungen illusorisch. Sie führen zu undifferenzierten Annahmen – wie dem Denken, dass das Leben unfair ist oder dass man anderen Menschen nicht trauen kann –, die von Natur aus unzuverlässig sind. Das Leben ist nicht komplett fair oder unfair. Und der nächste Mensch, den sie treffen, kann total vertrauenswürdig oder ein Schwindler sein.

Die Lösung besteht darin, über alle Überzeugungen hinauszugehen. Dies ist das Ziel der vollkommenen Meditation. Indem Sie in der Gegenwart ohne den Ballast alter Überzeugungen leben, sind Sie sich der Situation bewusst, in der Sie sich befinden. Der Sinn des Analysierens Ihrer Kernüberzeugungen besteht darin, sich von ihnen zu verabschieden. Eine falsche Überzeugung ist das Fossil unzuverlässiger Gedanken in Ihrer Vergangenheit. Es gibt keinen Grund, daran festzuhalten.

Der zweite Aspekt der Anhaftung ist, dass sie emotional ist. Emotionen haften besser als Fakten. Wenn Sie als kleines Kind von einem aggressiven Hund angegriffen wurden, wird die Tatsache, dass die meisten Hunde harmlos sind, Ihre Einstellung zu ihnen nicht ändern. Wegen Stotterns gehänselt zu werden, ist verletzend, auch wenn Ihre Eltern Ihnen vielleicht sagen, dass bei den meisten Stotterern das Problem irgendwann verschwindet.

Vorhin habe ich erwähnt, dass eine winzige Anzahl von Menschen, weltweit sind es nicht mehr als etwa zwei Dutzend, die Fähigkeit haben, sich mit fotografischer Genauigkeit an jedes Ereignis in ihrer Vergangenheit zu erinnern. Ein überragendes autobiografisches Gedächtnis ist jedoch nicht so neutral wie zum Beispiel Fotos. Jede Erinnerung wird von der mit dem Ereignis einhergehenden Emotion begleitet. Eine Frau, die über ein solches Gedächtnis verfügt, erzählte, wie leidvoll es sein kann, sich an all die Male zu erinnern, als die Mutter ihr sagte, sie sei zu dick.

Der anhaftendste Teil einer Erinnerung ist ihre emotionale Aufladung, die einige Psychologen als unsere emotionale Verpflichtung aus der Vergangenheit bezeichnen. Wir halten hartnäckig an alten Ressentiments, Ängsten und verletzten Gefühlen fest. Wenn sich positive und negative elektrische Ladungen in den Wolken aufbauen, sehen und hören wir die explosive Entladung in Form von Blitz und Donner. Beim Menschen geschieht das Gleiche, wenn jemand sagt »Jetzt reicht es mir aber!« und dann seinen ganzen angestauten Ärger herauslässt.

Der Trick besteht darin, emotionale Energie zu entladen, ohne dass es zu einer plötzlichen Explosion kommt. Es gibt Wege, alte Wut, Angst und Ressentiments loszulassen, bevor sie sich aufschaukeln. Falls sich bei Ihnen bereits eine Menge solcher Gefühle angestaut hat, können Sie die nachstehend beschriebenen Techniken ebenfalls nutzen. Seien Sie sich einfach im Klaren darüber, dass es umso länger dauert, Emotionen loszulassen, je länger Sie sie festgehalten haben.

WIE MAN SICH VON ANHAFTENDEN EMOTIONEN BEFREIT

Die folgenden Techniken zum Auflösen anhaftender Gefühle sind einfach und natürlich. Es liegt in der Natur der Dinge, dass Gefühle mal stärker und mal schwächer werden. Meistens reicht eine Abkühlphase aus, damit Sie sich wieder beruhigen. Anhaftende Emotionen aber verschwinden nicht von selbst. Helfen Sie ihnen, sich durch die folgenden Techniken aufzulösen:

TECHNIK Nr. 1: Wenn Sie eine unangenehme Emotion empfinden, die andauert, zentrieren Sie sich und machen Sie langsame und tiefe Atemzüge, bis Sie spüren, dass die emotionale Aufladung nachlässt.

TECHNIK Nr. 2: Wenn Sie wahrnehmen, wie ein Gefühl in Ihnen aufsteigt, das Sie schon lange mit sich herumtragen, dann sagen Sie: »So war es einmal. Ich bin jetzt in einer ganz anderen Lebensphase. Geh weg.«

TECHNIK Nr. 3: Wenn die Emotion besonders hartnäckig ist, setzen Sie sich ruhig hin, mit geschlossenen Augen und erlauben Sie sich selbst, die Emotion zu spüren. Spüren Sie sie nur leicht, ohne darin zu versinken. Atmen Sie tief ein und langsam aus und lassen Sie die emotionale Energie aus Ihrem Körper frei. Es könnte helfen, wenn Sie sich Ihren Atem als ein weißes Licht vorstellen, das das giftige Gefühl aufnimmt und vollständig aus Ihnen herausträgt.

TECHNIK Nr. 4: Wenn Sie keine spezifische Emotion empfinden, sondern eher ganz allgemein niedergeschlagen und traurig sind, setzen Sie sich ruhig hin, und richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf die Region Ihres Herzens. Visualisieren Sie dort ein kleines weißes Licht und lassen Sie es sich ausdehnen. Beobachten Sie das weiße Licht, wie es sich ausweitet und allmählich Ihren ganzen Brustraum erfüllt. Lassen Sie es sich noch weiter ausdehnen, bis in den Hals hinein und den Kopf. Am Scheitel, der obersten Stelle des Kopfes, tritt es dann wieder aus.

Nehmen Sie sich einige Minuten Zeit für diese Übung, bis Sie das Gefühl haben, sie vollständig durchgeführt zu haben. Kehren Sie nun zu Ihrem Herzen zurück und lassen Sie das weiße Licht wieder größer werden, bis es Ihren Brustkorb füllt. Lassen Sie es sich nach unten ausdehnen und nehmen Sie wahr, wie es Ihren Bauch füllt, auch durch die Beine strömt und schließlich durch die Fußsohlen in die Erde austritt.

Diese vier Techniken können einzeln oder alle nacheinander angewendet werden. Es ist jedoch wichtig, Geduld zu haben. Wenn Sie eine Technik anwenden, dauert es einige Zeit, bis sich Ihr gesamtes emotionales System an die Freisetzung der gestauten Emotionen angepasst hat. Möglicherweise fühlen Sie sich nicht sofort besser. Aber die Absicht, anhaftende Emotionen zu lösen, ist mächtig, und die Botschaft dringt in jede Zelle und jeden Winkel Ihres Gewahrseins vor.

Denken Sie auch daran, dass Emotionen sich lösen wollen, das liegt in ihrer Natur. Sie werden Sie also verlassen, wenn Sie ihnen einen Weg bahnen, dem sie folgen können. Es ist Ihre Entscheidung, ob Sie sie loslassen oder ob Sie Gründe haben, an ihnen festzuhalten. »Ich« fühlt sich im Recht, einen Groll gegen jemanden zu hegen, nachtragend zu sein, sich auch wegen Kleinigkeiten aufzuregen und Rachefantasien nachzuhängen. Ihr wahres Selbst hat keine solchen Absichten. Als sensibler Mensch, werden Sie beim nächsten Mal, wenn Sie emotional ausrasten oder jemanden anderen dabei beobachten, feststellen, dass das Ego eine Art selbstgerechtes Vergnügen daraus zieht, seinen gespeicherten Zorn zu zeigen.

Diese Art von Vergnügen ist aber nie von Dauer. Auf lange Sicht halten anhaftende Emotionen Sie an das Ego gefesselt und enthalten Ihnen das erwachte Leben vor. Wenn Sie sich bemühen, alte Emotionen loszulassen und sich ihr Verschwinden aufrichtig wünschen, dann sind das Zeichen dafür, dass Sie erwachen. »Ich« würde, sofern das möglich wäre, auf ewig an giftigen Emotionen festhalten und fälschlicherweise glauben, dass sie es irgendwie wert sind, gehortet zu werden. Was jedoch rein gar nicht der Fall ist.