KAPITEL ZEHN
ARIA hasste die dünne goldene Kette, aber sie akzeptierte, dass sie sie tragen musste, da es ihr ansonsten nicht möglich gewesen wäre, auch nur einen Fuß nach draußen zu setzen. Ihr Wunsch das Haus zu verlassen war so groß, dass sie ihn fast schmecken konnte, so groß, dass sie schon zitterte wegen ihres Bedürfnisses, wieder frische Luft einzuatmen und auf ihrer Haut zu spüren.
Außerdem war es die einzige Chance, die sie hatte, Max zu finden. Zum Glück brauchte sie nicht so viel Überzeugungsarbeit bei Braith, wie sie befürchtet hatte. Sie nahm an, dass er sie mit in die Stadt nahm, weil er wollte, dass die Leute sahen, dass sie an ihn gekettet war wie jeder andere Blutsklave auch.
Aria ignorierte die fragenden Blicke der Passanten, als Braith sie durch die Straßen führte. Obwohl sie wusste, dass eine Rebellenattacke auf den Palast keine Chance auf Erfolg haben konnte, versuchte sie doch, so viele Einzelheiten über die Stadt und die Grenzen des Palastes in sich aufzunehmen wie nur möglich. Die mit Kopfstein gepflasterten Straßen waren sauber und eingefasst von wunderschönen Gebäuden, die, wie sie nach einer Weile feststellte, wirklich Wohnhäuser waren.
Vampire bewegten sich über die Straßen, vielen folgten dabei demütig ihre Blutsklaven. Die goldene Leine war das Strahlendste an diesen armen Pechvögeln, die hinter ihren Meistern hertrotteten. Aria versuchte krampfhaft, sie nicht anzustarren, ihre Traurigkeit nicht zu spüren, aber nachdem sie ein paar hundert Meter weit die Straße hinuntergelaufen waren, stiegen Tränen in ihren Augen.
Diese Sklaven waren abgemagert, geschlagen und übersät mit Narben und blauen Flecken. Manche sahen gesünder aus als andere, aber auch aus deren Augen kam ihr eine Trostlosigkeit entgegen, die sie erschütterte. Das waren ihre Leute, und sie wurden grausam benutzt und langsam ausgeblutet. Braith hatte sie vor solch einem Schicksal gerettet, aber sie war sehr nahe daran gewesen, dieses Los mit ihnen zu teilen. Dieser Gedanke ließ sie nicht weniger schaudern, er verstärkte nur noch das Gefühl des Entsetzens. Sie war nicht besser als diese Menschen; sie verdiente es nicht, verschont zu werden, wenn sie es nicht wurden.
Braith ergriff ihren Ellenbogen und zog sie näher zu sich heran. „Hör auf zu weinen und zeige kein Mitleid. Wenn du das tust, dann müssen wir zurückgehen. Es ist dir nicht erlaubt, solche Gefühle zu zeigen, hast du mich verstanden?“, zischte er ihr ins Ohr.
Aria schluckte heftig und neigte den Kopf, bei dem Versuch, die heißen brennenden Tränen wegzublinzeln. Wie konnte sie kein Mitgefühl zeigen für diese armen, gebrochenen Leute, die ungerechterweise so leiden mussten? Braith ließ ihren Arm los und trat hastig einen Schritt von ihr weg, als sie sich dem geschäftigeren Teil des Marktes näherten.
Vampire und freie Menschen mischten sich in den Läden und Geschäften, in den Straßen priesen Marktverkäufer lautstark ihre Waren an, und übertönten so das lärmende Gewusel der Menschenmenge. Arias Augen saugten alles auf, unfähig, all das gleichzeitig zu verarbeiten. Sie hatte so etwas in ihrem Leben noch nicht gesehen, hatte nicht für möglich gehalten, dass ein solcher Ort existieren könnte. Es gab hier so viel, während so viele andere so wenig hatten. Die Gier und die Eigennützigkeit waren überwältigend. Sie spürte Wut in sich aufsteigen, und das Gefühl der Hilflosigkeit wuchs derartig, dass sie Mühe hatte zu atmen.
„Wahnsinn“, murmelte sie und versuchte, die wachsende Abneigung nicht zu offenbaren, die sich in ihr ausgebreitet hatte.
Sie fühlte Braith‘ Augen auf sich gerichtet, aber sie sah ihn nicht noch einmal an. Als sie eine Hügelkuppe umrundeten, stoppte sie plötzlich. Der Atem gefror in ihrer Lunge, und das Gefühl von Heimweh stieg mit einer solchen Intensität in ihr auf, dass ihre Beine beinahe nachgaben. Oberhalb der Stadtmauern, jenseits des Städtchens, das sich in das Tal hinter dem Palast schmiegte, waren die Wälder. Ihre Wälder. Sie zitterte, und ihre Finger verkrampften sich, während sie einen Schritt nach vorn ging. Einen Augenblick lang konnte sie sie fast berühren, konnte den kühlen Schatten der Laubbäume fast empfinden, die Berührung der rauen Rinde, und sie roch den muffigen Geruch von Blättern und Erde. Für einen Moment lang war sie dort, mit ihrer Familie. Für einen kleinen Moment lang war sie glücklich, einen Augenblick lang war sie zu Hause.
Dann schlug ihr die Wirklichkeit grausam ins Gesicht, und sie war zurück auf dem überfüllten Markt der Palaststadt, angebunden an einen Vampir, dem sie gehörte, und umgeben von ihren Feinden. Sie war nicht frei; sie war schon seit einiger Zeit nicht mehr frei und würde es vielleicht auch nie mehr sein. Sie war weit entfernt von den Wäldern und den Menschen, mit denen sie aufgewachsen war. Sie fühlte sich gebrochen, hohl, und auch die Anwesenheit von Braith an ihrer Seite konnte wenig dazu beitragen, das Heimweh in ihrer Brust zu besänftigen.
Er führte sie durch die sich willig teilende Menge. Im Bemühen, ihm und Keegan aus dem Weg zu gehen, huschten alle schnell beiseite. Aria folgte Braith stillschweigend und benahm sich damit so, wie es von ihr als einer Blutsklavin erwartet wurde. Im Moment fiel ihr diese Rolle auch nicht allzu schwer. Sie war zu ausgelaugt, um mit seinem forschen, entschlossenen Schritt mitzuhalten. Sie ließ ihre Blicke über das Meer aus Körpern schweifen und bemühte sich, auf der Suche nach Max oder der Frau, die ihn gekauft hatte, niemanden zu übersehen.
Als sie aus der Menge herausgetreten waren, stoppte Aria im Angesicht der Bühne, auf der sie sich hatte präsentieren müssen. Ein Gefühl der Übelkeit überkam sie, und es sträubte sich alles in ihr. Sie fühlte einen Ruck an ihrer Leine, aber beim Anblick der neuen Opfer, die da auf die Bühne traten, konnte sie ihre Füße nicht dazu bringen, sich zu bewegen. Derselbe Mann, der ihre Auktion geleitet hatte, pries nun die Vorzüge des jungen Mannes an, den er festhielt.
„Beweg‘ dich!“ Ein harter Stoß brachte sie kurz aus dem Gleichgewicht und bugsierte sie vorwärts. Auf die Frau, von der sie aus dem Weg geschubst worden war, konnte sie kaum einen Blick erhaschen.
Aria konnte nun ihre Füße davon überzeugen, sich wieder zu bewegen. Sie stolperte vorwärts, und in der überfüllten Straße fiel es ihr plötzlich schwer, zu atmen. Braith war bei einem älteren Mann mit Bierbauch und ergrauendem Haar stehen geblieben. Die Tatsache, dass es sich um einen menschlichen Verräter handelte, irritierte sie. Als er sprach, gestikulierte er wild mit seinen Händen herum.
Der Mann ignorierte ihre Anwesenheit, aber sie konnte sehen, dass sein Blick über ihre goldene Leine huschte. Aria drehte sich von ihm weg und versuchte, die Fesseln zu vergessen, die sie an Braith festbanden. Sie hatte Mühe, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten, denn wieder musste sie daran denken, dass Keegan sich frei bewegen durfte, während sie angekettet war. So war es hier nun mal, es war der einzige Weg, einen Blutsklaven mit nach draußen zu nehmen. Wenn er ihr erlaubte, sich frei zu bewegen, würde das viel zu viele Fragen aufwerfen.
Obwohl sie sich an all das erinnerte, sträubte sie sich gegen diese Einschränkungen und gegen die Tatsache, dass so ihr Leben aussehen sollte, wie lange es auch noch dauern mochte.
Als sie hier angekommen war, hatte sie ihren Tod akzeptiert. Sie hatte auf ihn gehofft und für ihn gebetet. Jetzt aber war sie nicht mehr bereit ihn zu akzeptieren.
Ein Ruck an ihrer Leine machte ihr klar, dass Braith weitergehen wollte. Sie drehte sich zu ihm um und erstarrte, als ihre Augen die Frau erblickten, die Max mit sich genommen hatte. Sie war nur wenige Schritte von Braith entfernt und war auf ihn aufmerksam geworden. Sie war genauso schön, wie Aria sie in Erinnerung hatte, mit ihrem wallenden Haar zu der üppigen Figur. Flüchtig dachte Aria, dass das wohl der Typ Frau oder Vampir war, auf den Braith eigentlich stand. Sie wusste auch nicht, wieso ihr der Gedanke kam, aber als er einmal da war, schwärte er wie ein Dorn in ihrem Fleisch.
„Prinz“, grüßte die Frau. Mit schwingenden Hüften und klimpernden Augenlidern, lächelte sie ihn mit ihren vollen Lippen an.
Aria unterdrückte einen hasserfüllten Blick auf diese unverfrorene, widerliche Frau. Sie war erfüllt von Ärger und Eifersucht, als die Vampirin Braith‘ Arm berührte. Sie war bestürzt und mehr als verstört, wegen der Vertrautheit, die sie zwischen ihnen wahrnahm. Sie musste feststellen, dass sie es nicht mochte, wenn andere Frauen ihm nahe waren; noch schlimmer traf sie allerdings die Tatsache, dass ihr das so viel ausmachte.
Obwohl Braith sich der Frau nicht näherte, warf sie sich ihm derart unverhohlen an den Hals, dass es Aria einen Brechreiz verursachte. Sie konnte diesen Anblick nicht länger ertragen. Schnell drehte sie sich um und hielt in der Menge nach Max Ausschau. Sie entdeckte ihn fast augenblicklich, seine goldene Leine war an einem Zaunpfahl befestigt, an dem auch andere Blutsklaven festgemacht waren, gerade so, als ob es sich um Pferde handelte.
Ihr Magen verkrampfte sich, und ihr Herz sprang in ihrer Brust, als sie ihren Freund erblickte. Eine Welle der Erleichterung und der Hoffnung wogte in ihr auf. Eine bisher nicht gekannte Freude und Überraschung erfüllte sie bei seinem Anblick. Im selben Moment, in dem sie ihn entdeckte, fiel sein Blick auch auf sie. Mit erleichtertem Ausdruck in seinen strahlend blauen Augen, ging er einen Schritt auf sie zu, um dann aber schnell von seiner kurzen Leine aufgehalten zu werden. Tränen füllten ihre Augen, er sah immer noch gesund aus, aber er wirkte so gebrochen, dass es ihr den Atem raubte. Sein Hals und seine Arme waren übersät mit Bisswunden, und auf seiner Wange war noch ein verblassender blauer Fleck zu sehen.
Ohne nachzudenken, ging sie auf ihn zu, so stark war ihr Bedürfnis, diesem Mann, der ihr so viel bedeutete, nah zu sein und mit ihm zu sprechen. Max‘ Augen strahlten vor Begeisterung, und er versuchte, sich loszureißen, aber sie wussten beide, dass das nicht möglich sein würde. Sein Mund öffnete sich leicht, und er sah mehr als erfreut aus. Aria konnte nicht anders, als zurückzulächeln, ihre Finger streckten sich aus, um ihn zu berühren, und das Gefühl von Glück stieg in ihrem Herzen auf. Einen kleinen, kurzen Moment lang war alles gut, und sie kannte keine Verzweiflung. Sie wusste nur, dass sie zu ihrem Freund musste.
Aria stolperte rückwärts, als ihre Leine ruckartig angezogen wurde. Sie drehte sich um und war im Begriff, ihrer Frustration freien Lauf zu lassen, als sie bemerkte, dass Braith direkt hinter ihr stand. Ein Muskel in seiner Wange hatte wieder zu zucken begonnen, und seine Schultern waren angespannt, als er sich bedrohlich vor ihr aufbäumte. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf Max, und seine Nasenlöcher weiteten sich. Aria konnte den Ärger spüren, der in ihm pulsierte, aber sie konnte nicht verstehen, warum er derartig heftig war. Er schlang seine Hand fest um ihre Leine, zog sie enger an sich und presste sie gegen seinen Körper, indem er die Kette straff zwischen ihnen gespannt hielt.
Aria konnte nicht verhindern, dass ihr Blick wieder zu Max hinüberglitt. Sie wollte einfach nur mit ihm sprechen, wollte wissen, ob er okay war, sie wollte nur einen Moment lang mit ihrem Freund reden und etwas Vertrautes erleben, etwas, das sie schon so lange schmerzlich vermisste. Sie bemerkte sogleich, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Braith war außer sich, seine Knöchel traten weiß hervor, auf der Leine, die er fest in seiner Hand hielt. Es hätte nicht einmal mehr ein Blatt Papier zwischen sie gepasst. Niemand um sie herum schien ihre Begegnung mit Max bemerkt zu haben. Die Frau, der Max gehörte, war durch das Ansehen von Schmuck abgelenkt gewesen, aber Braith hatte es offensichtlich nicht übersehen. „Braith …“
„Eure Hoheit“, korrigierte er scharf.
In Arias Brust entfaltete sich ein Schmerz, und sie schreckte zurück. Sie wollte es erklären und irgendetwas sagen, das diesen Ausdruck von Enttäuschung aus seinem Gesicht wischen würde. Etwas, das seinen Zorn, der direkt unter seiner kontrollierten Oberfläche spürbar war, ein bisschen mindern könnte. Allerdings schien er nicht in der Stimmung zu sein, ihr zuzuhören, und sie wusste nicht, wie sie hier in der Menschenmenge mit ihrer Erklärung hätte anfangen sollen. Sie war sich auch noch nicht darüber im Klaren, was sie ihm überhaupt erklären sollte oder warum er so schrecklich wütend auf sie war. Sie hatte nicht Falsches getan.
Aria sah hilfesuchend zu ihm auf. Die Frau erschien erneut an seiner Seite und zog seine Aufmerksamkeit von Aria weg. Sie unterhielten sich kurz miteinander, aber Aria verstand kein Wort von dem, was sie sagten. Obwohl sie sich alle Mühe gab, es zu verhindern, fiel ihr Blick zurück auf Max. Ihr Herz wurde schwer, und Tränen der Hoffnungslosigkeit verschleierten ihren Blick. In seinen Augen spiegelte sich die furchtbare Verzweiflung ihrer Situation, die umfassende Erkenntnis ihres Ausgeliefertseins. Und doch konnte sie auch einen glühenden Zorn in ihm wahrnehmen, als sich seine Aufmerksamkeit auf Braith richtete. Purer Hass siedete in seinen Augen.
Zum ersten Mal ängstigte sie dieser ganze Schlamassel wirklich. Sie hatte versucht, sich selbst davon zu überzeugen, dass am Ende schon alles gut ausgehen würde, dass sie irgendwie entkommen würden. Sie verstand nun, dass das wahrscheinlich niemals geschehen würde. Sie saßen hier fest, sie würden hier sterben, und da war nichts, was einer von ihnen dagegen tun könnte.
Eine Hand schloss sich um ihren Arm. Sie wusste sofort, dass sie Braith gehörte, da ihre Haut und ihr ganzer Körper auf seine Berührung reagierten. Sie konnte sich nicht dazu überwinden, ihn anzusehen, während die verhasste Frau hinter ihr verschwand. Aria hätte sich nicht gewundert, wenn sie und Braith Pläne gemacht hätten, um sich später noch einmal zu treffen. Sie wusste, was Braith war, was er brauchte, und er fragte sie nie nach irgendetwas davon.
Sie hasste das Gefühl, verraten worden zu sein, sie hasste alles an diesem schrecklichen Ort und an diesem entsetzlichen Tag. Sie hatte noch nie solche Sehnsucht nach der Einfachheit ihrer Wälder und Höhlen gehabt, wie gerade jetzt. Sie erhob ihren Blick zu Braith, aber er sah sie nicht länger an. Tatsächlich sah er so aus, als habe er ihre Anwesenheit völlig vergessen. Er ließ ihren Arm los und bewegte sich eilig durch die sich teilende Menschenmenge. Aria musste sich beeilen, mit ihm mithalten zu können, da er zielstrebig voranschritt und sie dabei geradezu hinter sich her schleifte.
Gegen die Tränen ankämpfend, die sich in ihren Augen bilden wollten, sah sie zu Max zurück. Sie befürchtete, dass dies womöglich die letzte Chance sein würde, ihn lebend wiederzusehen. Seine Blicke folgten ihr mit vor Zorn verdunkeltem Blick.
***
Aria war ziemlich außer Atem, als Braith sie in sein Apartment zog. Er kochte vor Wut, schaffte es aber, die Tür leise hinter sich zu schließen. „Braith …“
„Eure Hoheit“, knirschte er.
Aria zuckte zurück. Es war, als hätte er sie geohrfeigt. Sie konnte verstehen, warum sie ihn in der Öffentlichkeit so nennen musste, aber jetzt waren sie allein, und niemand war in ihrer Nähe, der sie hätte hören können.
„Was?“, stotterte sie.
„Ich sagte, du sollst Eure Hoheit zu mir sagen.“
Aria sah ihn fassungslos an. Er löste ihre Leine und schritt durch den Raum. Es war ihr nur zu bewusst, dass er die verhasste goldene Kette nicht abgenommen hatte. Sie starrte kleinlaut auf das schmale Band und fragte sich, ob es nun für immer an ihrem Handgelenk bleiben würde. Sie befürchtete das sehr, denn solange es da war, hatte sie keine Möglichkeit, diesem grausigen Ort zu entfliehen. Er hatte ihr erklärt, dass zwischen der Kette und ihm eine Verbindung bestehe und dass er sie deswegen finden würde, egal wo sie war. Er sei der Einzige, der sie ihr abnehmen könne. Sie hätte gerne geglaubt, dass das alles nicht stimmte, aber sie fürchtete, dass es genau der Wahrheit entsprach.
Sie wusste nun, dass sie ihn völlig falsch eingeschätzt hatte. Er war genauso kalt und grausam wie jeder andere an diesem entsetzlichen Ort. Sie legte ihre freie Hand über die Kette und war versucht, sich das widerliche Ding vom Handgelenk zu reißen. Sie hatte Geschichten darüber gehört, dass das Band sich ins Fleisch brennen würde, wenn ein Sklave versuchte, sich davon zu befreien. Ihr Blut würde fließen, bis die goldene Kette die Farbe ihres Blutes angenommen hätte. Das war der Grund, warum die Leine auch als „Blutfessel“ bezeichnet wurde.
Im Augenblick war Aria das egal.
Panikdurchflutet zerrte sie an der Fessel. Es machte ihr nichts aus, dass sie dabei ihr Fleisch in Fetzen riss. Sie fühlte weder Schmerz noch das Blut, das an ihrem Gelenk und ihren Finger hinunterfloss. Sie wollte einfach nur frei sein und hatte das übermächtige Gefühl, dieses Ding loswerden zu müssen. Sie wollte um alles in der Welt ihr altes Leben zurückhaben. Sie wollte niemandes Gefangene mehr sein, nicht als jemandes Ding missbraucht und herumgeschubst werden, wie es ihm gerade passte.
Braith‘ Hände ergriffen sie. Ein erstickter Schrei löste sich von ihren Lippen, und sie versuchte, sich aus seinem Griff zu winden, aber er hielt sie fest. Sie wehrte sich wie wild, Wut und Frustration pulsierten durch ihre Adern. Sie war es so müde, an diesem Ort zu leben und sich nach Braith‘ Regeln zu richten. Sie war müde, nur noch Befehlsempfängerin zu sein und ihr Leben ausschließlich fremdbestimmt zu leben.
„Lass mich los!“
„Hör auf!“, fauchte er und zog sie an sich. „Du verletzt dich selbst, Arianna.“
„Du tust mir weh!“, fauchte sie zurück, im Versuch, sich aus seinem Griff zu kämpfen. „Ich will lieber tot sein, als hier festzusitzen! Warum lässt du mich nicht einfach sterben?! Warum bringst du mich nicht um?! Dann hätten wir es endlich hinter uns!“
Er zog ihre Hand von dem Band weg, nahm sie fest in den Griff und hielt sie an seiner Seite nun wieder mit der Leine fest. „Genug!“, bellte er. „Du wärest also lieber tot, als von deinem Geliebten getrennt zu sein?“
Tiefe Empörung ließ sie erstarren. „Wie kannst du es wagen!“, spuckte sie aus. Er ließ ihre Hand los, indem er sie angewidert wegschlug, und trat einen Schritt zurück. „Du weißt gar nichts von mir! Nichts von meinem Leben! Nichts davon, wer ich bin! Du sitzt in diesem Schloss, wo du mit allem versorgt wirst, und du urteilst über diejenigen, die sich dagegen wehren, niedergemacht und zerschlagen zu werden, von deinen Gesetzen, deiner schlechten Behandlung und deinen Todesurteilen! Du hast keinerlei Recht, über mich zu urteilen!“
Seine dunklen Augenbrauen hoben sich zornig, seine Zähne waren fest zusammengepresst, und eine Ader pochte auf seiner Schläfe. Seine Lippen verzogen sich höhnisch, und sie konnte seine Abscheu spüren.
„Du bist es gar nicht wert, dass ich über dich urteile.“
Instinktiv und mit der Unbesonnenheit, vor der ihr Vater sie immer wieder gewarnt hatte, schnellte ihre Hand mit dem Tempo und der Beweglichkeit hoch, denen sie in den letzten siebzehn Jahren ihr Leben zu verdanken hatte. Diese Unbesonnenheit würde jetzt, wo ihre Hand sein Gesicht berührte, möglicherweise das Ende ihres Lebens bedeuten. Der Schlag hallte in der tödlichen Stille wider, die darauf folgte.
Aria keuchte, sah ihn wild an und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Der Abdruck ihrer blutigen Hand zeichnete sich deutlich auf seiner markanten Wange ab.
Sein Kopf, der durch den Aufprall ein wenig zur Seite geschwungen war, wandte sich ihr langsam wieder zu. Seine Lippen öffneten sich und seine Brauen hoben sich deutlich über seine dunkle Brille, und er starrte sie einen endlos scheinenden Moment lang an. Unter seinem Erstaunen konnte sie schon den wachsenden Zorn ausmachen, der in ihm aufbrauste. Sie wusste, dass sie Angst haben sollte, konnte aber keine in sich entdecken. Sie wusste, dass sie um seine Vergebung flehen sollte, aber sie tat es nicht. Es war ihr inzwischen verdammt egal, was er zu ihr sagte oder was er ihr antat. Fast begrüßte sie es, hatte sie doch im Gefühl, dass das hier das Ende war. Endlich, endlich würde all der Unsicherheit ein Ende bereitet werden.
Er ging auf sie zu und drängte sie gegen die Wand. Sein Gesicht war nur noch wenige Zentimeter von ihrem entfernt. Aria hatte Mühe zu atmen. Ihre Hände zitterten, in Erwartung ihres unausweichlichen Schicksals. Er drängte sich dichter an sie; seine Hände lagen zu beiden Seiten ihres Kopfes an der Wand, und er beugte sich herunter, bis ihre Nasen sich beinahe berührten. Er zitterte vor Zorn, seine Lippen zogen sich zurück und entblößten die scharfen Kanten seiner jetzt ausgefahrenen Fangzähne. In Anbetracht dieser Zähne überschlug sich ihr Puls, es war das erste Mal, dass sie sie in voller Ausprägung sah, und sie war sicher, dass sie nun von ihnen zerstört würde.
„Nicht du wirst es sein, die ich töte, Arianna“, fauchte er. Ihre Knie gaben unter ihr nach, als sie begriff, was er damit sagen wollte. „Ich werde dich am Leben lassen, und du wirst dabei zusehen, wie ich seinen langsamen Tod genieße. Ich bekomme alles, was ich will, wann immer ich es will. Ich bin bisher freundlich gewesen, aber ich werde nicht mehr freundlich sein. Niemand missachtet mich, niemand stellt sich gegen mich. Ich werde dir zeigen, was für ein Monster tatsächlich in mir steckt.“
„Nein“, konnte sie nur flüstern.
„Oh doch, und ich werde es genießen. Ich bin sogar ziemlich ausgetrocknet im Moment, es ist schon eine Weile her, dass ich getrunken habe.“
Panik durchschoss sie, sie schüttelte heftig den Kopf, als er von ihr abließ und sich schnell in Richtung Tür bewegte. Sie wusste, wohin er gehen würde und hinter wem er her war. Sie musste ihn aufhalten. Max würde wegen ihr bestraft werden, weil sie ein Idiot war. Das konnte sie nicht zulassen. Nicht schon wieder.
„Warte! Nein! Stopp! Eure Hoheit, bitte tut das nicht! Bitte!“ Sie stolperte fast über die Leine, an der sie immer noch festgebunden war, als sie hinter ihm her flitzte. Sie bekam seine Hand zu fassen, aber er schüttelte sie ab, als wäre sie eine lästige Fliege. „Nein!“, bettelte sie. „Tu das nicht! Braith, ich flehe dich an, bitte!“
Ihre Füße verhedderten sich in der Leine und rissen sie zu Boden, wodurch die Kette sich noch tiefer in ihr Fleisch schnitt. „Er ist mein Freund! Er ist schon mein Freund, seit wir Kinder waren! Er ist wie ein Bruder für mich!“, heulte sie nun schon fast. Die Verzweiflung drohte sie zu ersticken, Tränen verschlossen ihre Kehle. „Ich habe in meinem ganzen Leben noch niemals irgendjemanden um etwas gebeten, aber ich flehe dich jetzt an, bitte, töte ihn nicht! Er hat nichts falsch gemacht! Es tut mir so leid! Ich tue alles, was du verlangst, egal was und wann! Bestrafe mich! Bestrafe mich !“
Von der Heftigkeit ihres Schluchzens durchgeschüttelt, war es ihr wegen ihrer gebrochenen Rippen fast unmöglich, zu atmen. Sie konnte sich nicht bewegen, ihr ganzer Körper war von Todesqualen geplagt. Blut floss immer noch aus ihren Wunden und bildete eine kleine Pfütze unter ihr, durchnässte ihr Kleid, aber das kümmerte sie nicht. Es kümmerte sie überhaupt nichts mehr. Sie hatte alles ruiniert, sie hatte Max‘ Leben zerstört. Statt ihn zu befreien, hatte sie für sein Todesurteil gesorgt und Braith‘ Ausdruck nach zu urteilen, würde es ein langsamer, qualvoller Tod sein.
Es folgte ein langer Moment der Stille, in dem sie nicht dazu in der Lage war, ihn anzusehen. Sie hatte das Gefühl, sie müsse sterben, so als würde das Elend an sich sie umbringen. Dann, zu ihrer Überraschung, spürte sie die überaus zarte und sanfteste Berührung, die sie jemals wahrgenommen hatte. Seine Hände lagen auf ihren Wangen, hielten sie und hoben ihr Gesicht zu seinem hoch. Seine Lippen berührten sie, strichen über ihre Wangen, ihre Stirn, flüsterten in ihr Ohr und versuchten, sie zu beruhigen. Aria war wie betäubt, ihre Gedanken wirbelten nur so herum, während seine Hände und sein Mund sie mit einer Zärtlichkeit besänftigten, die die Ereignisse der letzten halben Stunde fast ungeschehen machten.
„Nicht.“ Das Wort glitt über ihre Haut und ließ ihren Körper wie unter Strom erbeben, während sie sich unter seiner Berührung schon völlig aufzulösen schien. Ihre Schluchzer schüttelten und erschütterten sie, und gleichzeitig entwich ihr ein tiefes Stöhnen. Sie wusste nicht, warum sie jetzt weinte, sie wusste nicht, was die Ursache für den Kummer war, den sie jetzt gerade verspürte, aber sie hatte dem genauso wenig entgegenzusetzen, wie sie dem Wehen des Windes etwas entgegensetzen konnte.
„Arianna, hör auf, du wirst dich nur noch mehr verletzen. Hör auf, Arianna, es ist ja gut.“
Seine Hände waren in ihrem Haar, zogen sie zu sich heran und drückten sie sanft an sich. Er legte seine Arme um sie und wiegte sie beruhigend an seiner Brust.