KAPITEL SIEBEN
BRAITH
beobachtete Aria, die an dem Platz am Fenster saß. Ihre langen Beine hatte sie im Schneidersitz unter sich verschränkt, und ihr dunkles Haar schimmerte im Sonnenlicht, das durch die Fenster hereinfiel. Das Buch lag aufgeschlagen in ihrem Schoß, doch sie beachtete es gar nicht. Mit ihren Händen am Fenster und mit der Nase fast die Scheibe berührend, starrte sie nach draußen.
Da erst wurde ihm klar, was die beiden vergangenen Wochen für sie wirklich bedeutet haben mochten. Sie war es gewohnt, frei zu sein, wild herumzurennen und sich draußen aufzuhalten. Es war wahrscheinlich die längste Zeit gewesen, die sie jemals drinnen, mit einem Dach über ihrem Kopf, verbracht hatte, ständig versorgt mit Nahrung und anderen Annehmlichkeiten.
Er stellte mit Freude fest, dass der freie Zugang zu Nahrung sie schon an Gewicht hatte zulegen lassen. Ihre spitzen Knochen waren gerundet und ihre Schlüsselbeine stachen nicht mehr so hervor, auch ihre Rippen und die Wirbelsäule zeichneten sich in ihren Kleidern nicht mehr so deutlich ab. Ihr Gesicht hatte sich gefüllt, und ihre Wangenknochen waren weniger spitz. Sie sah irgendwie jünger aus, was er nicht unbedingt vorteilhaft fand. Ihr haftete jetzt eine Unschuld an, die von innen heraus kam. Als sie dünner war, wirkte sie derber, fast könnte man sagen, gewöhnlich. Er fand es dann ein bisschen leichter, ihr gegenüber gleichgültig zu sein, besonders wenn sie mit diesem Ausdruck im Gesicht aus dem Fenster starrte.
Er ging langsam auf sie zu und berührte sie zart an der Schulter. Sie zuckte leicht, aber sie schreckte nicht vor ihm zurück, fuhr nicht so zusammen und versteifte sich, wie sie es in der ersten Zeit getan hätte, als sie gerade erst hier angekommen war. Ihre Kulleraugen schimmerten blau, als sie fragend zu ihm aufsah.
Er konnte sich kaum vorstellen, dass er sie zuerst nicht schön gefunden hatte. Ja, sie war schmutzig, trotzig, übel riechend und viel zu dünn gewesen, aber ihre Ausstrahlung war immer da gewesen. Das herrliche, innere Glühen war immer Teil von ihr gewesen, noch nie war er etwas so Bezauberndem begegnet. Er war zunächst einfach zu erstaunt gewesen bei ihrem Anblick, um es zu bemerken. Jetzt war es für ihn mehr als offensichtlich, genauso wie ihre Sehnsucht nach Freiheit, die sie gerade verströmte.
„Möchtest du gerne für einen Spaziergang in den Garten gehen?“
Hoffnung leuchtete in ihren Augen auf, ihr Mund öffnete sich leicht, und sie strahlte voller Freude. Es war nur eine Kleinigkeit, die er ihr anbot und sie reagierte so, als hätte er ihr die ganze Welt zu Füßen gelegt.
„Darf ich?“, erkundigte sie sich aufgeregt.
Er nickte, und sein Blick wanderte über dieses Meer aus leuchtenden Farben, das hinter den Fenstern erstrahlte. Es war eine Weile her, dass er selbst einen Spaziergang in den Gärten genossen hatte, und er spürte ebenfalls, wie die Freude darüber in ihm wuchs. „Ja, ich nehme dich mit.“
Sie sprang auf die Füße, und ihre vollen Lippen verzogen sich zu einem breiten Lächeln, das ihn in Erstaunen versetzte. Sie lächelte selten, und wenn sie es tat, dann war es niemals so offen und lieblich. „Das wäre wunderbar.“
Er nickte und versuchte, seine zerstreuten Gedanken zu sortieren, während sie ihn weiter anstrahlte. „Na dann komm.“
Keegan erhob sich gemächlich, gähnte und streckte sich, da er gerade aus einem Schläfchen erwacht war. Braith legte die Hand auf den Kopf des Wolfes und streichelte beruhigend sein Fell. Schnell vorwärts eilend, hüpfte Aria förmlich. Sie würde nicht so fröhlich bleiben, da war er sich sicher. Unglücklicherweise war das unumgänglich.
„Arianna, du musst das hier tragen.“
Skeptisch drehte sie ihren Kopf zur Seite, als er eine dünne Kette vor sie hielt. Sie hing zwischen ihnen, baumelte bis auf den Boden; eine über einen Meter lange Goldkette. Aria legte die Stirn in Falten und weigerte sich zu verstehen, was das für ein Ding sein sollte, das er da vor ihr hin und her schwingen ließ.
„Alle Blutsklaven müssen sie in der Öffentlichkeit tragen“, erklärte er und hasste die Worte, noch bevor er sie aussprach.
„Was ist das?“
Es fühlte sich nicht gut an, ihr das zuzumuten, und er war wirklich abgeschreckt von dem Gedanken, einen so freien Geist anzuleinen wie einen Hund. Aber das waren die Regeln und die mussten eingehalten werden, besonders von ihnen. Schon jetzt waren im Palast Geflüster und Gerüchte über sie beide im Umlauf. Geflüster über den ersten Blutsklaven, den er jemals ausgewählt hatte, Geflüster, was wohl zwischen ihnen vorgehen mochte und warum er sich dafür entschieden hatte, von allen möglichen Kandidaten ausgerechnet sie zu behalten. Noch konnte er dieses Geflüster ignorieren, aber er konnte nicht erlauben, dass es dadurch lauter werden würde, dass sie ohne Ketten diesen Raum verließ. Er durfte ihr nicht erlauben, sich frei in der Öffentlichkeit zu bewegen. Jedes Gefühl, jeder Hauch von Fürsorge war zwischen einem Meister und einem Blutsklaven strikt untersagt. Jede Fürsorge zwischen Vampiren und Menschen
war strikt verboten. Wenn auch nur der Ansatz eines Verdachtes aufkäme, er könne Gefühle für Arianna hegen, würde sie ihm augenblicklich weggenommen und getötet werden. Sein Prinzsein würde dabei keine Rolle spielen, würde sie nicht aufhalten können.
Er würde nicht zulassen, dass so etwas passierte. Sie lag ihm vielleicht nicht wirklich am Herzen, aber er wollte sie auch nicht in der brutalen Weise, in der sie es tun würden, vernichtet sehen. Das wäre ihr gegenüber einfach nicht fair, und er war nicht gewillt, auf die Erhellung, die sie in sein Leben gebracht hatte, zu verzichten. Noch nicht jetzt jedenfalls, bevor er wusste, was das alles zu bedeuten hatte.
„Es ist eine Leine, um dich in meiner Nähe zu halten.“
Sie sah ihn mürrisch an, legte die Stirn in Falten und schüttelte leicht ihren Kopf. „Ich verstehe nicht. Die Leine ist für …“, ihr Blick wanderte zu Keegan. Erkenntnis erfüllte ihre Augen, bevor sie sich verengten. Nicht einmal Keegan trug eine Leine. „Ich verstehe“, knirschte sie.
„Wenn du raus in die Öffentlichkeit gehen willst, dann musst du sie tragen, das sind hier die Regeln.“
„Ich habe Gerüchte über die Blutkette gehört“, murmelte sie. „Aber ich hatte gedacht, es wären nichts als Gerüchte gewesen.“
Würde sie ihren Kiefer noch mehr anspannen, er wäre sicher, ihre Zähne würden zerbersten. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt. Obwohl sie Abneigung und Widerwillen ausstrahlte, konnte er das darunter liegende Unglück und die Gefühle der Enttäuschung deutlich erspüren. Mit herabhängenden Schultern drehte sie sich zum Fenster. Er hasste das Gefühl der Niederlage, das sie ausstrahlte, aber auch wenn sie es jetzt nicht sehen konnte, das hier war das Beste für sie, für sie beide.
„O. k.“ Ihre Stimme kippte, aber ihr Bedürfnis, nach draußen zu gehen, war größer als ihr Stolz. „O. k. Ich werde sie tragen.“
Er würde sie nicht daran erinnern, dass sie gar keine andere Wahl hatte, sie sah im Moment niedergeschlagen genug aus. Sie sah die goldene Kette an, als wäre sie eine giftige Schlange, die ihr den Kopf abbeißen wollte. Sie konnte entweder um den Hals oder um das Handgelenk getragen werden, je nachdem, was der Besitzer bevorzugte. Ihr Anblick machte ihm aber überdeutlich, dass er nicht noch zu ihrer Erniedrigung beitragen wollte, indem er sie um ihren Hals legte.
Er nahm ihre Hand, legte die Kette um ihr Handgelenk und befestigte sie behutsam. Jetzt, nachdem er sie an ihr befestigt hatte, war er der Einzige, der sie wieder lösen konnte. Er war derjenige, der Arianna besaß und kontrollierte, jeder würde wissen, dass sie ihm gehörte. Er war sich nicht ganz sicher, wie er sich dabei fühlte, es gefiel ihm nicht, sie zu besitzen. Was ihm aber durchaus gefiel, war die Tatsache, dass jeder sehen konnte, dass sie zu ihm gehörte, dass niemand anderer sie berühren durfte. Niemals.
Sie hob ihren Kopf und schluckte schwer, als sie seinen Blick traf. Die schlechte Stimmung verschwand jedoch allmählich, und sie trug ihren Kopf wieder höher. Sie war vielleicht gedemütigt worden und unter seiner Kontrolle, aber sie würde sich nicht erlauben, sich geschlagen zu geben. Zum ersten Mal musste er sich eingestehen, dass er dieses Menschlein vor ihm bewunderte. Er hatte nie viel von ihrer Art gehalten (sie waren auf jeden Fall unter seiner Würde), hatte nicht einen Moment lang über sie nachgedacht, außer im Zusammenhang mit Nahrung und Vergnügen. Aber dieses Mädchen ließ ihn seine Einstellung zur menschlichen Spezies noch einmal überdenken, und er hielt es für möglich, dass sie vielleicht doch etwas wertvoller waren, als er bisher angenommen hatte. Auf jeden Fall schien sie
es zu sein.
Er ergriff ihre Hand und hielt sie für einen Moment fest, das Gefühl der Fessel um ihre sanfte Haut missfiel ihm. Für einen Moment hatte er den Impuls, ihr die Kette abzustreifen, aber die Konsequenzen eines solchen Verhaltens wären für sie beide furchtbar. „Nun gut dann“, murmelte er mit Bedauern.
Er hielt die Leine locker in der Hand und ergriff seinen Gehstock. Arianna folgte ihm ohne Eile zur Tür hinaus und sah sich in der Halle um. Auf ihrem Gesicht war dieses Mal keine Ehrfurcht mehr zu sehen. Stattdessen bemerkte er besorgt ihren abschätzenden Blick. Er sah auf ihre Brust und fragte sich, ob heute wohl der Tag sei, an dem sie versuchen würde, die versteckte Waffe zu benutzen. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde die Leine sie allerdings davon abhalten.
Er brauchte sich um den Spieß keine Sorgen zu machen. Wenn sie versuchen würde, ihn einzusetzen, würde sie keinen Erfolg damit haben. Möglicherweise sollte er ihr die Waffe einfach wegnehmen, aber er war zu neugierig, ob sie wirklich einen Versuch wagen würde. Außerdem schien es ihr gutzutun ihn zu haben, war sie doch nicht mehr ganz so nervös und unsicher, seit sie ihn bei sich trug. Er hatte die Hoffnung, dass ihr Vertrauen so weit wuchs, dass sie gar nicht versuchen würde, ihn zu verletzen. Er mochte die Idee nicht, dass er sie vielleicht würde töten müssen.
Egal wie verzaubert er von ihr war, der listige Ausdruck ihrer Augen erinnerte ihn an die Tatsache, dass sie eine Rebellin war, die jede Chance nutzen würde zu entfliehen, wenn sich ihr nur eine Gelegenheit dazu bot. Er konnte nicht erlauben, dass das passierte.
Da er vermeiden wollte, wieder seinen Verwandten zu begegnen, brachte er sie diesmal über die Hintertreppe nach unten. Zwei seiner Bodyguards, die offensichtlich erstaunt darüber waren, dass Aria wieder auftauchte und nun völlig anders aussah als nach ihrer Ankunft, folgten ihnen.
Er führte sie durch einen weiteren Gang auf die Tür zu, die zum Garten hinausging. Keegan stoppte an der Tür, bevor Braith es tat. Er streifte geschmeidig an den Beinen seines Herrn entlang und setzte sich dann. Braith tätschelte leicht seinen Kopf und dankte damit seinem Freund für dessen Hilfe, auch wenn er diese im Moment nicht unbedingt benötigte. Braith war sich ziemlich sicher, dass dem Wolf diese Tatsache nicht entgangen war. Fast so, als wäre er sich dessen bewusst, dass sein Meister das verstecken wollte, veränderte er aber sein Verhalten nicht.
„Lasst uns allein“, befahl er den beiden Männern, die ihnen folgten.
Die Männer traten in die Halle zurück, als Braith die Tür aufschwang. Keegan konnte es kaum erwarten, nach draußen zu kommen, und sprang vor. Freude wurde auf Arias Gesicht sichtbar, als sie den leichten Wind auf ihrer Haut spürte und den Garten überblickte, in den sie nun hineingingen.
„Es ist von hier unten noch schöner“, seufzte sie.
Braith blickte zu den Gärten. Er hatte sie früher ganz nett gefunden, aber das war schon sehr lange her. Jetzt, wo er sie durch ihre Augen sehen konnte, genoss er sie noch viel mehr. „So etwas habe ich noch nie gesehen.“ Sie bewegte sich mit zarter Anmut durch die farbenprächtigen Beete aus Blumen, die Hecken und Statuen.
„Habt ihr keine Blumen in den Wäldern?“, erkundigte er sich. Er hoffte, sie in ein Gespräch über ihr Zuhause verwickeln zu können, über das sie selten etwas verriet. Sie schien fast ängstlich zu reagieren, wann immer es erwähnt wurde.
„Oh, natürlich haben wir Blumen“, erwiderte sie leichthin. Ihr Gesicht war in Bewunderung erglüht, und mit einem liebevollen Ausdruck bei der Erwähnung ihres Zuhauses, glänzten ihre Augen im Licht. „Aber nicht solche wie diese.“ Sie ließ ihre Hände über gelbe Rosen schweifen, beugte sich zu ihnen hinunter und atmete ihren Duft tief ein. „Wunderschön.“
„Das sind Rosen.“
„Rosen“, wiederholte sie und strich mit ihren Fingern über die Blätter. „Die gefallen mir.“
Er ließ die goldene Kette aus seinen Händen fallen und dachte, dass sie es gar nicht bemerkte, wie sie da so durch den Garten wandelte. Tatsächlich war sie so versunken, dass er befürchtete, sie könnte über die Leine stolpern, während sie zum Flieder gingen. Sie war bezaubernd und absolut betörend inmitten dieser farbigen Welt aus Blumen, Sträuchern und Skulpturen. Sie atmete den Duft des Flieders tief ein und trat hastig einen Schritt zurück, wobei sie ihre Nase kräuselte und rieb.
„Flieder“, informierte er sie.
„Hmm.“ Sie betrachtete ihn noch einen Moment lang, bevor sie weiterging, offenbar nicht angetan von seinem intensiven Geruch. Bei ihrem weiteren Gang durch die Gärten nannte er jede Blume für sie beim Namen. Auch wenn sie den Duft des Flieders nicht gemocht hatte, hielt sie das nicht davon ab, an jeder weiteren Blume zu riechen, die ihnen auf ihrem Weg begegnete. Die meisten bestanden ihren Test, andere wiederum nicht.
Sie fror, als sie an den Treibhäusern vorbeikamen. Ihre Augen weiteten sich, und ein weiteres vergnügtes Keuchen entwich ihr. „Oh“, hauchte sie, und ihre Hände flogen erfreut zu ihrem Mund. „Oh, das ist wunderschön!“
Braith betrachtete den großen, barock anmutenden Brunnen. Es war Jahre her, seit er ihn zuletzt gesehen hatte, aber bis heute hatte er nie die ganze Schönheit der filigranen Skulpturen wahrgenommen. Das Wasser floss von ihm herunter und veränderte die Farbe im Sonnenlicht, floss herab auf einen Mann und eine Frau, die einander ewig ansahen, sich aber nie berührten.
Aria erreichte den Brunnen mit zögerlichen Schritten. Sie streckte ihre zitternde Hand nach den Ornamenten aus. Er war nicht überrascht, Tränen in ihren Augen schimmern zu sehen. Er wusste, dass das passierte, wenn sie etwas betrachtete, dessen Schönheit sie bewegte. Es passierte auch immer mal wieder, wenn sie zusammen lasen und die Geschichte sie anrührte. Er glaubte, dass sie sich ihrer Tränen meist gar nicht bewusst war.
Ein wunderschönes Lächeln erhellte ihr Gesicht, als sie in den Brunnen schaute, und ein kleines Lachen entwich ihr, als sie die Fische entdeckte, die in dem Becken herumschwammen. Es war das erste Mal, dass er ihr Lachen hörte, und er musste zugeben, dass es ein wunderschöner, erfrischender Klang war. Einer, den er sehr genoss.
Sie saß auf dem Rand des Brunnens und hielt ihr Haar zurück, während sie den Fischen zusah, die im Becken hin und her kreuzten. Sie sah ihren Fingern hinterher, die sie durch das Wasser zog. Er kam näher zu ihr, hob die Kette auf und legte sie neben ihr auf den Brunnenrand. Er dachte nicht, dass sie jetzt fliehen würde, aber selbst wenn sie es versuchte, sie würde nicht weit kommen mit dem Band an ihrem Handgelenk. Das Band war für ihn gemacht und nur für ihn allein, und er wäre immer in der Lage, es zu finden. Gleichgültig, wie weit sie sich entfernen würde.
„Sie sind wunderschön.“
Er schaute in das klare Wasser und genoss die brillanten Farben der vielen Fische, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder ihr zuwandte. Er fand es viel interessanter, sie zu beobachten. Ihr Haar umspielte sie in dunkelroten Wellen, die in den Strahlen der Sonne, die durch die Obstbäume fielen, glänzten.
Keegan hob seinen Kopf von den Pfoten, er stellte die Ohren auf und beobachtete, wie sie sich vom Brunnenrand erhob und weiterlief. Doch plötzlich hielt sie an, warf ihren Kopf zurück und schloss die Augen, während sie die Strahlen der Sonne in sich aufzusaugen schien. Zu Braith‘ völliger Überraschung und Freude warf sie ihre Arme gen Himmel und fing an zu lachen, und wirbelte dabei im Kreis herum, atmete die frische Luft ein und erfreute sich an der Sonne.
Er konnte seine Augen nicht von ihr lassen, und es kostete ihn alles, was er vermochte, sie sich nicht einfach zu schnappen und zu küssen. Er sehnte sich wahnsinnig danach, zu spüren, wie sich dieser köstliche Mund, wie sich ihr Körper an seinem wohl anfühlen mochte, aber auf gar keinen Fall würde er diesen wunderbaren Moment für seine eigennützigen Interessen unterbrechen. Er wusste, wenn er sie berührte, würde ihre überschwängliche Freude verschwinden. Zum ersten Mal konnte er die Brunnenstatuen mit dem sehnsüchtigen Ausdruck auf ihren Gesichtern verstehen. Arianna ungehindert ansehen zu können, ohne sie berühren zu dürfen, war seine ganz spezielle Folter, das begann er gerade schmerzlich zu begreifen.
In was für eine Hölle hatte er sich mit ihr nur gebracht?
***
Aria stand verunsichert im Türrahmen und fragte sich, ob sie hineingehen sollte. Der Prinz war in seinem Apartment und unterhielt sich mit einem Mann, ihre dunklen Köpfe hatten sie zusammengesteckt. Sie wusste, dass sie besser in ihren Raum zurückgehen und wegbleiben sollte, bis der Fremde gegangen war, aber sie war neugierig auf diesen anderen Mann. Ehrlicherweise musste sie gestehen, dass sie auch einsam war und nach jemandem suchte, der ihr Gesellschaft leistete.
Zudem genoss sie inzwischen fast schon das Zusammensein mit dem Prinzen, jedenfalls war es heute Vormittag ziemlich nett mit ihm gewesen.
Wie auch immer, sie hatte das Gefühl, dass es nicht der richtige Zeitpunkt war, sich zu zeigen. In der Absicht, sich zurückzuziehen, trat sie einen Schritt zurück, aber Keegan bemerkte sie und kam zu ihr herüber, um sie zu begrüßen. Die Reaktion des Wolfes hatte die Aufmerksamkeit der beiden Vampire auf sie gelenkt. Der Prinz stand sofort auf, seine Hand ergriff den Gehstock, und er kam auf sie zu. Der andere Mann blieb noch einen Moment lang sitzen und schaute sie schockiert an. Dann stand er ebenfalls langsam auf.
„Es tut mir leid“, entschuldigte sich Aria im Wissen, dass sie schleunigst verschwinden sollte. Egal wie gut der Prinz sie auch behandelte, sie war ein Blutsklave und sollte als solcher auch ihren Platz kennen. Ganz sicher gehörte es sich nicht, ihn während einer, wie es aussah, sehr wichtigen Besprechung zu stören. Der Mund des Prinzen verzog sich zu einer missbilligenden Linie, seine Knöchel zeichneten sich weiß auf seinem Stock ab.
„Ich wollte nicht … Es tut mir leid.“
Sie stammelte die Entschuldigung und trat ein paar Schritte zurück. Instinktiv wusste sie, dass sie etwas Falsches getan hatte, dass ihre sichere Position in diesem Haushalt ins Wanken geriet.
„Warte.“ Es war nicht der Prinz, der gesprochen hatte, aber sie erstarrte trotzdem, ihr Herz raste, als der eigenartige Vampir sie scharf beobachtete. Fast hätte sie den Prinzen flehentlich um Hilfe angesehen, hoffte auf ein Zeichen der Besänftigung, aber sie würde niemals zulassen, dass der Fremde den Eindruck gewinnen konnte, sie würde bei dem Prinzen Schutz suchen oder ihn gar mögen. Nein, sie spürte nur zu genau, dass das hier der Zeitpunkt war, unterwürfig und gebrochen zu erscheinen. „Komm her“, befahl der Fremde.
Aria unterdrückte ihren Stolz und spürte deutlich die Wut, die sie durchströmte, aber sie schaffte es, ihr Gesicht ausdruckslos zu belassen, da sie die Rolle des sanftmütigen Menschen nach ihren besten Möglichkeiten spielte. Der Prinz trat verärgert einen Schritt auf sie zu, platzierte seinen Gehstock vor sich und legte seine Hände um den Knauf. Aria zögerte, verunsichert durch die Situation, in die sie sich selbst gebracht hatte und wissend, dass sie den Befehl nicht ignorieren konnte. Ihr Besitzer mochte ein Prinz sein, aber nach den Regeln der Blutsklaven war es ihr nicht gestattet, sich irgendeinem der Vampire zu widersetzen, es sei denn, es ginge um Dinge, auf die allein der Besitzer Anspruch hatte. So wie ihr Blut oder ihr Körper, doch nach keinem dieser Dinge war sie gerade gefragt worden.
Heftig schluckend faltete sie ihre Hände vor dem Körper und bewegte sich zögerlich vorwärts. Auch wenn sie mit dem Prinzen oft trotzig, selbstbewusst und kühn war, sie spürte, dass ein solches Verhalten hier nichts zu suchen hatte. Sie hielt ihren Blick gesenkt, vermied es, dem Besucher in die Augen zu sehen, und stellte sich vor ihn.
Der Fremde kam näher, umkreiste sie auf eine Art, wie sie es bei Rudeln wilder Hunde in den Wäldern gesehen hatte, wenn sie ihre Beute einkreisten, bevor sie sie angriffen. Sie schloss für einen kurzen Moment die Augen und hoffte auf Stärke und Geduld, um ihr durch diese schreckliche, erniedrigende Situation zu helfen. Sie musste ihre Zunge beherrschen, sie musste sich demütig zeigen, wenn sie ihre Sicherheit nicht aufs Spiel setzen wollte. Sie tauschte einen Blick mit dem Prinzen, aber er wippte auf seinen Fersen und schien weiterhin gleichgültig. Obwohl er nach außen hin ungezwungen erschien, konnte sie die Anspannung in seinen Schultern und seinen starken Muskeln wahrnehmen. Sie wusste nicht, was hier wirklich gerade passierte, aber ihr war klar, dass es mehr als das Augenscheinliche war.
„Nicht schlecht, Bruder, nicht schlecht.“ Arias Kopf schnellte unwillentlich hoch, als der Fremde sich vor sie hinstellte. Sein Haar hatte dieselbe dunkle Farbe wie die des Prinzen, seine Gesichtszüge waren ebenfalls ähnlich, auch wenn seine Nase irgendwie länger und kräftiger war und seine Lippen schmaler. Seine Augen, nicht verdeckt durch dunkle Gläser, hatten den Ton von dunklem Waldgrün und waren überraschend schön. Er war kleiner als der Prinz, aber seine Schultern wirkten beeindruckend breit, als er noch näher auf sie zutrat. Aria hatte keine andere Möglichkeit, als einen Schritt zurückzuweichen, da er seine Größe und Statur benutzte, um sie in die Enge zu treiben. Seine Augen blitzten vor Vergnügen, als er näher und näher an sie herantrat und sie damit veranlasste, einen weiteren Schritt zurückzugehen.
Groll durchflutete sie, und sie sehnte sich danach, den Spieß herauszuholen und ihn direkt in sein Herz zu stoßen. Es reizte sie, dieses Monster zu töten, aber ihren Spieß jetzt zu offenbaren würde ihr nichts einbringen als den sicheren Tod. Dies war nicht der Moment für Unbesonnenheit, nicht der Moment für törichtes Verhalten. Wenn sie jemals eine Chance haben wollte zu entfliehen, dann konnte sie sie nicht dadurch verscherzen, dass sie jetzt die Beherrschung verlor. Es war egal, wie sehr sie sich wünschte, gegen dieses Imponiergehabe, gegen diese herrische, unbarmherzige Kreatur aufzubegehren, denn das zu tun würde ihr nichts als Probleme bereiten. Weil er, seinem Aussehen und seinem Reden nach zu urteilen, ebenfalls ein Prinz mit allen dazu gehörigen Rechten war.
Aria hatte Gerüchte gehört, es gebe vier Brüder und zwei Schwestern. Sie hatte aber auch gehört, es seien drei Brüder und keine Schwester oder sogar vier Brüder und drei Schwestern. Die Gerüchteküche um die königliche Familie hatte immer gebrodelt, in den Dörfern rund um den Palast, während man in den Rebellenlagern noch weniger über sie wusste. Aria nahm an, dass die königliche Familie das genauso haben wollte. Wenn niemand irgendetwas sicher über sie wusste, konnte man ihnen auch nicht in die Karten schauen.
Sie fragte sich, welcher der Brüder wohl der ältere war, welcher von ihnen eines Tages das Königreich regieren würde, aber sie nahm an, dass es in ihrer Situation eigentlich keinen Unterschied machte.
Ihr Prinz schwieg weiterhin, und seine Gleichgültigkeit verursachte ihr ein kleines Stechen in der Brust.
Hatte sie sich die wachsende Bindung zwischen ihnen nur eingebildet? Hatte sie sich einfach nur aus Verzweiflung dafür entschieden, zu glauben, dass er tatsächlich angefangen hatte sie zu mögen? Welchen anderen Grund konnte es dafür geben, dass er heute mit ihr spazieren gegangen war? Warum sonst sollte er ihr das Lesen beibringen? War sie wirklich zu leichtgläubig gewesen?
Natürlich war sie das, wurde ihr nun bewusst. Verärgert über sich selbst, brachte sie sich dazu, ihren Kopf zu senken. Natürlich kümmerte sie ihn nicht, sie war ein Nichts für ihn, war nie mehr gewesen und würde es auch nie sein. Sie hatte eigentlich gewusst, dass er nur mit ihr spielte, dass er sie einlullte, damit es am Ende noch mehr schmerzen würde. Und auch wenn er
möglicherweise dieses Spiel doch nicht spielte, sie
tat es auf jeden Fall.
Sie ballte die Hände zu Fäusten, schloss die Augen, nahm einen tiefen Atemzug und beherrschte ihr Temperament. Sie war nicht verärgert über die beiden Vampire, sie war noch nicht einmal verärgert über die ganze Situation, aber sie war voller Wut
über sich selbst. Sie war so dumm gewesen! Sie hatte ihre Aufmerksamkeit schleifen lassen und dachte, sie wäre mehr als eine gefügige Hinterwäldlerin für ihn. Abgesehen davon, dass sie mehr als das war
, was er aber nicht wusste.
Ihr Vater war ein Anführer, ein Regent mit eigenen Rechten. In ihrer Welt war sie ein hervorragender Jäger und ein starker Krieger. Sie hatte nicht Daniels Talent für Strategien und das Schmieden von Plänen, noch hatte sie Williams charismatische Ausstrahlung, die Menschen dazu brachte, in die Schlacht zu ziehen, aber sie war schnell und sie war stark und sehr geschickt im Gebrauch vielfältiger Waffen. Ja, sie hatte vielleicht keine Bedeutung in dieser
Welt, aber in ihrer Welt hatte sie viele verschiedene Talente und Fähigkeiten, die hoch angesehen waren. In ihrer Welt war sie jemand, sie wurde bewundert, geliebt und respektiert.
Und sie vermisste es schrecklich. Plötzlich von Heimweh überwältigt, zog ihr Hitze in das Gesicht, als sie ausdruckslos unter der grausamen Begutachtung des Fremden ausharrte. Sie wollte so schrecklich gerne aus diesem Raum verschwinden, wollte so schrecklich gerne die letzten fünf Minuten zurückdrehen. Sie wünschte, sie wäre niemals hierhergekommen, wünschte, sie wäre in der Lage gewesen hinauszuschlüpfen, bevor einer der beiden sie bemerkt hätte.
Und doch, dies hier war besser, entschied sie, eigentlich war es so viel besser.
Sie hatte die letzten drei Wochen in einer Art luftigem Traum verbracht. Sie hatte versucht, die Realität zu leugnen, aber nun starrte sie ihr ins Gesicht, und sie war genauso zermürbend und genauso grausam, wie sie immer gewesen war. Sie hatte Nahrung, Luxus und Reinlichkeit hier, aber das war wenig im Vergleich zu dem Respekt und der uneingeschränkten Liebe ihrer Familie. Danach sehnte sie sich gerade in diesem Moment ganz furchtbar.
„Vielleicht, wenn du mit ihr fertig bist …“
„Das denke ich nicht, Caleb“, sagte der Prinz energisch.
Calebs Mund verzog sich zu einem bösen Lächeln. „Planst du, sie zu benutzen, bis nichts mehr von ihr übrig ist?“
„Das habe ich noch nicht entschieden.“
Aria zitterte entsetzt bei diesen Worten. Sie zwang sich, ihren Kopf gesenkt zu halten, da sie befürchtete, dass sie, wenn sie einen von ihnen ansehen würde, anfinge zu schreien, um niemals mehr damit aufzuhören. Sie kämpfte das Bedürfnis nieder ihnen entgegenzuschleudern, wie fürchterlich sie waren, wie falsch und schrecklich und grausam ihre Worte waren. Sie wollte sie anschreien, dass sie das nicht verdiente, dass Menschen das nicht verdienten. Sie wollte ihnen ganz genau sagen, was sie von ihnen beiden hielt, aber das würde lediglich ihren Tod garantieren.
Sie beabsichtigte, ihnen zu zeigen, dass sie mehr war als ein Nichts, dass sie etwas ganz Besonderes war. Um das zu tun, musste sie sich von hier befreien. Sie würde der erste Blutsklave sein, der sich aus den Fängen seines Besitzers befreite, und sie konnte das tun, sie wusste, dass sie es irgendwie schaffen konnte.
„Lass uns allein.“ Aria sah schnell auf und traf kurz die verschatteten Augen ihres Prinzen. Caleb beobachtete sie immer noch, so als wäre sie ein Stück Fleisch, das er sich gleich zu Gemüte führen würde. Sie hasste das anzügliche Glitzern in seinen Augen, es erinnerte sie an den buckligen kleinen Vampir, der sie zuerst ausgewählt hatte. „Jetzt!“
Sie setzte sich bei diesem gebellten Befehl in Bewegung. Der Prinz hatte ihr gegenüber nie die Stimme erhoben. Er war herrisch und fordernd gewesen, als sie angekommen war, aber er hatte sie niemals angeschrien. Neue Entrüstung stieg in ihr hoch, doch schnell vergrub sie sie, zusammen mit ihrer wachsenden Wut und dem Gefühl des Verrats. Sie schaffte ein kleines Nicken, bevor sie sich auf dem Absatz umdrehte, und sie schaffte es auch, nicht zu rennen, als sie aus dem Raum eilte. Sie wollte nicht, dass sie merkten, wie aufgebracht sie wirklich war.