KAPITEL ZWÖLF
BRAITH betrachtete das schimmernde Spiel von Arias schwungvollem Haar. Ihr Kopf war geneigt, sie hatte die Beine unter sich gezogen und saß so auf der Bank am Fenster. Sie hatte „Ivanhoe“ hinter sich gelassen und hielt nun „Von Mäusen und Menschen“ vor sich in ihren Händen. Ihre Reflexe waren schnell und gut ausgebildet, schließlich hatte sie es geschafft, ihn zu ohrfeigen, aber seine Ankunft im Raum hatte sie noch nicht bemerkt. Er konnte sie sogar in aller Ruhe betrachten, während sie, wie gefangen, in dem dünnen Roman las.
Vielleicht war sie nicht die eleganteste oder raffinierteste Frau, aber je länger er hier stand und sie ansah, desto klarer wurde ihm, dass sie für ihn die schönste Frau war, die er jemals gesehen hatte oder je sehen würde. Er empfand eine eigenartige Welle von Gefühlen, während er sie so ansah; es waren Gefühle, die ihm noch niemals zuvor begegnet waren und die er nicht so recht einzuordnen wusste.
Endlich bemerkte sie seine Anwesenheit, hob den Kopf und blinzelte ihn überrascht an. Ein kleines Lächeln erblühte auf ihrem Gesicht, erhellte ihre feinen Gesichtszüge und leuchtete ihm durch ihre saphirfarbenen Augen entgegen. Sie schwang ihre Füße auf den Boden, legte das Buch zur Seite und stand auf. Ihr Handgelenk und ihre Finger waren immer noch verbunden. Das Weiß der Bandagen stand in krassem Gegensatz zum goldenen Schimmer ihrer Haut.
Sie war einfach zum Anbeißen, ohne dass es ihr bewusst war; wunderschön, ohne sich darum zu bemühen, und sie war sein . Dieses Gefühl war so stark, dass es ihn fast innerlich verzehrte. In diesem Moment war er sich sicher, dass es wahr war, dass sie sein war, und er würde alles in seiner Macht Stehende tun, um sie zu beschützen.
„Hallo.“ Errötend blickte sie zur Seite. In Anbetracht der Ereignisse des letzten Tages, hatte er sie heute Morgen ausschlafen lassen. Jetzt wurde ihre Verunsicherung immer deutlicher, und sie fingerte an den Bandagen und zupfte nervös an ihnen herum.
„Arianna“, begrüßte er sie. Lächelnd stellte er seinen Stock in die Zimmerecke neben der Tür. Es war jedes Mal erneut erstaunlich, wieder sehen zu können, aber am besten daran war, dass er in der Lage war, sie zu sehen. Keegan trottete herein und legte sich ihm zu Füßen. Braith war nicht entgangen, dass sogar der Wolf sich von ihr angezogen fühlte. „Hast du etwas gegessen?“
Mit einem zittrigen Lächeln nickte sie und zeigte auf das Tablett, das auf dem Tisch stand. Er konnte förmlich sehen, wie die Gedanken in ihrem Kopf sich drehten, wie Räder in einem Uhrwerk, wie ihre Gedanken über die Beschäftigung mit etwas so Banalem wie Nahrungsmitteln hinausschossen. Ihr Ausdruck erhellte sich, als sie seinen Blick erneut traf. Er konnte die Fragen erahnen, die ganz dicht unter der ruhigen Oberfläche lauerten. Er war überrascht, dass sie den Mund hielt, und bemerkte, dass das wohl das erste Mal war, seit er sie kennengelernt hatte.
„Arianna?“
Sie sah ihn mit einem breiten Lächeln an, aber es war ein Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte. „Dieses Buch ist sehr gut.“
Er blickte auf den Roman, der noch auf ihrem Schoß lag. Er zog seinen Mantel aus. Seine angespannten Schultern rollend, warf er ihn auf einen Haken der Garderobe an der Tür. Er hatte einen Verdacht, was ihr Sorgen bereitete, aber wenn sie es vorzog, darüber zu schweigen, würde er nicht weiter in sie dringen. Es war sowieso nichts, was er gerne besprechen wollte. Er würde sie nicht dazu drängen, irgendetwas zu tun, was sie nicht selber wollte, aber er musste trotzdem trinken. Die Frauen, von denen er Blut nahm, waren ihm inzwischen eher unangenehm, denn was er wirklich begehrte, war ihr Blut. Er musste seinen Hunger immer noch woanders stillen, ansonsten lief er Gefahr, sie zu verletzen, ohne es zu wollen.
„Es ist eines meiner Lieblingsbücher.“
Sie sah ihn an, während er ruhig auf sie zuging. Er war versucht, sie wieder zu berühren, sie noch einmal zu fühlen. Ihr Atem beschleunigte sich, als sie ihn mit nach hinten gelegtem Kopf beobachtete. Er konnte ihren schnellen Herzschlag hören und ihre wachsende Erregung wahrnehmen. Erfreut stellte er fest, dass sie ihm genauso zugetan war wie er ihr, und er lächelte sie an.
Er liebkoste ihr Gesicht und fuhr mit seiner Hand durch ihr dichtes Haar. Mit strahlenden Augen sah sie zu ihm auf. Sie war bei Weitem das Atemberaubendste, das er jemals erblickt hatte. Sich nach vorne beugend, drückte er einen sanften Kuss auf ihre vollen Lippen. Er umarmte sie und zog sie an sich, sie schlang ihre Arme um ihn und schmiegte sich an ihn.
Sie kuschelte sich an seinen Körper und verschmolz mit ihm. Er war erstaunt, wie unbeschreiblich sie sich anfühlte, wie richtig das alles war. Wie das verlorene Stück eines Puzzles fügte sie sich nahtlos an ihn, verschmolz mit ihm genau so, wie es sein sollte. Wie um alles in der Welt konnte das sein? Dass er , ausgerechnet er von allen Vampiren derjenige war, der sich in der Situation wiederfand, von einem Menschen derartig fasziniert und gefangen zu sein. Eine Rebellin , das war einfach undenkbar und doch, in diesem Moment, in dem er sich in ihrer Berührung, ihrem Mund auf dem seinen verlor, war es ihm völlig egal.
Er hatte sich so in ihr verloren, dass er das Klopfen nicht hörte, bis es zu spät war. Es war das Knurren von Keegan, das ihn darauf aufmerksam machte, dass jemand anwesend war. Braith erstarrte, er hielt Arianna weiter im Arm, drehte sich aber langsam von ihr weg. Ihre Augen waren immer noch von Leidenschaft verhangen, und Röte stieg ihr ins Gesicht. Obwohl Braith seinen Bruder nicht sehen konnte, wusste er, dass es Caleb war, der eingetreten war. Er fühlte die Intensität seines Blickes, der sich in seinen Rücken bohrte.
„Ich wollte dich nicht unterbrechen, Bruder“, säuselte er und schloss die Tür hinter sich. „Du weißt, dass mir das nichts ausmacht.“
In Ariannas Augen spiegelte sich ihre Besorgnis, ihr erschreckter Blick wanderte zu Caleb, aber Braith hielt sie immer noch und schirmte sie so vor dem musternden Blick seines Bruders ab.
Er wusste, dass diese Musterung grausam und viel lüsterner ausfallen würde, als ihm recht war. Dem wollte er Arianna nicht aussetzen. Er hielt sie noch einen Moment lang, bevor er ihre Füße wieder auf den Boden setzte. Wie konnte er Calebs Erscheinen verpasst haben? Normalerweise konnte er seine Anwesenheit fühlen, sobald er die große Halle betrat. Caleb trug eine Welle von grausamer Verderbtheit vor sich her, und es war ihm eigentlich unmöglich, das nicht wahrzunehmen.
„Du gehst in mein Zimmer“, befahl er ihr.
„Nein, mach unbedingt weiter“, widersprach Caleb. „Ich warte. Es würde mir sogar gefallen zuzusehen.“
Panik zeigte sich auf Ariannas Gesicht, sie versuchte erneut, einen Blick auf Caleb zu werfen, aber Braith hielt ihren Kopf.
„Arianna“, knurrte Braith. Ihre Aufmerksamkeit war nun wieder bei ihm, ihre Lippen, immer noch geschwollen von seinen Küssen, begannen zu zittern. Er konnte die Abscheu, die sie empfand, spüren. Er wünschte, er könnte sie vor seinem Bruder beschützen, aber nun war es dafür zu spät. Er war nun hier unter ihnen, und er war einer der gemeinsten Mistkerle, die Braith je kennengelernt hatte. Er wollte ihn nicht in Ariannas Nähe wissen. „Geh.“
Sie zögerte einen Moment, bevor sie nickte. Er gab sie frei und trat einen Schritt zurück. Sie straffte die Schultern, biss die Zähne zusammen und drehte sich von ihm weg. Mit erhobenem Haupt schritt sie durch den Raum und würdigte Caleb dabei keines Blickes.
„Warte!“ Braith stellten sich die Nackenhaare auf, und er ging auf Caleb zu, als der diesen rauen Befehl ausstieß. Er wollte nicht, dass irgendjemand sie herumkommandierte, und schon gar nicht sein kleiner Bruder, aber er konnte nicht viel dagegen tun, ohne seine wachsenden Gefühle für sie zu offenbaren. Arianna stoppte und drehte ihren Kopf in Calebs Richtung. Weder wankte noch zögerte sie, und straffte stolz ihre Schultern. Amüsiert hob Caleb eine Augenbraue, aber Braith sah die Verdorbenheit in seinen Zügen und seinen Augen, die sich nun forschend auf Arianna richteten.
„Sie ist gar nicht dein Typ, Braith. Nicht dass du in der Lage wärest, das zu sehen, aber sie ist es definitiv nicht. Ich dagegen mochte immer Rothaarige. Ich denke wirklich, du solltest mich mal ranlassen.“
Auf Ariannas Gesicht zeigte sich Missfallen, und ihr Blick schoss verzweifelt zu Braith. Der hasste es, dass sie all dem hier ausgeliefert war, er hasste seinen Bruder dafür, dass er ihr das antat, aber er konnte dem kein Ende setzen, denn wenn er das tun würde, dann wäre ihr Leben verwirkt.
„Ich teile nicht.“
Caleb zuckte geistesabwesend mit den Schultern, verschränkte seine Arme vor der Brust, und sein Blick musterte Arianna vom Kopf bis zu den Füßen. „Jetzt schon“, schnurrte er. „Die Dinge haben sich verändert im letzten Monat.“
„Geh!“, fauchte Braith sie an und kämpfte gegen das Bedürfnis an, seinem Bruder ins Gesicht zu schlagen. Belustigung flackerte in Calebs gut aussehendem Gesicht auf, aber er versuchte nicht noch einmal, Arianna zu stoppen, die eilig aus dem Zimmer lief. Sie hatte sich gut geschlagen, aber Braith konnte immer noch ihre Angst und ihr Aufgewühltsein spüren, die die Begegnung mit Caleb bei ihr verursacht hatten. Braith lenkte seine Aufmerksamkeit auf seinen Bruder. Er hatte Mühe, sein Temperament unter Kontrolle und seine Miene ausdruckslos zu halten. Er war nicht sicher, ob es ihm gelang, denn Caleb sah ihn fragend an. Ein Ausdruck, von dem er nicht annehmen konnte, dass Braith in der Lage war, ihn zu sehen.
„Was machst du hier, Caleb?“, fragte er, nachdem er das leise Klicken vernommen hatte, das das Schließen der Tür hinter Arianna verursacht hatte. Auch wenn seine Sicht sich verdunkelte, konnte er seinen Bruder immer noch vage ausmachen.
Caleb zuckte mit den Schultern, trat in den Raum und setzte sich gemächlich auf eines der Sofas. Braith kochte innerlich, aber er zeigte keine Reaktion auf das unbekümmerte Verhalten seines Bruders. “Vater hat entschieden, heute Abend ein Bankett zu veranstalten.“
„Warum?“
Caleb legte den Arm auf die Rückenlehne des Sofas und streckte seine langen Beine von sich. „Jericho ist zurück.“ Braith versteifte sich. Keegan tappte zu ihm hin und legte sich zu seinen Füßen ab, da er Braith‘ plötzliche Unruhe wahrgenommen hatte. „Und weißt du auch, was es bedeutet, dass unser kleiner Bruder wieder da ist?“
„Der Krieg wird fortgesetzt“, antwortete Braith, und sein Blick wanderte zu der geschlossenen Tür. Er wollte nicht, dass Arianna davon wusste, noch nicht jedenfalls.
„Ja“, bestätigte Caleb. „Ich frage mich, was er herausgefunden hat.“
Braith antwortete nicht, es hatte keinen Sinn, darüber zu spekulieren, was Jericho in der vergangenen Zeit gelernt haben mochte. Er war von Anfang an nicht damit einverstanden gewesen, ihn zu den Rebellen zu schicken und dort einzuschleusen. Jericho war jung und unbesonnen. Braith fand es zu riskant, einen Prinzen in feindliches Gebiet zu schicken, aber Jericho hatte darauf bestanden. Er wollte unbedingt etwas für ihre Sache tun, um zu beweisen, dass er mehr war als der jüngste Sohn des Königs. Ihr Vater war nur zu froh gewesen ihn auszusenden, war er doch erpicht darauf, mehr über die Rebellen zu erfahren, und es bereitete ihm keine sonderlich große Sorge, dass er dabei möglicherweise seinen jüngsten Sohn verlieren könnte.
Jericho war das einzige Familienmitglied, zu dem Braith zumindest eine entfernte Nähe verspürte, und er hatte ihn nicht verlieren wollen. Wie auch immer, sein Argument, dass Jericho, sollte er gefangen genommen werden, möglicherweise als Waffe gegen sie benutzt werden könnte, stieß auf taube Ohren. Sein Vater hatte mehr als klargemacht, Jericho nicht zu retten, falls irgendetwas schiefliefe.
Jetzt war Jericho zurück, und das bedeutete: Er hatte irgendetwas gefunden, um die Rebellen zu bekämpfen und damit ihre Feinde zu vernichten. Braith war sich nicht sicher, dass er hören wollte, was es war.
***
Braith stand in den Gemächern seines Vaters, vor sich seinen Stock, auf dem seine gefalteten Hände ruhten. Es war Jahre her, seit Braith im privaten Wohnbereich seines Vaters gewesen war. Zwar waren sie jetzt nicht sichtbar, aber er wusste, dass sein Vater im Laufe der Jahre viele Dinge erworben und sein Vermögen innerhalb dieser privaten Mauern angesammelt hatte. Keegan drückte sich gegen sein Bein, als er sich neben ihm niederließ. Der Wolf hasste die Anwesenheit des Königs ebenso sehr wie Braith.
„Dein Bruder ist zurückgekehrt.“
„So wurde mir berichtet.“
Braith musste seinen Vater nicht sehen können, um zu wissen, dass er eine große und imposante Gestalt war. Er war ausgesprochen sadistisch. Sein Vater regierte mit eiserner Faust, niemand trat aus der Reihe, und jeder, der sich ihm widersetzte, wurde sofort getötet und in seine Trophäensammlung überführt. Der Tod dieser Straftäter war langsam; sie wurden auf brutalste Weise gefoltert oder zerstört, um andere abzuschrecken, die den König möglicherweise zu Fall bringen wollten. Er regierte mit Härte und verbreitete Angst und Schrecken, und er hatte sie im Krieg zum Sieg geführt. Die Vampire respektierten und gehorchten ihm allein aus diesen Gründen.
Braith hatte das Gefühl, er müsse ihn ebenfalls respektieren, er war sein Vater. Er hatte Erfolg, wo viele andere gescheitert waren, aber Braith empfand nichts für diesen Mann, außer intensiver Abscheu. Schläge waren während seines Aufwachsens üblich gewesen, als Erstgeborener hatte er ihre Gewalt immer wieder zu spüren bekommen, und auf Jericho als Jüngstem konzentrierten sich die Schläge ebenfalls. Caleb hatte es geschafft, weitgehend unversehrt davonzukommen. Er hatte genau die grausame Art an sich, in der ihr Vater sich wiedererkannte und die er schätzte.
Zu der Zeit, als Jericho geboren worden war, war er schon erwachsen und damit unantastbar geworden, und somit hatte ihr Vater sich einem neuen Opfer zugewandt. Aus diesem Grund hatte Braith immer eine größere Nähe zu Jericho empfunden, hatte, so gut es ging, auf seinen kleinen Bruder aufgepasst und es gehasst, wenn dieser in die Höhle des Löwen beordert wurde. Sein Vater war mehr als willig gewesen, ihn immer wieder dort hineinzuwerfen und Braith durch ihn zu ersetzen.
Braith war verwundert gewesen, dass sein Vater ihn nach seiner Erblindung nicht zerstört hatte. Dass man ihm erlaubt hatte weiterzuleben, konnte nur daran liegen, dass er damit überraschend gut umgehen konnte. Seine anderen Sinne hatte er im Ausgleich geschärft, was zur Folge hatte, dass er immer noch so gut kämpfen konnte, als könne er seine Angreifer sehen, und er war auch immer noch genauso rücksichtslos wie früher. Er war nicht zu vergleichen mit seinem Vater oder Caleb, denn er war nicht bösartig und grausam, weil es ihm Vergnügen bereitete. Er war einfach jemand, der mordete, wenn es sein musste. Sonst nicht. Er hatte keine Vorliebe für Brutalität, und er genoss es auch nicht, Menschen zu foltern, besonders nicht Kinder, so wie es sein Vater und Caleb gerne taten.
„Er hat einige interessante Neuigkeiten für uns.“
„Ach ja?“
„Ja, ich habe ihn und Caleb hierherbestellt.“
„Das hier ist also keine Einladung zu einem Bankett?“
„Das Bankett ist keine Feierlichkeit.“
Braith‘ Gesicht blieb ausdruckslos, er wollte seinem Vater nicht zeigen, dass seine Neugier geweckt war. Er drehte sich zur Tür, als er hörte, wie diese sich öffnete. Er lauschte den schnellen Fußtritten, die dumpf auf dem Marmorboden aufschlugen. Er erkannte Calebs Schritt, der vorneweg ging und dicht hinter ihm die leichteren Schritte von Jericho. Caleb schritt an ihm vorbei, aber Jericho blieb vor ihm stehen. Seine Hand schloss sich um seine, während die andere leicht seinen Oberarm berührte. Braith erwiderte liebevoll den Druck seiner ausgestreckten Hand. Als Jericho gegangen war, hatte er die Hände eines Jungen gehabt. Jetzt fühlten sich seine schwieligen Hände kräftig und stark in seiner an. Sein Griff war der eines Schraubstocks.
„Du bist groß geworden“, sagte Braith.
Er konnte sein Lächeln und die Fröhlichkeit, die von ihm ausging, geradezu spüren. Er war immer der Gelassenste von ihnen gewesen, der, den ihre Welt am wenigsten beeinflusst hatte, und es schien ihm, als sei er immer noch derselbe. Aber darunter konnte Braith eine Spannung und Reife in seinem Bruder wahrnehmen, die noch nicht da gewesen war, als er sie vor sechs Jahren verlassen hatte. Sie hielten einander für einen langen Moment bei den Händen. Er versuchte, den Mann vor sich abzuschätzen, er hatte das Gefühl, dass es eine Menge Dinge gab, die er über seinen kleinen Bruder nicht mehr wusste und die er möglicherweise niemals erfahren würde.
„Am Ende bin ich doch noch erwachsen geworden.“
Braith schmunzelte, aber es war keine Freude darin. Es war immer ein „Running Gag“ zwischen ihnen gewesen, dass Jericho nicht erwachsen werden würde, dass er tausend Jahre alt werden könne und sich auch dann immer noch wie ein Siebzehnjähriger benehmen würde. Braith war immer davon überzeugt gewesen, dass das genauso sein würde, aber er verstand jetzt, wie falsch sie beide damit gelegen hatten. Was immer Jericho in den letzten sechs Jahren erlebt hatte, es hatte ihn von Grund auf verändert. Überraschenderweise machte Braith diese Feststellung traurig. Er hatte die unbeschwerte Kameradschaft seines Bruders vermisst, und er realisierte jetzt, dass er sie nicht mehr wiederbekommen würde.
„Das kannst du wohl sagen.“
Jericho drückte noch einmal seine Hand, bevor er sie losließ.
„Erzähle deinen Brüdern, was du mir berichtet hast“, befahl ihm ihr Vater.
Jericho trat einige Schritte von Braith weg. „Nachdem ich ein Jahr in den Wäldern gelebt, mit den Rebellen gekämpft und mich immer um ihre Anerkennung bemüht hatte, war ich endlich so weit, dass ich in ihren engeren Kreis aufgestiegen bin. Zum Glück habe ich es geschafft, die ganze Zeit über meine Identität zu verheimlichen.“
„Wie hast du das in so kurzer Zeit angestellt?“, fragte Caleb.
„Ich habe einem Kind das Leben gerettet, das mit der Gruppe der Anführer verwandt war. Die Eltern des Kindes begannen mir zu vertrauen und mich zu akzeptieren, aber es verging noch ein ganzes Jahr, bis der Vater mich zu seinem Cousin, dem Anführer der Rebellen, mitnahm. Man hatte mir die Augen verbunden und mich mitten in den Wald geführt, aber ich habe den Mann getroffen, der den Rebellen vorsteht. Sein Name ist David, seinen Nachnamen kenne ich nicht, die meisten Rebellen verzichten auf ihre Nachnamen, aber ich würde ihn wiedererkennen, wenn er mir gegenüberstände.“
„Und du weißt, wo er sich aufhält?“, erkundigte Caleb sich eifrig, mit Blutdurst in der Stimme.
„Nein. Niemand außerhalb der Familie weiß, wo David lebt.“
„Wozu soll das dann alles gut sein?“, fauchte Caleb. „Ein Mann namens David führt diese Schwachsinnigen an. Sechs Jahre und das ist alles, was du erreicht hast?“
„Genug!“, unterbrach ihr Vater. „Lass deinen Bruder fortfahren.“
„Wie ich schon sagte“, stieß Jericho zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Seine Verärgerung darüber, unterbrochen und beschimpft worden zu sein, war mehr als offensichtlich. Früher hätte Jericho über Calebs Ungeduld und sein schlechtes Benehmen gelacht, das tat er jetzt nicht. „Ich habe David getroffen und – auch wenn ich nicht weiß, wo er lebt, ich kenne seine Familie. Sie mögen zwar ihren Wohnort geheim halten, aber sie arbeiten alle zusammen. Besonders David und sein ältester Sohn. Zunächst kannte ich nur den ältesten Sohn, der seine rechte Hand war, aber vor drei Jahren fing auch sein jüngerer Sohn an, eine Rolle zu spielen und auch seine Tochter. Sie versuchen zwar, das Mädchen aus den meisten Kämpfen rauszuhalten, aber sie ist gut ausgebildet und eine ausgezeichnete Jägerin. Sie ging oft mit auf die Trips zur Nahrungsbeschaffung, und weil sie die Wälder kennt wie keine Zweite, half sie außerdem bei der Planung von Überfällen.“
Braith spürte, wie sich ein Knoten in seinem Magen bildete, und Unbehagen machte sich in ihm breit. Arianna war auf der Jagd gewesen, als sie gefangen genommen wurde, so viel hatte sie zugegeben. Sie hatte gesagt, dass Max wegen ihr gefangen genommen worden war, dass er hätte davonlaufen können, dass er sich aber stattdessen selbst geopfert hatte, in der Hoffnung, sie aus der Gefangenschaft zu befreien. Es gab nur zwei Gründe, aus denen ein Mann so etwas tun würde, entweder aus Liebe zu einer Frau oder aus Liebe zu einem Anführer. Er hatte angenommen, dass Max sie retten wollte, weil sie Freunde waren und er sie liebte und weil er mit ihren Brüdern befreundet war.
Er begriff nun, dass er da möglicherweise falsch gelegen hatte, dass Max sie retten wollte, weil er wusste, wer sie war und wer ihr Vater war. Weil er wusste, was für eine Bedrohung es für ihre Sache war, wenn ein Kind des Anführers in die Hände der Feinde geraten würde.
In was für einen Schlamassel war er da mit ihr nur hineingeraten?
„O. k., das Mädchen ist also eine Wilde, die gerne ein Mann geworden wäre.“
„Halt den Mund, Caleb“, fuhr Jericho ihn an. Braith konnte Calebs Erstaunen förmlich spüren. Er nahm an, es würde ihm ähnlich ergehen, wenn er nicht so panisch wäre, in Anbetracht dessen, was Jericho noch offenlegen würde. „Die Wilde ist in diesem Augenblick in unserem Besitz, zumindest war sie es. Vor ein paar Wochen gab es einen Überfall in einem Außenlager, bei dem einige Blutsklaven gefangen wurden. Zunächst gab es lediglich Gerüchte darüber, wer da genau mitgenommen worden war, aber ein Kind behauptete, dass es von einem Mädchen gerettet worden sei. Ein Mädchen, das der Tochter von David sehr ähnlich gesehen haben soll. Niemand wusste irgendetwas mit Sicherheit, bis letzte Woche.“
Zur Hölle , dachte Braith mit einem inneren Ächzen. Arianna hatte von einem Kind gesprochen, es war die Rede davon, dass sie zurückgegangen sei, um dieses Kind zu retten. Seine Hand klammerte sich um den Griff seines Stocks, im Kampf mit seinem inneren Bedürfnis, zurück in sein Zimmer zu stürzen und Antworten von ihr zu fordern. Antworten, vor denen er jetzt Angst hatte.
„Was ist letzte Woche passiert?“, wollte Braith wissen.
„Davids Tochter kam nicht wie verabredet wieder zurück, und auch einer seiner hochrangigen Kämpfer blieb verschwunden. Es war naheliegend, dass das Mädchen gefangen genommen wurde. Es war nicht klar, ob sie als Blutsklavin noch lebendig wäre oder nicht. Das ist der Grund dafür, dass ich riskiert habe, meine Tarnung auffliegen zu lassen, um hierher zurückzukehren.“
„Wozu soll diese Information gut sein?“, erkundigte sich Caleb, aber der Ärger war aus seiner Stimme verschwunden.
„Menschen hängen in der Regel sehr an ihren Kindern, wenn Davids Tochter also noch lebt und als Blutsklavin gefangen gehalten wird, können wir sie gegen ihn einsetzen. Er wird den Gedanken nicht mögen, dass sein Kind so behandelt wird, und er wird versuchen, sie zurückzubekommen, und das macht ihn vielleicht unbesonnen. Wenn sie tot ist, dann müssen wir ein Mädchen finden, das ihr ähnlich sieht und gegen ihn nutzen. Egal wie, wir haben jetzt einen guten Hebel gegen die Rebellen in der Hand“, erklärte Jericho.
„Ich will alle Blutsklaven, die in den letzten Wochen zu uns gekommen sind, heute Abend bei dem Bankett sehen. Jericho wird sie dann überprüfen“, befahl ihr Vater.
Keegan, der Braith‘ wachsende Unruhe wahrnahm, stand auf und legte sich besorgt um seine Füße herum.
„Vielleicht ist es ja deine Blutsklavin, Braith?“, spottete Caleb.
„Vielleicht“, schaffte er zu erwidern.
„Du hast dir eine Blutsklavin genommen?“ Jerichos Überraschung war unüberhörbar.
„Ja, Braith ist am Ende doch auf die Ebene der Lasterhaftigkeit abgesunken, auf der wir anderen uns all die Jahre schon herumgetrieben haben. Und er hat gut gewählt für einen Blinden; sie ist ein hübsches kleines Ding, wenn du auf Rothaarige stehst. Was ich tue.“
Braith war kurz davor, den Kopf seines Gehstocks abzureißen, als er beklommen auf Jerichos Antwort wartete. Falls Davids Tochter rothaarig sein sollte, so würden sie das alle sehr bald erfahren, und würden sich dann zu seinem Apartment aufmachen, um Arianna zu holen. Man würde sie missbrauchen und foltern, bevor man sie tötete. Er wusste nicht, wie er sie daran hindern könnte, aber er war sich verdammt sicher, dass er es versuchen würde.
Jericho entfuhr ein melodiöses Lachen. „Nein, zum Glück für Braith‘ neueste Eroberung ist Davids Tochter nicht rothaarig.“
Erleichterung durchflutete ihn, aber die Anspannung in seiner Brust verringerte sich nicht. Irgendetwas fühlte sich nicht richtig an, hier stimmte etwas nicht. Am liebsten wäre er direkt zu Arianna zurückgekehrt, um sie zu befragen, aber er hatte das Gefühl, was auch immer zwischen ihnen passiert war in der letzten Zeit, über ihre Familie würde sie nicht mit ihm sprechen wollen, besonders, wenn dieser David wirklich ihr Vater sein sollte. Er konnte ihr daraus keinen Vorwurf machen, sie fühlte sich ihrer Familie sicher viel näher als er der seinen, denn Menschen klammerten sich oft an ihre geliebten Familien.
Aber wenn David ihr Vater war, warum log Jericho bezüglich ihrer Haarfarbe? Vielleicht bezeichnete Jericho ihre dunkelroten Strähnen noch nicht als rothaarig, aber das bezweifelte er. Vielleicht hatte er das Mädchen auch noch nie gesehen, aber warum sollte er es dann behaupten? Was hatte er davon, hierherzukommen und Lügen zu erzählen? Es sei denn, er hatte einfach aus den Wäldern fliehen wollen, und das war seine Entschuldigung dafür, jetzt wieder zu dem luxuriösen Leben zurückzukehren, das er hier hinter sich gelassen hatte.
Das schien ihm zwar auch nicht wahrscheinlich zu sein, aber er wurde einfach nicht schlau aus ihm, noch nicht jedenfalls. Er wusste nur, dass er so schnell wie möglich zu Arianna zurückmusste und dass er dafür sorgen musste, dass sie Jericho nicht begegnete. Sie konnte heute Abend nicht zu dem Bankett gehen.
„Also wenn sie keine Rothaarige ist, dann bringe ich meine Blutsklavin heute Abend nicht mit. Ich möchte mich lieber unter die Leute mischen, allein.“
„Hast du schon die Nase voll von dem Leckerbissen?“, provozierte Caleb. „Komisch, das sah ganz anders aus, als ich heute Morgen über euch gestolpert bin.“
„Eine Veränderung tut immer gut“, antwortete Braith träge.
„So machen wir es“, warf ihr Vater ein. „Ich bestehe aber immer noch darauf, dass Jericho sich das Mädchen ansieht, sicher ist sicher.“
„Natürlich“, murmelte Braith zustimmend, und hatte Mühe, dabei ruhig zu bleiben. „Komm vorbei, wann immer du möchtest, Jericho. Ich sehe euch später.“
Von Keegan gefolgt, schritt Braith schnell aus dem Zimmer. Er musste sich zusammenreißen, nicht zu rennen, um zu Arianna zurückzukehren.