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Tagtäglich erwacht

Es ist eine radikale Abkehr vom konventionellen Denken, alles ins Bewusstsein zu rü cken. Wir alle sind mit der Erkenntnis aufgewachsen, dass die Wirklichkeit in zwei getrennte, sehr ungleiche Bereiche aufgeteilt ist. Da gibt es die alles dominierende, gegenständliche Welt »da draußen«. Hier begann das Universum und wird es vermutlich auch enden, am selben Ort, an dem Milliarden von Menschen geboren wurden, lebten und starben.

Die subjektive Welt »hier drin« dagegen weckt vergleichsweise wenig Interesse. Wie sich eine Person fü hlt, wird gewöhnlich als unwichtiger angesehen als das, was sie tut, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, eine Familie zu grü nden und zu versuchen, ihr Leben zu verbessern. Höchstens ein paar Kü nstler und Dichter scheinen diese innere Welt zu bewohnen, anstatt sie nur zu besuchen. Nach innen zu gehen, bedeutet fü r hartgesottene Realisten sehr wenig. Sie nähern sich ihrer inneren Welt höchstens, um ü ber praktische Dinge nachzudenken und Pläne zu schmieden.

Genauer betrachtet hat die subjektive Welt Heilige und Weise hervorgebracht. Reife Menschen erlangen ihre Weisheit durch die subjektive Welt. Liebe entsteht ebenso »hier drin« wie Hass, Neid, Angst und Furcht. Gefü hle können auch schwächen, wie Menschen wissen, deren Liebe zurü ckgewiesen wurde oder die eine Beziehung in Bitterkeit und Wut beendet haben. Die objektive Welt fü hlt sich solide, vorhersehbar und nü tzlich an, während die subjektive Welt unbeständig, wechselhaft und unzuverlässig zu sein scheint und sich einer klaren Einordnung entzieht.

Eine Vereinigung dieser beiden Welten zu einer einzigen Realität hat schlechte Aussichten auf Erfolg, weil die beiden so unterschiedlich sind und sich gegenseitig ablehnen. Bei der Arbeit, in Konflikten und Notsituationen oder einfach zu Hause, wo man versucht, einen widerspenstigen Jugendlichen zum Erledigen der Hausaufgaben zu bewegen, lautet die Devise: »Mir ist es egal, wie du dich fü hlst. Mach es einfach.« Das Erreichen der Einheit ist jedoch das Schlü sselkonzept hinter der vollkommenen Meditation. In jeder gegebenen Situation werden Sie entweder bewusst oder unbewusst reagieren. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um eine äußere Situation handelt (Ausfall der Internetverbindung, eine Reifenpanne, unbezahlte Rechnungen) oder um eine innere (Depressionen, finanzielle Sorgen, Sehnsucht nach einem bestimmten Menschen). Jede Erfahrung, die Sie machen, betrifft Ihren Geist, und Ihr Geist drü ckt Ihren Gewahrseinszustand aus.

Es gibt einen einfachen Weg, all dies zu benennen: Wenn Sie unbewusst handeln, »schlafen« Sie. Wenn Sie bewusst handeln, sind Sie wach. Diese Bezeichnungen machen deutlich, dass Sie immer die Wahl zwischen den beiden Möglichkeiten haben. Niemand schläft nur oder ist dauerhaft wach. Die Unterschiede lassen sich recht deutlich aufzeigen.

SCHLAFEND

Unbewusst sein

Die Lektü re dieser Liste kann entmutigend sein. Es kann ein Schock sein, festzustellen, dass man wahrscheinlich gar nicht so bewusst, reif, nachdenklich und rational ist, wie man es gerne wäre, sondern oft einfach nur schläft. Wenn Sie ü ber die Liste nachdenken, mü ssen Sie außerdem zugeben, dass es eine Herausforderung ist, diese Verhaltensweisen zu ändern, und sei es nur eine. Aber kein Mensch schläft nur, sondern bei jedem gibt es auch Aspekte, die zeigen, wie wach er ist.

WACH

Bewusst sein

Ein Blick auf diese lange Liste zeigt, dass es viel besser ist, wach zu sein als zu schlafen. Tatsächlich verbringen viele von uns so viel Zeit damit, bewusst zu sein, auch wenn sie gelegentlich mal in alte Gewohnheiten zurü ckfallen oder gedankenlos sind, dass die Erleuchtung gar nicht so weit weg ist, wie vielfach angenommen. Erleuchtung kann ein realistisches Ziel fü r jeden sein. Jedem kann gezeigt werden, wie er in einen Zustand höheren Gewahrseins gelangen kann, und wenn dieser Prozess erst einmal begonnen hat, ist es möglich und realistisch, vollständig zu erwachen – mit anderen Worten, erleuchtet zu werden.

Wenn ein menschliches Wesen in einen Roboter umgewandelt werden könnte, wäre es optimal, sein Softwareprogramm so zu schreiben, dass jede Aktion aus einem Zustand des Gewahrseins heraus erfolgen wü rde. Ein solches Softwareprogramm kann aber niemals geschrieben werden, weil ein Roboter Entscheidungen trifft, die auf vorgegebenen Anweisungen basieren. Wach sein ist das Gegenteil von vorbestimmt sein. Wer wach ist, kann frei zwischen unendlich vielen Möglichkeiten wählen. Im Idealfall erschaffen Sie Ihre Realität auf den Flü geln der Inspiration und Erkenntnis, sobald sie Ihnen erwachsen. Dass Inspiration und Erkenntnis unvorhersehbar sind, liegt in ihrer Natur.

Das erwachte Leben lässt alle möglichen Dinge klar erscheinen, die verwirrend wären, wenn man sich im Schlafzustand befände. Kindererziehung ist ein gutes Beispiel hierfü r. Als guter Vater oder gute Mutter ist man sich bewusst, dass man ein Erwachsener ist. Eher ü berforderte Eltern verhalten sich dagegen manchmal wie ein Kind oder Jugendlicher, ohne sich dessen bewusst zu sein. Niemand wächst mit absolut perfekten Eltern auf, aber wenn es den Eltern an Gewahrsein mangelt, vermitteln sie ihren Kindern höchstwahrscheinlich nicht so klar, wie wichtig zum Beispiel Lesen und Schreiben, gesundes Essen oder soziales Verhalten ist – Dinge, deren Wert ein bewusster Erwachsener nie infrage stellen wü rde.

Die Entwicklung eines Kindes hängt von der Stabilität eines Elternhauses ab, in dem die Handlungen der Eltern nicht kindisch sind. Wenn eine Mutter auf einen Wutanfall ihres zweijährigen Kindes mit einem ebensolchen reagiert, oder wenn ein Vater es mit einem Achselzucken abtut, dass sein Kind sich verbotenerweise aus der Keksdose bedient, dann zerfällt die Erziehung in Unordnung und widersprü chliche Botschaften. In der Psychologie heißt es, dass eine »einigermaßen vernü nftige« Erziehung das Beste ist, was einem Kind passieren kann. Leider ist die Welt mit Mü ttern und Vätern bevölkert, die sehr oft aus unbewussten Impulsen heraus handeln und damit dem Beispiel ihrer eigenen unvollkommenen Eltern folgen.

In der Regel geben Eltern eine Mischung aus guten und schlechten Lektionen an ihre Kinder weiter, was unvermeidlich ist, weil sie nur aus ihrem eigenen Gewahrsein heraus handeln können. Darü ber hinaus sind sie ab und zu so schlafend und orientierungslos wie alle anderen Menschen auch, so wie Sie und ich. Wir alle wären unseren Eltern gegenü ber großmü tiger, wenn wir den Grundsatz akzeptieren wü rden, dass man von jemandem nichts verlangen kann, was er nicht geben kann. Dieser Grundsatz gehört zu den wahrsten und hilfreichsten ü berhaupt.

Vollkommene Meditation wird Sie vom Schlaf- in den Wachzustand bringen, aber dieses Erwachen geschieht nicht, indem jeder Punkt auf der Liste der unbewussten Verhaltensweisen nacheinander bearbeitet wird. Schlafen und Wachsein sind völlig unterschiedliche Zustände, und die Herausforderung besteht darin, das eine durch das andere zu ersetzen. Was wir brauchen, ist Transformation. Da ja selbst kleine Verhaltensänderungen oft schon schwierig umsetzbar sind, wie stehen dann die Chancen, dass eine Transformation, die den gesamten geistigen Körper einbezieht, möglich ist? Transformation ist daher die wichtigste Herausforderung der vollkommenen Meditation.

Vollkommene Meditation

Lektion 16: Transformation

Das erwachte Leben beinhaltet keine kleinen oder schrittweisen Veränderungen, sondern vielmehr etwas Radikaleres und Umfassenderes: Transformation. Es braucht eine Vision und Engagement, um daran zu glauben, dass so etwas überhaupt möglich ist. Die meisten Menschen haben gemischte Gefühle darüber, wie ihr Leben verläuft. »Das Bittere mit dem Süßen nehmen« ist ein altes englisches Sprichwort aus dem 13. Jahrhundert, das eine universelle Erfahrung widerspiegelt.

Angesichts der Höhen und Tiefen des Lebens gibt es jedoch eine gegenläufige Bewegung, die auf einer tiefen Sehnsucht nach Transformation beruht. Diese Sehnsucht drückt sich in der Religion als Vision eines Himmels aus, der ewige Glückseligkeit bietet; in der romantischen Literatur als die Vision der vollkommenen Liebe und in imaginären Utopien als verlorenes Paradies oder goldenes Zeitalter.

Ist diese Sehnsucht nach Transformation nur Wunschdenken, so wie der Traum von einem Sechser im Lotto? Wer ganz pragmatisch ist, gibt solche Fantasien auf, um seine Energien produktiv darauf auszurichten, in kleinen Schritten Verbesserungen im Leben zu erzielen (ein Bestsellerbuch verspricht, wie man »10 Prozent glücklicher« werden kann; das klingt so, als würde man ein Spareinlagenkonto eröffnen – besser eine kleine sichere Rendite erzielen, als auf einen höheren Gewinn abzielen, bei dem aber das Verlustrisiko viel höher ist). Aber selbst dann sind auch bescheidene Ziele nicht immer erreichbar. Wir leben nach dem Motto »Weniger ist besser als nichts«, weil der gesunde Menschenverstand es uns sagt.

Die eigentliche Frage geht jedoch tiefer. Transformation ist überall in der Natur zu finden. Betrachten Sie die totale Zustandsänderung, die eintritt, wenn zwei unsichtbare brennbare Gase, Sauerstoff und Wasserstoff, sich zu einer Flüssigkeit, Wasser, verbinden, die so unbrennbar ist, dass sie Brände löscht. Die essenzielle Natur der beiden Bestandteile würde die Möglichkeit einer solchen vollständigen Umwandlung nicht vermuten lassen. Aber genau das ist es, was Transformation bedeutet, im Gegensatz zu schrittweiser Veränderung.

Wie wäre es, eine persönliche Transformation zu erreichen? Trotz der hartnäckigen Art und Weise, in der Menschen sich gegen Veränderungen sträuben – indem sie ohne rationalen Grund an Überzeugungen, Ängsten, Vorurteilen und persönlichen Gewohnheiten festhalten –, sind wir transformative Wesen, wie man anhand alltäglicher Erfahrungen sehen kann.

Wenn Sie einen Gedanken haben, verwandelt sich das geistige Schweigen in eine Stimme in Ihrem Kopf.

Wenn Sie ein Objekt sehen, wandeln unsichtbare elektrische Signale in Ihrem Gehirn den Gegenstand in Farbe und Form um.

Der Sehsinn funktioniert, indem er winzige Schnappschüsse macht, die für sich unbewegt sind, aber von Ihrem Geist in die bewegte Welt transformiert werden. Das ist so wie bei einem Film, der aus zahlreichen Standbildern besteht, die in schneller Folge projiziert werden.

Bei einem plötzlichen Schock schaltet Ihr Körper automatisch vom ausgeglichenen Ruhezustand in den erregten Kampf-oder-Flucht-Modus um.

Die Worte »Ich liebe dich«, erzeugen, wenn sie von der richtigen Person zur richtigen Zeit ausgesprochen werden, eine vollkommene psychologische Verwandlung, die auch als Verlieben bekannt ist.

Nichts von alldem geschieht durch allmähliche oder schrittweise Veränderungen. Stattdessen verwandelt eine plötzliche Änderung einen Zustand in einen völlig anderen. Und wie bei Wasserstoff und Sauerstoff vermittelt der Zustand vor der Reaktion nicht, wie der Zustand danach aussehen wird. Deshalb sagen Menschen, die sich zum ersten Mal verlieben, erstaunt Dinge wie: »Ich hätte mir nie vorstellen können, dass es so etwas gibt.«

Warum erscheint uns Transformation dann als etwas so Unwahrscheinliches und weit Entferntes? Die Antwort liegt in unserer inneren Einstellung zu Veränderungen. Offensichtlich sind für Gesellschaftsordnungen Konformität, Routine und Konventionalität wichtige Aspekte. Wir stehen unter einem starken Anpassungsdruck. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass wir in der Natur von Transformation umgeben sind. Darüber hinaus könnte unser Gehirn die von den fünf Sinnen empfangenen Rohsignale nicht in das Bild einer dreidimensionalen Welt verwandeln, ohne sie zu transformieren.

Die Lektion ist hier, zu akzeptieren, dass Transformation immer in Reichweite ist, und keine besonderen Anstrengungen oder Kämpfe notwendig sind, um sie zu erreichen.

»Was soll ich tun?«

Der Mensch hat nicht einfach dadurch ein erfü lltes Leben, dass er in der Außenwelt bekommt, was er will. Genauso wichtig ist die innere Erfü llung. Eine dem Bewusstsein gewidmete Lebensweise erreicht beides. Das ist eine reizvolle Aussicht, doch viele Menschen, wahrscheinlich die meisten, werden sich fragen: »Was soll ich tun?« Die Antwort lautet: Leben Sie so, als seien Sie bereits vollständig er wacht . Wer vollständig erwacht ist, fü r den sind die folgenden Wahrheiten völlig offensichtlich:

In einer Art kosmischem »Durch Schein zum Sein« ist es viel besser, diese Wahrheiten zu leben, als darauf zu warten, dass die Erleuchtung sie offenbart. Sie sind gü ltig, jenseits unserer begrenzten Wahrnehmung. Auch ultraviolettes Licht liegt ja jenseits unserer Wahrnehmung und wir cremen uns trotzdem mit einem Sonnenschutzmittel ein. Und wir tragen Sicherheitsgurte, obwohl wir uns die Wucht eines Hochgeschwindigkeitsaufpralls nicht wirklich vorstellen können. Da das Leben eines jeden Menschen uneinheitlich ist, sind auch Sie zumindest teilweise schon erwacht. Der Trick ist, sich selbst zu erwischen, wenn man schläft, das heißt, wenn man unbewusst handelt.

Ü berraschenderweise erweist sich hier das gespaltene Selbst als hilfreich, denn geistig gesehen sind wir schon alle daran gewöhnt, an zwei Orten gleichzeitig zu sein. Wir teilen unsere Aufmerksamkeit eigentlich die ganze Zeit. Wir tun so, als wü rden wir zuhören, und denken in Wirklichkeit an etwas anderes. Wir verbergen einen sexuellen Impuls zu Zeiten, in denen von uns erwartet wird, dass wir uns wie ein rationaler Erwachsener benehmen. Wir halten mit unserer Abneigung gegen jemanden hinterm Berg, indem wir uns höflich und freundlich verhalten. Tagträume, Fantasie und Wunschdenken durchdringen alles (und verlassen es auch wieder), was wir sonst noch tun.

Diese Gabe, unsere Aufmerksamkeit zu teilen, ist fü r das Erwachen äußerst nü tzlich. Sie fördern das Gewahrsein alleine dadurch, wenn Ihnen auffällt, dass Sie geistig an zwei Orten gleichzeitig sind. Sobald Sie das einmal bemerken, kostet Sie das Erwachen keine Mü he mehr. Indem Sie sich viele Male am Tag fü r das Wachsein entscheiden, schulen Sie den geistigen Körper sanft, aber wiederholt, bis es fü r Sie schließlich etwas ganz Natü rliches ist, bewusst zu bleiben. Sie werden ü berrascht sein, wie viele kleine Dinge Sie tun können, die relativ mü helos zu bewerkstelligen und doch sofort wirksam sind.

DIE EINFACHSTEN WEGE ZUM ERWACHEN

Bei all diesen Entscheidungen fangen Sie an, so zu handeln, als seien Sie bereits vollständig erwacht, und fü r den Moment sind Sie es auch. Ich möchte nicht, dass das Wort einfach irrefü hrend ist. Wenn Sie es gewöhnt sind, die Kontrolle zu haben oder immer zu glauben, dass Sie recht haben, wird ein solcherart eingefahrenes Verhalten nicht so einfach zu ändern sein. Aber Sie können sich dieses Verhaltens gewahr werden, und dann eine Pause einlegen, anstatt dorthin zu gehen, wo Ihre Gewohnheit Sie hinfü hren will (in Kapitel 5, »Befreien Sie sich«, finden Sie Hinweise dazu, wie sich hartnäckige, festgefahrene Verhaltensweisen auflösen lassen – wir alle leiden darunter).

Jeder kann den Schalter von schlafend auf wach umlegen, ohne Ü bung oder das Bemü hen, jedes Mal perfekt zu sein. Es gibt nichts Neues zu lernen, auch wenn es stetiger, aufmerksamer Wiederholung bedarf, um aus der Gewohnheit des Unbewussten herauszukommen. Erwachtsein ist unser natü rlicher Zustand. Ihre Zellen wissen das bereits, und es hilft, sich darü ber klar zu werden, wie wach jede Zelle tatsächlich ist.

Lassen Sie mich das an einem Beispiel verdeutlichen: In der Gebärmutter beginnen sich achtzehn oder neunzehn Tage nach der Befruchtung der Eizelle die Herzzellen eines Embryos zu bilden. Wenn eine Zellbiologin mit ihrem geschulten Auge per Ultraschall den Embryo im Mutterleib betrachtet, kann sie das Pulsieren des kleinen Herzens wahrnehmen, während es beginnt, seine Identität anzunehmen. Aber das liegt daran, dass die Biologin weiß, wonach sie suchen muss. Wenn Sie sich vorstellen, dass Sie die erste Herzzelle sind, sähe die Sache ganz anders aus. Vor zwei Wochen existierten Sie noch gar nicht. Als Sie ins Leben gerufen wurden, waren Sie Teil eines zellulären Kleckses, der von elektrischen und chemischen Signalen durchsetzt war, die in einem scheinbaren Chaos umherflogen. Sie wussten weder selbst, welche Rolle Sie letztendlich spielen wü rden, noch gab es jemanden, der es Ihnen sagen konnte.

Ihre Identität als Herzzelle erwachte von selbst, und Sie fanden sich in einem unaufhaltsamen Wandel wieder. Es kam Ihnen nicht in den Sinn, Widerstand zu leisten. Ein winziger Teil von Ihnen, die DNA in Ihrem Zellkern, wusste mehr als Sie, aber sie offenbarte nur, was Sie in diesem Moment wissen mussten. Die vor Ihnen liegende Aufgabe im größeren Zusammenhang war gewaltig, jenseits aller Vorstellungskraft. Um die zwei Billionen Zellen eines Babys zu bilden, muss sich die ursprü nglich befruchtete Eizelle nicht millionenfach, ja nicht einmal tausend- oder hundertfach teilen. Es braucht nur etwa vierzig Zellteilungen, um vom Klecks zu Herz, Gehirn, Lunge, Leber und allem anderen zu gelangen.

Als Herzzelle hat man das Glü ck, nicht schon im Voraus zu wissen, dass man in einem durchschnittlichen Leben etwa achtzigmal pro Minute und 115 000 Mal am Tag schlagen muss, was 3,36 Milliarden Schlägen entspricht, wenn man achtzig Jahre alt sein wird. Mit der modernen Technik ist es heute möglich, sehr effiziente Pumpen aus Kunststoff und Metall zu konstruieren, aber nichts, was auch nur annähernd an die Pumpleistung eines Herzens heranreicht.

Als Vorbereitung auf ihr anstrengendes Leben – pro Tag pumpt der Herzmuskel bis zu 10 000 Liter Blut durch die Blutgefäße – entwickelt eine Herzzelle ü bergreifende Funktionen. Im embryonalen Herz bilden sich zwei Herzkammern und zwei Herzohren und die dazugehörigen Klappen aus; hinzu kommen die Herzkranzgefäße, die notwendig sind, um den Herzmuskel mit Blut zu versorgen. Außerdem muss die Herzzelle lernen, elektrische Impulse zu nutzen, um einen einheitlichen Herzschlag zu koordinieren, und muss sich mit dem zentralen Nervensystem verbinden, um Nachrichten vom Gehirn empfangen zu können.

Ü bersetzen Sie dieses Modell in Ihr persönliches Leben mit seinen vielen sich ü berschneidenden Prozessen, und die Parallelen sind auffallend. Sie mü ssen im gegenwärtigen Moment leben und sich Ihrer Bestimmung sicher sein. Sie mü ssen dem Leben erlauben, sich zu entfalten, ohne im Voraus zu wissen, was die Zukunft bringt. Sie mü ssen darauf vertrauen, dass das Bewusstsein Sie auf einer bestimmten Ebene in die richtige Richtung fü hrt. Das sind die Grundlagen, das Fundament des Erwachtseins.

In einem wichtigen Punkt jedoch weicht Ihr persönliches Leben von dem einer Herzzelle ab. Die Abläufe des Herz-Kreislauf-Systems sind komplex genug, um medizinische Lehrbü cher zu fü llen, aber Herzzellen können sich nicht von der biologischen Vorlage entfernen, an die sie gebunden sind. Sie hingegen dü rfen umherwandern – Sie bahnen sich Ihren eigenen Weg entsprechend den Entscheidungen, die Sie treffen. Es gibt keine Schablone fü r das Menschsein. Aus diesem Grund wird der physische Körper in vielen spirituellen Traditionen des Ostens als »Vehikel« bezeichnet. Wie ein Boot oder ein Auto bringt er Sie dorthin, wo Sie hinwollen, indem er den Zwecken dient, die von Wü nschen, Sehnsü chten, Ängsten, Vorfreude und Erwartung vorgegeben sind – all diese ungeordneten Impulse, die Sie Ihr ganzes Leben lang bei all Ihren Wanderungen begleiten.

Die verwirrende Unordnung des Lebens in etwas Organisiertes und Sinnvolles zu verwandeln, ist eine Herausforderung, der man sich bei jeder Gelegenheit stellen muss. Wenn der heutige Tag vorbei ist, werden Sie sich Dutzende Male entschieden haben, ob Sie wach oder schlafend sein wollen. Jede Faser Ihres Wesens ist darauf ausgerichtet, bereits auf Ihre geringste Absicht zu reagieren. Dies gilt seit dem Tag der Empfängnis. Das vollkommene Bewusstsein war immer schon da. Die Entwicklung im Mutterleib fand als ganzer Prozess statt, nicht als Stü ckwerk. Selbst als sich die Zellen differenzierten, in Herz-, Gehirn- und Leberzellen und so weiter, blieben sie alle in engem Kontakt miteinander.

Die Fähigkeit der Natur, Ordnung zu bewahren und das Chaos in Schach zu halten, ist geradezu wundersam. Die Fehlermarge ist mikroskopisch gering. Wenn die Herzzellen nicht mehr perfekt miteinander kommunizieren, können aus einem gleichmäßigen Herzschlag die unsynchronisierten Herzmuskelkontraktionen werden, die als Fibrillation (Vorhof- oder Kammerflimmern) bezeichnet werden. Dies ist eines der erschreckendsten Phänomene, die einem Kardiologen unterkommen, denn das Herz begeht damit innerhalb weniger Minuten buchstäblich Selbstmord. Andererseits aber verfü gt das Herz auch ü ber ein Sicherungssystem, um eine solche Katastrophe zu verhindern, weshalb es im Allgemeinen keine gravierenden Konsequenzen hat, wenn Ihr Herz mal einen Schlag aussetzt oder Herzgeräusche bei Ihnen festgestellt werden.

Wenn Sie die Ordnung des Herzens auf sich selbst anwenden, können Sie Ihr Leben mit beträchtlicher Unordnung leben, ohne dass dies sofort Auswirkungen hat. Die Nachsicht des Bewusstseins ist nämlich fast grenzenlos. Bei Kettenrauchern, die einen konstanten Strom von Karzinogenen in ihre Lunge strömen lassen, ist es zu 85 bis 90 Prozent unwahrscheinlich, dass sie an Lungenkrebs erkranken. Die älteste dokumentierte Raucherin, die Französin Jeanne Calment, wurde als junge Frau von ihrem Ehemann an das Rauchen herangefü hrt. Sie war nie Kettenraucherin, rauchte aber nach dem Essen eine Zigarette oder ein Zigarillo, und das, bis sie sage und schreibe 117 Jahre alt war. Dann gab sie das Rauchen auf und lebte noch weitere fü nf Jahre (bis 1997). Bis heute ist kein anderer Mensch so alt geworden. Es ist natü rlich nicht die Norm, so alt zu werden, ob als Raucher(in) oder Nichtraucher(in), aber die Geschichte von Jeanne Calment ist nichtsdestotrotz ein gutes Beispiel dafü r, dass das Bewusstsein sehr anpassungsfähig ist und die Menschen dafü r ausgestattet sind, auch unter den widrigsten, manchmal schädlichsten Bedingungen zu ü berleben. Das Bewusstsein passt auch dann auf uns auf, wenn wir nicht selbst auf uns aufpassen.

Vollkommene Meditation

Lektion 17: Wahrnehmen

»Man kann nicht ändern, wessen man nicht gewahr ist« lautet ein Grundsatz, der in diesem Buch immer wieder auftaucht. Gewahrsein ist gleichbedeutend mit Achtsamkeit. Achtsam zu sein ist etwas sehr Wünschenswertes. Es hält Sie im gegenwärtigen Augenblick. Dazu gehört auch, wachsam und offen für neue Erfahrungen zu sein. Achtsamkeit entspricht einem ungebundenen Zustand: Man ist unvoreingenommen, offen für den gegenwärtigen Moment, und nicht auf ein Resultat fixiert, das man sich wünscht oder fürchtet.

Dennoch hat Achtsamkeit ein eingebautes Paradoxon. Wie kann man sich selbst daran erinnern, achtsam zu sein, wenn man sich vom gegenwärtigen Moment entfernt hat? Es braucht Achtsamkeit, um zu merken, dass man abgedriftet ist, aber Achtsamkeit ist genau der Zustand, in dem man sich dann nicht befindet. Jemanden aufzufordern, er solle achtsam sein, ist so, als würde man sagen: »Vergiss nicht, dich zu erinnern.«

Glücklicherweise können Sie dieses eingebaute Paradoxon überwinden. Ihr Geist ist so ausgelegt, dass er Dinge wahrnimmt, auch jene, die unbewusst ablaufen. Die meisten Menschen sind gut darin, morgens immer schon aufzuwachen kurz bevor der Wecker klingelt. Der Geist registriert die Uhrzeit auch dann, wenn Sie schlafen.

Wir sind so daran gewöhnt, im denkenden Verstand zu leben, dass wir nicht merken, wie stark uns das nicht denkende Bewusstsein beeinflusst. Wenn Sie einen Freund in einer Menschenmenge oder Ihr Lieblingsgericht auf der Speisekarte eines Restaurants entdecken oder Ihnen eine noch unbekannte Frau auffällt, was passiert dann? Sie legen innerlich einen Schalter um und zollen einer bestimmten Person oder Sache Aufmerksamkeit, im Unterschied zu vielen anderem, dem Sie keine Beachtung schenken. Sobald Sie den Freund sehen, ignorieren Sie die anderen Menschen in der Menge.

Ein solches Umlegen des inneren Wahrnehmungsschalters kann ungeahnte Folgen haben. Nachstehend gebe ich Ihnen zwei Beispiele hierfür:

Im Herbst 1928 kehrte der schottische Medizinforscher Alexander Fleming aus dem Urlaub zurück und fand zu seinem Ärger eine seiner Bakterienkulturen verschimmelt vor . Anstatt die Kultur gleich zu entsorgen, betrachtete er sie genau, und es fiel ihm auf, dass die Schimmelpilze offensichtlich das Wachstum der Bakterien gehemmt hatte. Die Pilze gehörten zur Gattung Penicillum, und Flemings Entdeckung war letztendlich der »Aha!«-Moment, der zur Entwicklung des Penicillins, des ersten Antibiotikums, führte.

Da es unmöglich ist, mit Sicherheit zu wissen, wann ein Stein bearbeitet wurde, blieb der Zeitpunkt der Entstehung von Stonehenge, diesem aus riesigen Megalithen errichteten Bauwerk in Südengland, lange komplett im Dunkeln. Auch über den Zweck der kreisförmigen Anlage konnte nur spekuliert werden. Erst in den 1960er-Jahren stellte Gerald Hawkins die Theorie auf, dass die An ordnung der Steine dazu dienen könnte, astronomische Ereignisse wie Tagundnachtgleiche und Sommer- und Wintersonnenwende vorauszusagen. Hawkins’ Geistesblitz wurde kontrovers diskutiert, gilt aber bis heute als brauchbare Erklärung.

Diese beiden Beispiele zeigen, dass hinter dem einfachen Akt des Wahrnehmens eine Art Agenda steht. Es ist kein Zufall, was wir bewusst wahrnehmen. Wir bemerken Dinge und Personen, die …

wir suchen.

wir schon beurteilt haben.

wir fürchten.

uns gefallen könnten.

eine Erklärung oder Lösung bieten.

Das sind Dinge, die auf der Agenda eines jeden Menschen stehen, auch wenn die genauen Themen individuell ganz verschieden sind. Die vollkommene Meditation hat ihre eigene Absicht, die evolutionär ist. Sie ist auf das Gewahrsein ausgerichtet, was ihnen ermöglicht, bewusster zu sein. Dazu gehört auch, sich gelegentlich zu ertappen, wie man etwas unbewusst tut. Doch die Agenda der vollkommenen Meditation hat noch andere Dimensionen:

Merken, wenn jemand anderer Aufmerksamkeit und Wertschätzung braucht.

Eine Gelegenheit erkennen, etwas zu geben oder jemandem einen nützlichen Dienst zu erweisen.

Eine Gelegenheit erkennen, freundlich zu sein.

Merken, wenn Hilfe benötigt wird.

Schönheit in der Natur wahrnehmen.

Wenn Sie Ihre innere Agenda darauf ausrichten, solche Gelegenheiten zu nutzen, bringen Sie sich in Einklang mit Ihrem tieferen Gewahrsein. So wie Ihre innere Uhr auch im Schlaf merkt, wie spät es ist, erfassen die tieferen Bewusstseinsebenen viel mehr als Ihr denkender Verstand. Ihr tieferes Gewahrsein ist die Quelle der wichtigsten Aspekte der menschlichen Existenz: Liebe, Mitgefühl, Kreativität, Neugier, Erkenntnis, Intelligenz und Evolution.

Orientieren Sie sich an diesen Dingen, und es werden sich neue Möglichkeiten für Sie eröffnen. Alexander Fleming war wie geschaffen für die Entdeckung des Penicillins, denn er war bereits ein renommierter Forscher, der wichtige Forschungsergebnisse vorzuweisen hatte. Eine liebende Mutter ist darauf eingestellt zu bemerken, dass es ihrem Kind nicht gut geht, während gleichgültigen Eltern das möglicherweise entgehen würde.

Dinge zu beachten, bedeutet, die Tür des Gewahrseins zu öffnen. Was Sie danach tun, bleibt Ihnen überlassen. In der vollkommenen Meditation bemerken Sie viel mehr, als Sie es vorher taten, aber es gibt keine Verpflichtung, auf eine bestimmte Weise zu handeln. Das Bewusstsein kann alles erreichen; dabei ist das Bewusstsein jedoch sich selbst Belohnung genug.

In der yogischen Tradition ist Gewahrsein vor allem für drei Zwecke wichtig: Hingabe, Handlung und Wissen. Diese werden durch Raja Yoga, das »königliche Yoga« abgedeckt, das auf kein bestimmtes Ziel oder Objekt ausgerichtet ist. Raja Yoga erlangt vollkommenes Erwachen um seiner selbst willen, was auch immer kommen mag. Ein Leben in Freiheit bedarf keiner weiteren Rechtfertigung.

Im täglichen Leben bedeutet das Ändern der inneren Zielsetzung auch, die Art der Wahrnehmung hinter sich zu lassen, die der persönlichen Entwicklung nicht dienlich ist wie etwa das Registrieren von Fehlern bei anderen, Menschen als Gewinner oder Verlierer zu klassifizieren und das Bedürfnis, andere zu korrigieren und uns selbst zum obersten Schiedsrichter zu erheben. Es führt kein Weg an der Tatsache vorbei, dass Zielsetzungen auch eine dunkle Seite haben. Es ist schwer, etwas zu bemerken, ohne es sofort zu beurteilen.

In der vollkommenen Meditation ist es wichtig, sich seiner Urteile gewärtig zu sein, aber nicht nach ihnen zu handeln. Wir sind allzu geübt im Spiel von Vorlieben und Abneigungen, Akzeptanz und Ablehnung, Anziehung und Aversion. Diese Gegensätze beherrschen unsere innere Zielsetzung. Wenn Sie sich jedoch für eine neue Agenda entscheiden, können Sie den Wandel vollziehen, und mit der Zeit wird das, was Sie bemerken, zu Ihrem Wachstum beitragen. Urteilsfreiheit beginnt damit, dass Sie keine Urteile bevorzugen, von denen Sie wissen, dass sie negativ sind. Bemerken ist nichts Zufälliges. Sie können schon jetzt damit beginnen, Gelegenheiten zum Erwachen zu erkennen. Dies allein reicht aus, um Ihre persönliche Entwicklung stark zu beschleunigen.

Es gibt keinen Plan

Die Zukunft ist unbekannt und unvorhersehbar, ob man nun Jahrzehnte, Jahre oder nur Minuten vorausschaut. Ihr nächster Gedanke ist Ihnen so unbekannt wie der Zustand der Welt im nächsten Jahrhundert. Trotz aller Ungewissheiten schmieden wir immer wieder Pläne, von denen einige aufgehen, aber auch das ist unvorhersehbar. Wir können jedoch eine andere Perspektive einnehmen. Das Leben lässt sich planen, indem man eine grundlegende Wahrheit begreift: Es gibt keinen Plan. Auf irgendeiner Ebene erkennen wir das alle instinktiv, und es bereitet uns nicht uneingeschränkt Freude. »Kein Plan« bedeutet, dass man ständig mit dem Unbekannten konfrontiert ist. Ist das eine kreative Chance oder eine Quelle der Angst?

Gegensätze koexistieren eher schlecht, das ist in fast allen Bereichen des Lebens so. Wir sind sowohl glü cklich als auch ängstlich und entscheiden uns nie dauerhaft fü r das eine oder das andere. Wir sind frei und gebunden, weshalb wir darauf bestehen, individuell zu sein, ein Ausdruck der Freiheit, und uns aber auch anpassen, um uns in die Gesellschaft einzufü gen, ein Ausdruck des Gebundenseins. Wer sich nicht anpasst, muss mit Bestrafung rechnen, wovon jeder gedemü tigte Jugendliche ein Liedchen singen kann, der von Internetmobbing betroffen ist. Ganz gleich, wie ängstlich oder unsicher wir uns fü hlen, wir setzen ein Gesicht auf, das solche unwillkommenen Gefü hle verbirgt. Menschen haben die grenzenlose Fähigkeit, zwei Dinge gleichzeitig zu sein. In einem totalitären Staat leben die Bü rger in äußerster Angst und marschieren trotzdem zum Lob eines »geliebten Fü hrers«.

Ein Klassiker unter den Selbsthilfebü chern ist Susan Jeffers’ Selbstvertrauen gewinnen: die Angst vor der Angst verlieren . Jeffers empfiehlt, die Angst zuzulassen, anstatt uns von ihr blockieren zu lassen. Dies ist ein guter Ratschlag, denn oftmals rennen Menschen vor der Angst weg, oder aber sie weigern sich, zuzugeben, dass sie ü berhaupt je Angst haben. Mit anderen Worten, wir kompensieren ständig. Wir finden Wege, Probleme zu umgehen, um nicht nur mit der Angst, sondern mit jeder Art von unerwü nschter Erfahrung leben zu können. Wir machen die klassische gute Miene zum bösen Spiel und schaffen es, unangenehme Situationen so ü berzeugend zu ü berspielen, dass wir uns vormachen, wir seien tatsächlich glü cklich. Denken Sie nur an die vielen Ehen, in denen ein Ehepartner glaubt, dass alles gut läuft, während der andere jeden Tag an Scheidung denkt.

Solche Kompromisse und das angepasste und kompensatorische Verhalten wären vielfach unnötig, wenn wir ein fü r alle Mal akzeptieren wü rden, dass es keinen Plan gibt. Wir sind ständig mit dem Unbekannten konfrontiert. Entweder Sie nutzen diese Tatsache als eine Quelle des Optimismus, der Kreativität und der Freude, oder Sie stehen ein Leben lang vor der Aufgabe, Gefü hle, denen Sie sich nicht entziehen können, und eine Unsicherheit, die niemals nachlässt, zu kompensieren. Ihr Herz kann nicht vorhersagen, wann es rasen oder langsamer schlagen wird. Ihre Lunge kann nicht vorhersagen, wann sie nach Luft schnappt oder völlig entspannt ihre Arbeit verrichten wird. Selbst fü r diese Organe, die mit einer festen Verhaltensvorlage versehen sind, gibt es keinen Plan.

Doch am Horizont des Unbekannten gibt es eine Möglichkeit, die nur dem Homo sapiens offensteht – Erwachen. Wer vollkommen bewusst ist, der fü rchtet das Unbekannte nicht, weil es weder eine Bedrohung noch eine Chance darstellt. Diese Begriffe gehören in das Feld der Gegensätze, eine Entweder-oder-Welt, die wir durch schiere Trägheit bewohnen. Der menschliche Geist ist darauf trainiert, zu akzeptieren und abzulehnen, Anziehung und Abstoßung zu empfinden, andere Menschen (und sich selbst) als gut oder schlecht zu beurteilen. »Kein Plan« bedeutet, frei von solchen Konditionierungen zu sein, die nur dazu dienen, das Leben so vorhersehbar wie möglich zu machen.

Der Wunsch nach Vorhersagbarkeit sollte sich auf Dinge wie das Wetter, funktionierende Stromleitungen oder die Zuverlässigkeit von Haushaltsgeräten beschränken. Dort ist sie richtig am Platz. Die Ausweitung der Vorhersagbarkeit auf den menschlichen Geist jedoch verfälscht die Realität. Wir sind dazu bestimmt, frei zu denken, zu gestalten, zu forschen und zu entdecken, uns frei zu entwickeln und unserer Fantasie freien Lauf zu lassen. Jede Beschränkung dieser Freiheiten ist selbst geschaffen und selbstzerstörerisch. Der wesentlichste Grund, so zu leben, als wäre man völlig wach, ist, dass man es bereits ist – man weiß es nur noch nicht. Der Geist verbirgt sich vor dem Geist. Er schafft Grenzen und fü hlt sich dann in ihnen gefangen und vergisst, alles, was er geschaffen hat, wieder rü ckgängig machen zu können.

Das ist das Paradoxon, das die vollkommene Meditation entwirrt. Aus dem verwirrenden Durcheinander des Lebens können Sie zu Klarheit und Gewissheit erwachen, beginnend mit der Klarheit darü ber, wer Sie wirklich sind und was Sie als Mensch erreichen wollen.

Vollkommene Meditation

Lektion 18: Spontaneität

Das Ziel der vollkommenen Meditation ist vollkommene Freiheit. So wie wir allerdings den Begriff frei normalerweise verstehen, setzt er uns enge Grenzen. Manche Erfahrungen erschrecken oder beunruhigen uns. Wir reden uns ein, dass viele Dinge unerreichbar für uns sind.

Es besteht eine große Kluft zwischen begrenzter Freiheit und vollkommener Freiheit. Die erste basiert auf dem, was man vernünftigerweise vom Leben erwarten kann. Die zweite beginnt damit, dass das Leben als ein Feld unendlicher Möglichkeiten betrachtet wird. Es bedarf einiger Überzeugungsarbeit, um die völlige Freiheit als mehr als einen Wunschtraum erscheinen zu lassen. Ist es überhaupt wünschenswert, sich grenzenlos zu fühlen? Dies könnte ja auch in eine Wahnvorstellung oder komplettes Chaos münden.

Da wir Menschen sind, sind wir hin- und hergerissen zwischen dem, was wir tun wollen, und dem, was wir glauben, uns erlauben zu können. Kein anderes Lebewesen spürt diese Art von Unsicherheit. Wenn sich ein gezähmter Tiger plötzlich gegen seinen Dompteur wendet und ihm tödliche Verletzungen zufügt, empfindet das Tier keine Reue. Nur in den Augen des Menschen hat sich der Tiger vom Guten zum Bösen gewandelt. Für die meisten von uns gehört nichts derart Bedrohliches zum täglichen Leben, aber wir verhandeln immer noch ständig mit unseren Wünschen, erfüllen uns einige und unterdrücken andere.

Es geht um Spontaneität. Die Standardposition der Gesellschaft ist es, spontanem Verhalten zu misstrauen und Gesetze und Regeln dagegen zu erlassen. Regeln durchzusetzen ist der sicherste Weg, um die Leute in Schach zu halten – das glauben zumindest jene, die die Regeln aufstellen. Diese Haltung lässt sich in fast unvorstellbare Extreme treiben. Wenn Sie in Amerika zu einer Bank gehen und einen Kredit beantragen, ist es üblich, dass die Bank Ihre Kreditwürdigkeit, Ihr Einkommen und Ihre Kreditkartenschulden überprüft. In China hingegen werden Sie vom Kreditvermittler auf elektronischem Wege überprüft, unter Verwendung von in der Cloud gespeicherten Daten. Ein mit einem Smartphone gestellter Antrag wird in einer Zehntelsekunde bewilligt oder abgelehnt, nachdem die Kreditagentur 5 000 (!) persönliche Faktoren überprüft hat, darunter, wie fest Sie auf die Tasten Ihres Smartphones drücken und wie niedrig der Akkustand jeweils ist, bevor Sie ihn wieder aufladen.

Wir sind alle nur allzu bereit, uns selbst Regeln aufzuerlegen und brauchen keine Autoritätsperson, die das für uns tut. Selbstdisziplin und Impulskontrolle gelten als erwünschte Eigenschaften eines reifen Erwachsenen. Es gibt ein berühmtes Experiment in der Kinderpsychologie, bei dem Kinder in Einzelsitzungen angewiesen wurden, sich an einen Tisch zu setzen, auf dem ein Marshmallow platziert worden war. Den Kindern wurde dann gesagt, dass sie, wenn sie möchten, das Marshmallow sofort essen dürften, wenn sie jedoch fünf Minuten warten könnten, erhielten sie zwei Marshmallows. Der Versuchsleiter verließ dann den Raum und beobachtete das Geschehen durch einen Einwegspiegel. Einige Kinder zappelten und kämpften gegen den Drang nach sofortiger Befriedigung. Andere griffen sofort nach dem Marshmallow und wieder andere warteten geduldig, bis die fünf Minuten um waren. (Wenn Sie den Kindern zuschauen möchten, geben Sie in YouTube als Suchbegriff »Marshmallow-Test« ein und freuen Sie sich auf ein wirklich reizendes Video.)

Dieses Experiment lässt darauf schließen, dass wir bereits von einem sehr frühen Alter an eine mehr oder weniger stark ausgeprägte Anlage zur Impulskontrolle haben. Die Tatsache, dass die Kinder, die Selbstkontrolle an den Tag legten, belohnt wurden, zeigt, welches Verhalten gesellschaftlich erwünscht ist. Viele der größten Geschenke des Lebens gehen jedoch mit Spontaneität einher – sich zu verlieben, Musik zu komponieren, Bilder zu malen, mit einem »Aha!«-Erlebnis überrascht zu werden und sogenannte Gipfelerlebnisse zu haben.

Wie können wir dafür sorgen, dass Spontaneität unser Leben bereichert und wir sie nicht unterdrücken müssen? Wir alle überwachen unsere Impulse aus Angst, aus der Sorge heraus, dass ein spontaner Impuls zu Verlegenheit, Ablehnung, Scham oder Schuldgefühlen führen könnte. In Singapur (einem Paradies für Regel-Junkies) können schon kleinere Verstöße wie das Ausspucken eines Kaugummis auf den Bürgersteig zu ernsthaften Konsequenzen führen. In China wiederum hat die fortgeschrittene digitale Technologie eine Entwicklung ermöglicht, bei der die Gesichter von unachtsamen Fußgängern, die Verkehrsregeln missachten, sofort auf einem öffentlichen Bildschirm erscheinen, was einem mittelalterlichen Pranger gleichkommt.

Jeder versucht, irgendwie einen Mittelweg zu finden zwischen »alles ist erlaubt« und »alles ist verboten«, ohne wirklich zu wissen, wo die Grenzen gezogen werden sollten. An einem Nacktbadestrand Urlaub zu machen, ist für den einen der Inbegriff von Freiheit an der frischen Luft, während es für den anderen Scham und Demütigung bedeutet. Dass sich jemand gleich fünf Hotdogs bestellt, ist für die meisten Menschen gleichbedeutend mit einer ernsthaften Störung der Impulskontrolle, aber andererseits hat 2018 ein Mann einen neuen Weltrekord aufgestellt, indem er bei einem Wettbewerb auf Coney Island vierundsiebzig Hot Dogs in zehn Minuten vertilgte (»Ich fühle mich richtig gut«, verkündete der Gewinner fröhlich nur wenige Minuten, nachdem er sich die 21 000 Kalorien einverleibt hatte).

Die Lösung unseres inneren Konflikts besteht darin, die Spontaneität zuzulassen, statt sie einzuschränken. Eine solche Spontaneität ist nur auf der Ebene des vollkommenen Bewusstseins möglich. Andernfalls bleiben wir Gefangene unserer selbst auferlegten Beschränkungen, Regelkonformität, Angst vor Peinlichkeiten oder Demütigungen und ähnlichen Sorgen, die natürlich sind, wenn man ein Leben lang der Absicht des Egos gefolgt ist. Sie können den inneren Konflikt nicht auf der vom gespaltenen Selbst diktierten Gewahrseinsebene lösen.

Der Krieg, den wir mit unseren Begierden führen, findet im gespaltenen Selbst statt. Vieles bleibt dabei auf der Strecke, denn der Versuch, jeden Konflikt einzeln zu lösen, ist sinnlos und zum Scheitern verurteilt. Wenn wir versuchen zu entscheiden, wie spontan wir sein wollen, stehen uns zahlreiche Hindernisse wie alle möglichen Vorurteile, Überzeugungen, Ängste vor schlimmen Folgen, Erinnerungen an vergangene Peinlichkeiten und gesellschaftlich angeeignete Hemmungen im Weg. Das gespaltene Selbst tut gut daran, sich selbst nicht zu vertrauen.

Glücklicherweise verfügt jeder Mensch über genügend Freiheit, um Momente der Spontaneität genießen zu können. Wer erwacht ist, kann das ganze Leben lang Lachen, Freude und Munterkeit erleben (wenn dies doch nur die Norm wäre). Die tiefste spirituelle Wahrheit besagt, dass Freiheit absolut ist. Wenn Sie in sich selbst ruhen und es keine dunklen Stellen mehr gibt, vor denen Sie sich fürchten müssen, liegt nichts mehr im Verborgenen. Die schädigende Wirkung der Selbstunterdrückung nimmt mit jedem Schritt ab, den Sie unternehmen, um sich von der Selbstbeurteilung zu befreien. Alles was verboten ist, ist erst recht reizvoll. Würden Sie die Keksdose offen auf dem Tisch stehen lassen und Ihrem fünfjährigen Kind sagen, dass Sie es ihm verbieten, Kekse zu essen? Wir alle wissen, was dann passieren würde, sobald Sie dem Kind den Rücken zudrehten.

Im Moment sind Sie sowohl Ihr eigener Regelhüter als auch ein Rebell gegen die Regeln. Es braucht eine Reise ins Bewusstsein, um nicht mehr geteilt zu sein. Sie sind nicht dazu bestimmt, sich gleichzeitig zu belangen und zu verteidigen. Sie sind dafür ausgelegt, dass Sie als Nächstes das tun wollen, was für Sie am besten ist. Das ist ein radikales Umdenken in Bezug auf das, was die Gesellschaft uns glauben machen will, aber wenn Sie sich für eine Lebensweise entscheiden, die auf dem Bewusstsein beruht, wird die Realität anbrechen. Spontaneität ist die Essenz des Lebens und die Seele der Kreativität.