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Es ist der perfekte Frühherbsttag. 18 Grad, Sonne. Kein Wind. Die Stadtreinigung hat gestern gerade den ersten Schwung Laub entsorgt. Die Beete und Baumscheiben sind leer gesaugt, der Bürgersteig ist frisch gefegt, mit der Maschine, nirgendwo Plastikmüll, Hundescheiße oder in die Gegend geworfene Schnapsfläschchen – und dazu schon so eine angenehm modrige herbstliche Luft. Kurzum: mein Powerwetter. Ich schlendere mit Dörte über den Bürgersteig, und sie hat sich bei mir untergehakt, was uns beiden die geschmeidige Fortbewegung etwas erschwert, da wir unterschiedliche Schrittlängen haben und irgendwie vorwärtseiern, ähnlich unrund wie beim Kamelreiten. Von daher ist Händchenhalten schon praktischer, normalerweise, denn auch da kommt es vor, dass ich gedankenverloren ein paar Schritte vorwegmarschiere, wie ein kleines Kind, das zur Eisdiele strebt, oder wie ein Köter mit Druck auf der Blase zum nächsten Baum. Ich möchte das nicht. Und trotzdem passiert es. Da bin ich Natur.

«Ooooch, guck ma», schwärmt Dörte plötzlich, und als ich ihrem Blick folge, sehe ich auf dem Bürgersteig vor den Mülltonnen Butschi und seine Freundin Pina, die mal ganz kurz für den Schulwechsel auf dem Papier bei mir wohnte, auf einer Wolldecke sitzen. Direkt davor steht mit bunter Straßenkreide in Schönschrift «Kinderflohmarkt», und schon jetzt krieg ich direkt Mitleidskrämpfe, weil ich auch noch aus meiner eigenen Vergangenheit weiß, wie trostlos die Aussicht sein kann, dicken Reibach mit alten Spielsachen machen zu wollen.

Butschi und Pina hocken reglos auf den Knien vor ihrer Ware und schauen in die Gegend. Ich weiß nicht genau, in welchem Alter man verlernt, in so einer Position zu hocken, aber ich bin mir sicher, dass ich heute schon nach zwanzig Sekunden zwei Pfleger bräuchte, die mich wieder geradebiegen müssten, damit ich stehen kann.

Was ist das, was Kinder in dem Alter auf die Flohmarktwolldecken dieser Welt bringt? Der Glaube an die schnelle Mark! Eine kurz aufkeimende Zocker-Mentalität mit völlig überzogenen Margen-Erwartungen. Wo man auch als Fünf- oder Achtjähriger schließlich den Marktregeln erliegt und am Ende sein mühsam zusammengesammeltes Hab und Gut zu Billigpreisen abgibt. Meistens an Spekulanten, die den fast für umme zusammengegaunerten Playmobil - oder Lego -Kram in Plastiktüten einschweißen und mit dieser quasi-professionellen Aufmachung auf den richtig geilen Flohmärkten das Zwanzigfache von Müttern und Vätern abkassieren, die das für eine günstige Gelegenheit halten, und so schön nachhaltig. Ein halbes Jahr später landet alles wieder auf irgendeiner Kinderwolldecke auf irgendeinem Schulhof-Flohmarkt oder bei einer tristen Geschichte wie hier vor unseren Mülltonnen. In der Ramsch-Spirale nach unten. Genau so hatte ich das damals zumindest zu meiner Schwester Silke gesagt, als ich abends genau von dort, wo jetzt Butschi sitzt, mit meiner Wolldecke, meiner Tüte Spielsachen und meinen drei Mark inklusive einer Mark Wechselgeld in Zehn-Pfennig-Stücken völlig entnervt wieder reinkam.

«Ramsch-Spirale nach unten. Jetzt mach mal halblang, Ralfi. Du bist sechs Jahre alt.»

«Ja und? Ich will auch mal ’n Stück vom Kuchen!»

«Du hast doch sowieso alles mal geschenkt bekommen. Freu dich doch über die zwei Mark. Das sind vier Cola-Eis!»

So einfach ist das. Da hatte Silke recht. Dann setzt man sich eben einfach mal vier Stunden auf den Hintern und kann hinterher seine Kohle für vier (!) Cola-Eis auf den Kopf hauen. Heute haben die Kinder dabei ja sogar Handys in der Hand und können währenddessen im Internet rumdaddeln. Ich musste damals noch in den Medi-und-Zini -Apothekerheften rumblättern, die ich eigentlich verkaufen wollte. Obwohl es die bei der Apotheke umsonst gab. Na ja. Geldregenträume eines Erstklässlers. Aber wenn man naiv sein darf, dann ja wohl als Kind.

Butschis Angebot war sogar noch überschaubarer als meins damals: Zwei alte Quartettspiele, ein paar Playstationspiele, ein Softball-Tennisset, noch unberührt im Verkaufsnetz, ein paar von diesen Sammelkarten, weiß der Geier, irgendeine Actionfigur mit Totenkopf als Gesicht und Muskelbergen, ein hässliches Plastikpony mit Wimpern wie eine Drag-Queen und langen rosa Haaren und einer kleinen Bürste dazu sowie zwei in Folie eingeschweißte Dosen Trockenshampoo, wahrscheinlich zum Wegwerfen zu schade und von Butschis Mutter als Kommissionsware oder Gratisgabe beigesteuert. Insgesamt ein ziemlich trauriger Anblick, zumal seine Freundin Pina nur ein Pferde- und Ponybuch mit den dollsten Geschichten zum Pony-und-Pferdewissen-Sammeln am Start hat. Auch schade! Noch nicht mal zehn Jahre alt und offenbar schon komplett desillusioniert, was die eigene erfolgreiche Pony-und-Pferdekarriere anbelangt. Oder warum verhökert man so was sonst als junges Mädchen? Weil es schlecht geschrieben ist? Weil es zuverlässigere Quellen für echtes Pony-und-Pferdewissen gibt?

«Na? Was habt ihr denn hier alles Schönes?»

Dörte nun wieder.

«Alles Mögliche.»

«Hmmm.»

Wir lassen noch mal zum Schein den Blick über das dürftige Angebot schweifen, und Butschi folgt mir mit seinen großen Augen von wegen «Komm Prange, sei kein Arschloch, kauf mir halt was ab. Junge!»

«Dies Autoquartett. Mit was ist das?»

«Sportwagen. Mit Supertrumpf.»

«Frag mich mal was.»

«Hä?»

«Frag mich mal was, Butschi.»

Ich zwinkere Dörte zu. Weil, davon hab ich wirklich ein bisschen Ahnung. Butschi will sich eine Karte aus der Mitte des Spiels nehmen, und ich verliere schon fast die Nerven beim Beobachten. Wie lange kann jemand brauchen, um einen Plastikdeckel vom Kartenspiel zu nehmen und die Karten da rauszufummeln?

«Ferrari 430. Zylinder?»

«Zwölf Zylinder.»

«Nee, acht Zylinder!»

«Acht Zylinder? Kann ja nicht.»

«Steht hier aber.»

Dörte drückt tröstend meine Hand. Was soll denn das? Ich hab da normal wirklich Ahnung von.

«Was ist denn der Supertrumpf?»

«Lamborghini Countach. Ist aber nicht mehr dabei.»

«Wieso? Wo ist der denn?»

«Ist in den Fernseher gerutscht. Die Karte.»

«Wieso?»

«Da waren so Ritzen drin im Fernseher. Da ist sie dann rein.»

«Wieso?»

«Beim Spielen! Ist doch egal.»

«Und was soll das kosten?»

«50 Cent.»

«Für 50 Cent kann ich zehn Minuten mein Auto saugen!»

«Dann lass es eben.»

Er packt die Karten wieder umständlich und langsam in die Plastikbox und schaut mich dabei mit schräg gestelltem Kopf wie ein kleiner Beagle-Welpe an, der ganz genau weiß, dass ich noch ein Leckerli in der Jackentasche hab, beziehungsweise 50 Cent für ein Autoquartett mit öden Acht-Zylinder-Ferraris und ohne Supertrumpf. Ich sehe mich schon dieses bescheuerte und nicht vollständige Quartett kaufen, nur weil es mir immer wieder das Herz zerreißt, wenn so kleine Butschis den ganzen Tag auf der Wolldecke hocken und businessmäßig nichts gebacken kriegen. In die kurze Stille hinein, vielleicht auch, um das Thema Autoquartett zu beenden, murmelt Dörte vor sich hin.

«Die Decke ist süß.»

Sie zeigt auf die Wolldecke, auf der Butschi und Pina sitzen.

«Wieso denn süß? Die ist doch beige und in so Karos.»

«Ich find’s süß.»

«Mickymaus ist süß. Oder Beagle-Welpen.»

«Ich kann es mir einfach süß vorstellen. Auf dem Sofa. Sie ist halt auch süß gemacht. Mit diesen Fransen.»

«Die Decke gehört meiner Mutter», schaltet sich Butschi ein. «Ich könnt sie ja mal fragen.»

«Nein, ich mein ja nur», meint Dörte. «Ich kann ja nicht deiner Mutter die Decke abquatschen. Aber süß ist sie.»

Wenn es hilft, dass ich nicht dieses Autoquartett kaufen muss – warum nicht?

«Na ja, wenn Frau Demirbay die Decke für ihren Sohn zum Flohmarkt rausrückt, wo sie ja davon ausgehen muss, dass die dreckig wird und er auch noch Erdbeermilch oder sonst was drauf verschmiert, dann hängt wohl nicht mehr ihr Herz dran.»

Kurze Pause.

«Ich glaub, zwanzig Euro wär okay für sie», sagt Butschi.

«Du meinst für dich», habe ich sofort den Durchblick.

«Wieso? Wenn zwanzig Euro auch für euch okay sind?»

«Was weiß denn ich, für wie viel du die Decke deiner Mutter abquatschst.»

«Ja, was? Sind zwanzig Euro jetzt okay? Dann frag ich. Dann hast du sie.»

Der kleine Kerl. Sitzt da feist zwischen seinem alten Spielzeug neben seiner Freundin und feilscht mit mir wie ein Großer. Dörte ist das Ganze schon unangenehm, weil der Deal so konkrete Formen annimmt und sie wahrscheinlich nur laut gedacht hatte, als sie die Decke «süß» fand. Dazu muss ich sagen, dass mich häufiger gerade die Sachen in einer Verkaufssituation ansprechen, die gar nicht zu veräußern sind.

Einmal hat es mir auf dem Flohmarkt der Tapeziertisch von einem Stand angetan. Das war nicht so ein klappriges Holzding, sondern hatte Alu-Rahmen und war rohrverstärkt. So was kriegt man gar nicht in meinem Baumarkt. Das ist Profiware. Man konnte also davon ausgehen, dass die Frau, die darauf selbst bemalte Kieselsteine verkauft hat, enge Verbindungen zu einem Malereifachgeschäft oder einem Handwerksbetrieb unterhalten hatte. Vielleicht versuchte sie nach einer Firmeninsolvenz die Familie mit selbst bemalten Kieselsteinen über Wasser zu halten. Ich werde es nie erfahren. Sie stand dort nur einen Frühjahrsflohmarkt lang und weigerte sich, meine Fragen zum Tapeziertisch zu beantworten. Also, sie war direkt bockig, als ich ihr hundert Euro für den Tisch geboten hatte, mit einem Nießbrauch- und Nutzrecht ihrerseits bis Flohmarktende. Aber nix.

Nie wieder habe ich so einen geilen Tapeziertisch gesehen. Vielleicht ist es auch aus dieser herben Enttäuschung heraus, dass ich Tapeten zuletzt mit Montagekleber aus meiner Kartuschenpistole an die Wand gebracht habe.

Ich habe auch schon mal bei Karstadt in der Jeans-Abteilung für den Fall, dass dieser Jeans-Grabbeltisch mal ausgedient haben sollte, meine Kontaktdaten hinterlassen, weil der einen guten Esstisch abgegeben hätte. So schön tief, dass man zwischen sich und sein Gegenüber auch mal eine ganze Nudelsalatschüssel gestellt bekommt oder eine große Fischplatte und sich nicht immer von der Seite auffüllen muss. Na ja. Erstens findet Dörte es sowieso besser, wenn da eine Kerze zwischen uns steht und kein Fisch, obwohl ich es überhaupt nicht romantisch finde, wenn man immer eine Flamme vorm Gesicht seines Gegenübers hat, und zweitens haben die Arschlöcher von Karstadt mich nie angerufen, obwohl der Tisch mittlerweile in der Abteilung gegen ein Ledersofa ausgetauscht wurde, auf dem verschiedene Jeans-Stapel liegen. Was soll der Scheiß überhaupt? Sieht ja aus, als wenn Familie Flodder sich im Hotelzimmer breitmacht. Das schafft doch keine Kaufanreize. Aber wo der Tisch abgeblieben ist, wusste natürlich keiner. Ich möchte wetten, dass irgendein Abteilungsleiter daran mit seiner neuen Freundin bruncht, zwischen ihnen eine drehbare Käseplatte, und mein Leben lebt!

«Also ich könnte ihn bestimmt noch auf fünfzehn runterhandeln. Aber nur, wenn du das jetzt nicht extra aus Mitleid machst», flüstere ich Dörte leise ins Ohr.

«Nein, ich find die Decke wirklich ganz niedlich. Aber es ist auch etwas peinlich. Ich hatte nur laut gedacht.»

Wir Pranges neigen nämlich dazu, Leuten aus Mitleid alles abzukaufen. Als Frau Strehler sich damals mit ihrem Filzladen selbstständig gemacht hat, hing ich bei der Eröffnung auch in der Patsche. Frau Strehler hat selbst gefilzte Handytaschen und Laptop-Taschen und kleine Dekotierchen und was weiß ich nicht alles verkauft. Gut, ich hatten einen Eröffnungssekt abgestaubt und mir fest vorgenommen, für nicht mehr als diesen Gegenwert was Gefilztes zu kaufen.

«Und was wäre das hier, Frau Strehler?»

«Das sind Hausschuhe.»

«Ach, und ich dachte erst, irgendwas für Brötchen vielleicht.»

«Nee nee, Hausschuhe. Größe 39 bis 42.»

«Mmmh. Farbenfroh sind sie.»

«Die kann man ja auch einfach mal so hinstellen. Sehen gut aus, Ralfi.»

Silke hatte sich eingeschaltet, und okay, wenn man die Dinger mit den Einschlupflöchern nach unten in einen Blumentopf mit reinstellt, dann sieht das wahrscheinlich genauso aus wie die umfilzten kleinen Findlinge, die Frau Strehler ebenso im Angebot hatte.

«Bei was kämen die denn?»

«Die kämen bei 39 Euro. Das Paar.»

Am Ende war’s eine kleine Maus für vier Euro, die ich immerhin noch als Stopper unter die Balkontür klemmen konnte, und als ich mir dann noch zweimal Fürst Metternich nachschenken ließ, war die Welt für mich wieder in Ordnung. Nach drei Wochen war Strehlers Ausflug ins Hamburger Boutiquenwesen auch schon wieder erledigt. So viele Freunde und Nachbarn hatten sich am Ende dann doch nicht im Laden blicken lassen.

Na ja. Wenn meine Schwester dabei ist, dann ist man sowieso verloren und hängt in der Nachbarschafts- und Bekanntenfalle. In ihrer Straße an der Nordsee wohnt ein passionierter Aquarell-Maler, der eigentlich im Finanzamt arbeitet und für die SPD im Stadtrat sitzt. Und dieser Mann macht einmal im Jahr eine Vernissage in seinem Doppelcarport und nennt das Ganze dann «offener Kunstraum». Zuletzt hat er sogar großformatig gemalt, und Silke hat ihm tatsächlich eine 1,40 mal 2,10 Meter große «Lichtlandschaft» abgekauft – aus dem «Zyklus Lichtlandschaften». Für achtzig Euro! Angeblich ein Freundschaftspreis. Aber nun steht das Ding bei Silke in der Abseite. Und da hätte sie doch auch einfach sagen können: «Du, Roger, ich hab ja schon zwei Bilder von dir. Ich gebe dir einfach fünfzig Euro für deine Freizeitkasse, und dann kaufst du dir so was Schönes!»

«Bist du bescheuert, Ralf Prange?»

«Wieso? Es wär ja wohl ehrlicher. Und nachhaltiger.»

«Wie kommst du darauf?»

«Bei Hinz & Kunzt machst du’s ja auch, wenn du mal in Hamburg bist.»

«Das ist doch wohl was ganz anderes!»

Finde ich nicht! Wenn Silke mal ein ganzes Wochenende in Hamburg ist, dann begegnen ihr mindestens vier bis fünf Verkäufer von unserem Obdachlosenmagazin. Und dann kauft sie auch nicht einfach fünfmal dasselbe Exemplar, das sie sowieso nur überfliegt, sondern drückt den Verkäufern einfach so die zwei Euro in die Hand, ohne dafür ein Heft zu nehmen. Und bevor irgendein Scheißaquarell in der Abseite vergammelt, kann es doch einfach im Warenkreislauf bleiben, und der Nachbar Roger bekommt trotzdem wenigstens ein bisschen finanzielle Anerkennung für seine Lichtlandschaften. Auch das ist Kulturförderung. Es wäre einiges gewonnen, wenn irgendein Kulturstaatsminister einem samoischen Tanztheater einfach so mit zwanzigtausend Euro unter die Arme greift und die das dann erst gar nicht aufführen müssen. Das erspart den Tänzern die Anreise und dem Kulturstaatsminister, drei Stunden ohne Pause in der ersten Reihe sitzen zu müssen.

«Frag deine Mutter mal nachher, ob fünfzehn Euro in Ordnung sind», sage ich gönnerhaft zu Butschi und noch laut genug, damit Dörte, die schon an meinem Auto im Kofferraum die Tüten für den Einkauf vorsortiert, das auch noch mitbekommt. Und da bemerke ich plötzlich, dass Butschi die Röte ins Gesicht schießt und er ganz hektisch seine Sachen umräumt. Was ist jetzt denn?

«Eeeey! Demirbay, du Loser!»

Ich denke, ich höre nicht richtig. Auf der anderen Straßenseite laufen zwei so richtige Arschlochkinder entlang, also solche, denen man das auf den ersten Blick ansieht. So alt wie Butschi, aber gefühlt schon Meilen weiter, also in die ätzende Richtung. Butschi hat Angst, das sehe ich sofort, und trotzdem versucht er hilflos, irgendein neutrales Lächeln hinzukriegen. Doch bevor er was rausbringt, stehen die beiden schon vor der Wolldecke und schauen amüsiert auf ihn und Pina runter.

«Na, du Opfer? Was machst du denn hier? Ist das deine kleine Freundin?»

Butschi und auch Pina versuchen, sich nichts anmerken zu lassen.

«Wie süüüüß, Digga. Ist das ’n Picknick?»

«Pickfick!»

«Voll homo!»

Beide lachen sich gekünstelt schlapp und schlagen sich gegenseitig ab. Dörte und mich nehmen sie gar nicht richtig wahr. Was mich zunehmend sauer macht. So redet man doch nicht, wenn Erwachsene dabei sind! Als Grundschüler! Was sind das für …. für … für Wichser? Darf man überhaupt so denken als erwachsener Mensch? Können Achtjährige schon richtige Arschlöcher sein? Butschi schaut mich eindringlich an, und ich kann nicht deuten, was er von mir will. Soll ich lieber ruhig sein, oder soll ich ihm helfen? Aber mein Kopf ist wohl schon von selbst am Pochen, und Dörte schaut mich irritiert an, weil ich die Jungs offensichtlich sehr böse angucke, und dann gehe ich bewusst den letzten Schritt und stelle mich ganz nah an Butschi ran.

«Wir machen nur Spaß,» rudert der eine sofort zurück. «Er geht in unsere Klasse.»

«Is doch so, Demirbay, ne?»

«Normal. Alles gut», sagt Butschi und schaut verschämt auf den Boden.

Alles gut? Also wirklich! Butschi kriegt zum ersten Mal die Zähne auseinander. Er ist ja sonst nicht gerade auf den Mund gefallen, aber in diesem Moment ist ihm die Anspannung deutlich anzumerken. Und gerade als er einen Zipfel der Wolldecke über das «My little pony» legen will, haben die zwei anderen das natürlich schon längst bemerkt.

«Was ist DAS denn?»

«Alter…!»

Beide kreischen los und kriegen sich gar nicht wieder ein. Butschi wird knallrot, und auch mir läuft es heiß durch die Adern, weil ich mich sofort daran erinnere, wie damals ein paar Jungs aus meinem Faustballteam bei Karstadt an der Kasse meine nagelneue Nino-de-Angelo-Single in der Tüte gesehen haben. Guilty Pleasures nennt man so was heute, hat mir mal mein Neffe erklärt. Offensichtlich schämt man sich für Schlager-Singles, Dosen-Ravioli oder für Spielzeug-Ponys mit pinker Mähne.

Ich hatte damals auch meine Big-Jim -Figuren mit der Barbie -Spielwelt von meiner Schwester kombiniert und hätte einen Teufel getan, das in der Öffentlichkeit zuzugeben.

Zumal Big Jim einen halben Kopf kleiner war als die Barbies von Silke, und mit Ken wollte ich nix zu tun haben. Big Jim konnte auch bei Barbie Macker bleiben. Sie fuhr in seinem Jeep mit, und zusammen sahen sie so aus wie Sylvester Stallone mit Brigitte Nielsen. Und am Ende kann ich sagen, dass es tatsächlich pädagogisch wertvoll für mich war: Ich hatte noch nie Probleme, mir was mit größeren Frauen vorzustellen. Dörte ist auch, ehrlich gesagt, ein bis fünf Zentimeter größer als ich, je nach Tagesform. Und wenn Butschi seine Actionfigur auch mal auf einem pinken Pony reiten lässt – dann lass ihn doch!

Aber als Achtjähriger ist man da eben noch nicht ganz so souverän.

«Ist nicht meins, Digga.»

Tja, wie in der Bibel. Noch ehe dein Wolldeckenflohmarkt zu Ende ist, wirst du dreimal dein rosa Pony verleugnet haben . Butschi gab sich sichtlich Mühe.

«Das verkauf ich für einen Freund.»

«Ja, das hätt ich jetzt auch gesagt. Das ist so cringe!»

Beide Jungs hauen sich wieder auf die Schenkel und haben eigentlich gar keine Luft mehr in der Lunge, was dies affige Lachen noch viel widerlicher macht.

«Das ist mein Pony. Kostet drei Euro.»

Jetzt springt Pina von der Seite für unseren Butschi ein.

«Demirbay! Dann ist sie ja doch deine Freundin.»

«Zeig ma. Küsst euch ma. Mach doch ma.»

Und beide kreischen noch lauter. Butschi weiß wahrscheinlich gar nicht, wo er zuerst hingucken soll, und sortiert noch hektischer seine paar Sachen auf der Decke, und dann, ganz leise, fast stumm rutscht es ihm dann raus.

«Die ist nicht meine Freundin.»

Pina hat es auch gehört und bleibt bedröppelt neben ihm sitzen. Butschi versucht ein aufgesetztes ätzendes Lächeln. Ausgerechnet diesen Arschlöchern will er es recht machen. Doch die nehmen ihm sowieso keine Sekunde lang seine verzweifelten Versuche ab und beömmeln sich weiter. Er schämt sich vor Pina, und dann sucht er meinen Blick und starrt mich Hilfe suchend an.

«Ihr wisst aber schon, dass die Ritter früher auf Ponys in die Schlacht gezogen sind, nech?»

«Hä?»

Der noch Hohlere von den beiden guckt mich ausdruckslos an.

«Hamse neulich im Mittagsmagazin gebracht. Die Ritter früher. Die Bösen bei Robin Hood. Oder Tafelrunde usw.»

«Wie jetzt?»

«Die saßen auf Ponys und nicht auf Pferden. Kannste googeln. Das ist die aktuelle Forschung. Hamse Knochen gefunden. Ohne Scheiß. Und da hat aber keiner gelacht, wenn die im Kettenhemd auf ihren Ponys durchs Burgtor geritten sind.»

Beide Arschgeigen überlegen und schauen dabei immer wieder irritiert Butschis Spielzeugpony an.

«Das können Sie gar nicht wissen.»

Der weniger Hohle von den beiden siezt mich tatsächlich, immerhin.

«’türlich. Und wenn sich die Leute damals auch schon so schlapp gelacht hätten, wie ihr zwei Kapeiken heute, dann wären Ritter überhaupt nicht cool geworden. Hätte man gar keine große Story draus gemacht. Und das ist die Wahrheit: Die sind auf Ponys geritten, und die Leute fanden das trotzdem ganz geil.»

Pause.

«Aber doch nicht auf so was. Diese Weiber-Ponys.»

«Von der Größe her schon. Und sag nicht Weiber-Ponys. Was soll der Scheiß? Sind ja kräftig. Da nimmst du vier davon und kannst ’ne Bierkutsche ziehen.»

«Was labert er?», stupst der eine dem anderen den Ellbogen in die Rippe und reißt das Kinn hoch, was wohl das Zeichen zum Aufbruch ist. Weiterziehen. Irgendwo anders Kinder dumm anmachen. Ich halte immer noch das Pony in der Hand, und die Situation ist einigermaßen bereinigt.

«Oooooch, das kleine Pony. Das hat Malik sich damals zur Einschulung gewünscht. Weißt du das noch, Bärchen?»

Mit einem Satz alles kaputt gemacht! Butschis Mutter kommt mit dem Gelben Sack an die Mülltonnen und ist beim Anblick ihres Jungen samt Pony über die Maßen gerührt, dass sie wahrscheinlich selbst gerade überlegt, ihm das Ding für drei Euro abzukaufen. Doch dann geht sie doch lieber erst mal bestens gelaunt zu ihrem Auto, zieht sich die Sonnenbrille aus den Haaren vor die Augen und lässt ihren Jungen mit Totalschaden zurück. Die Arschgeigen lachen sich jetzt richtig schlapp und machen auch noch Fotos, die wahrscheinlich am Montag in der Klasse rumgehen. Bevor ich noch mal eingreifen kann, sind sie schon weg.

Butschi nimmt mir das Pony aus der Hand und schlägt es immer wieder auf den Boden. Doch das kleine Ding will nicht schrottgehen. Dann schaut er voller Scham Pina an, doch die nimmt einfach seine Hand und drückt sie.

Bedröppelt sitzt man eine Weile so vor sich hin.

Am Ende kauf ich für zwanzig Euro ein zum Batzen verklebtes Wikinger-Quartett, ein Autoquartett ohne Supertrumpf, ein Playstationspiel, das nur auf einer alten Konsole läuft, zwei Softtennisschläger, ein Pferdewissensbuch und ein rosa Pony mit Actionfigur. Und zwei Dosen Trockenshampoo. Leck mich am Arsch! Und wegen der Wolldecke muss ich Butschis Mutter auch noch fragen.

Ich kenne mittlerweile einfach zu viel Leute.