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Es ist frühmorgens Viertel nach sieben, und in der WG über mir ist ein Höllenlärm. Durch den Wasserschaden vor einigen Monaten war bei denen der ganze Holzboden Schrott, und seit ein paar Tagen wird er tatsächlich nach wochenlanger Handwerkersuche mit der dicken Schleifmaschine bearbeitet. Dörte verdreht neben mir im Halbschlaf die Augen und gibt mir mit einem knappen «Das ist das, was ich meine…» zu verstehen, dass sie nach wie vor den Gedanken an eine eigene Parzelle in der ruhigen Kleingartensiedlung trotz der durchgeknallten Shiloh-Ranch-Leute noch nicht ganz aufgegeben hat. Auch ich hätte in anderen Momenten wahrscheinlich schon längst rumgeflucht, aber hier und jetzt kommt mir der Lärm fast gelegen. Dörte hat Spätschicht, und wenn ich mal davon ausgehe, dass die Brüder da oben mindestens noch eine Stunde am Rumschleifen sind, könnte es ja durchaus zu einer intimen Annäherung kommen. Okay. Ich muss gestehen, dass mir das leichter fällt, wenn es begleitenden Umgebungslärm gibt. Manche Leute soll die Vorstellung ja antörnen, dass andere ihnen beim Liebesspiel zuhören, aber für mich persönlich ist das nix. Allein der Gedanke, dass man mich in Aktion im Treppenhaus hören könnte, ist der absolute Horror. Was soll daran antörnend sein, wenn die Nazi-Oma von oben mit ihren Enkeln durch das Treppenhaus läuft und ihnen die Ohren zuhalten muss. Ich bin doch kein Punk! Und deswegen bin ich ganz froh, wenn die Waschmaschine dabei läuft oder draußen vor der Tür ein Baustoff-Lkw einen Höllenlärm macht, weil er palettenweise Dachpfannen ablädt oder so was. Dann fühl ich mich sicherer und geborgener, und darum geht das in der Liebe ja auch, finde ich.

Immerhin bin ich etwas aus der Übung. Mein letztes Mal ist schon ein paar Jährchen her, muss ich gestehen, bin ich nicht stolz drauf. Als Dörte das erste Mal bei mir übernachtet hatte, war es eher noch Zufall. Wir lagen gemeinsam bei mir auf dem Bett und nicht im Bett, und allein das ist ja schon ein feiner, kleiner Unterschied – und auch nur deshalb, weil im Schlafzimmer das Fernsehbild stabiler ist. Ist so! Ohne jeden Hintergedanken. Sie trug eine Bequemhose und Übersocken über ihren Sneakersöckchen, ich selbst hatte noch meine Hausschuhe an, um nicht völlig falsche Signale zu senden. Wir hielten Händchen und schauten irgendeinen Dokukram über die Serengeti. Und minutenlang wurde der Zeugungsakt von zwei Nashörnern gezeigt, minutenlang (!), weil das wohl so selten ist. Ich gehe übrigens davon aus, dass die zwei Exemplare genau wussten, dass sie gefilmt werden, so befangen, wie die geradeaus starrten. Nur nichts anmerken lassen. Und genauso eingeschüchtert schauten Dörte und ich geradeaus, als wir den Nashörnern dabei zugucken mussten. Eisern schweigend. Wir beide dachten dasselbe, das war zu spüren. Das Thema war auf dem Tisch. Unter Druck gesetzt von Nashörnern, aber natürlich war es in dem Moment unmöglich, einen Annäherungsversuch zu starten. Wie pervers wäre das denn rübergekommen, bitte schön? Angestachelt von Nashorn-Sex? Leute! Einfach umzuschalten, wäre allerdings auch unsouverän rübergekommen. Ich ließ meine Gedanken kreisen und schaute gar nicht richtig hin, bis mich endlich die dröhnend laute «Hart aber fair»-Anfangsmelodie erlöst hat.

«Oh, Plasberg, ne? Ich mag ihn ja gucken.»

«Ja, ganz gut manchmal.»

«Bissig isser!»

Dann schauten wir noch die Gästevorstellung, und noch bevor irgendein Tourismusbeauftragter aus der CDU sein Eröffnungsplädoyer fertig vorgetragen hatte – war Dörte schon eingepennt.

Tage später war Micki zu Besuch und hat sich im Express-Tempo zwei Halbliterflaschen polnisches Exportbier reingesaugt. Dörte und ich haben dann anstandshalber eine Flasche Rotkäppchen aufgemacht, die nicht richtig durchgekühlt war, und noch Aperol draufgekippt, weil man dann guten Gewissens Eiswürfel in den Sekt machen kann. Denn nur so in den Sekt rein gehört sich nicht, finde ich. Ist keine Art. Kurzum: Es lief gut runter, und da war Micki auch schon längst nicht mehr da.

Und dann ließ Dörte diesen etwas zu langen Blick über mein Gesicht gleiten, strich mit dem Zeigefinger liebevoll mein kleines Flaumbärtchen an der Oberlippe glatt und küsste mich, und da ahnte ich schon, was anstand. Weil, so hatte sie mich noch nie geküsst, mit diesem warmen Atem aus ihren Nasenlöchern auf meinem Gesicht. Ich hatte bis zu diesem Augenblick immer Angst davor gehabt.

«Wollen wir vielleicht schon ins Bett gehen?»

«Willst du fernsehen?»

«Nein.»

Sie hatte einen leichten Silberblick. Vielleicht der Alkohol. Vielleicht wollte sie auch extra so gucken. Ich fand’s nicht schlecht, war aber irgendwo eingeschüchtert.

«Es ist ja grad mal halb acht.»

«Mmmmh.»

«Gleich kommt im Dritten ‹Hamburg Journal›».

«Mmmmh … weiß nicht …»

«Aber das kann ich natürlich auch online abrufen.»

«Mmmmmmh.»

«Mediathek. Das ist da denn ab gleich ein Jahr vorrätig.»

«Ich möchte mit dir schlafen, Ralf Prange», hauchte sie mir ins Ohr, und ich bin fast ohnmächtig geworden oder war wie weggetreten, wie so ein Hund, den man genau an der richtigen Stelle am Ohr krault.

«Kommst du?»

Sie nahm meine Hand.

«Bin gleich bei dir. Ich schmeiß nur noch schnell ’ne Buntwäsche an.»

Vierzig Grad. Restlaufzeit 1:03. Nach circa einer halben Stunde das erste Zwischenschleudern und Endschleudern bei 0:55 – das sollte ja wohl reichen, um sich auch mal wieder richtig gehen zu lassen, nach der jahrelangen Durststrecke. Und mit schlottrigen Knien bin ich dann hinter ihr her in mein Schlafzimmer. Ich war einfach nicht in der Verfassung, meiner Rolle als Gastgeber gerecht zu werden und voranzugehen.

Das war unser erstes Mal. Es hat nicht mal bis zum Zwischenschleudergang gedauert, aber die Maschine sorgte dennoch für genügend Geräuschkulisse, um sich sicher zu fühlen.

Man muss allerdings vorsichtig sein und die Geräuschquellen variieren, damit das Dörte nicht auffällt, und schon gar nicht den Nachbarn. Nicht, dass die irgendwann denken, immer, wenn die Waschmaschine läuft oder die Musik lauter aufgedreht wird, fallen irgendwelche Leute übereinander her! Kann es vielleicht sogar sein, dass der Bumser über uns seinen Schleifvorgang nur vortäuscht, mit einer Schleifgeräusch-CD auf voller Lautstärke, um noch mehr Gas geben zu können als sonst?

«Er müsste eigentlich nur so ’ne Bluetooth-Box mit Panzertape auf diesem Staubsaugerroboter festmachen, und dann fährt der durchs Schlafzimmer.»

«Ralf, du steigerst dich da schon wieder in so was rein», sagte meine Schwester Silke neulich am Telefon, als ich ihr von meinem Verdacht erzählt habe.

«Es wär täuschend echt. Die perfekte Bodenschleifer-Illusion.»

«Ich denk, mit Geräuschen von der CD und nicht Bluetooth.»

«Silke, das sind junge Leute. Da gibt’s ja Adapter und sonst was. Jetzt sperr dich doch nicht so!»

«Mal ehrlich, Ralf. Welche Frau, jetzt mal aus meiner Sicht, hätte da Lust drauf? Bei dem Lärm?»

«Deine Nachbarn machen’s doch am offenen Fenster und hören die Böhsen Onkelz dabei!»

«Die machen’s ja nicht am offenen Fenster, Ralf. Und außerdem ist Musik ja wohl noch was anderes als Bodenschleifen.»

«Geschmackssache. Du hattest früher in deinem Zimmer doch auch immer laut Johnny Logan an, wenn dein Freund zu Besuch war. Fandst ja auch besser.»

«Das ist ja wohl auch passender.»

«Auf der andern Seite weiß man dann natürlich auch sofort, was Sache ist, wenn da so ’ne Schnulzmusik läuft.»

«Ralf …»

«Nee, man spürt es dann sofort durch die Zimmertür. Mama hat auch immer geschmunzelt.»

«Ach, dann muss ich also die Böhsen Onkelz hören oder Bodenschleifgeräusche oder die Waschmaschine im Schleudergang, damit das keinen Verdacht erregt. Ja, danke auch!»

«Das ist der Preis, den wir zahlen, Silke.»

Dörte hat bei sich in der Wohnung so eine Vogelstimmen-Box, die über einen Bewegungssensor sofort anspringt, wenn man ihr Badezimmer betritt. Auch wenn man sich nur mal kurz die Hände waschen will, geht dieses nervige Vogelgepiepe an. Und das nervt mich dann auch schon wieder, weil ich dann ja gar nichts verrichte, was eine solche Akustikmaßnahme rechtfertigen würde. Und sie denkt dann vielleicht noch sonst was.

«Du, Dörte!», ruf ich dann. «Wo ist denn die Nagelschere hin? Ich will mir grad nur kurz die Nägel schneiden und …»

«Liegt sie nicht in der Schale?»

«Ah! Jetzt seh ich’s auch. Alles klar. Ich schneid dann mal meine Nägel, deine Fiskars schneidet so schön rund. Da muss man gar nicht nachfeilen.»

«Was sagst du?»

«Ich schneid mir die Nägel.»

«Machst du dann das Fenster auf?»

«ICH SCHNEIDE MIR DIE NÄGEL

Was mein Liebesleben mit ihr betrifft, ist mir die Geräuschuntermalung nicht nur allein wegen der Nachbarn wichtig, sondern auch für uns als Paar.

Weil, wenn man jahrelang allein gelebt hat, dann bekommt man einen richtigen Schreck, wenn man seine eigene Stimme im Beisammensein mit anderen wahrnimmt. Also Geräusche, spontane Äußerungen, Freudenschreie, was weiß ich, so ein ganz inniges und ehrliches «Leckomio, wie geil», wenn man einem Spiegelei in der Bratpfanne beim Werden zuschaut.

Also mein ganzes Leben lang, oder zumindest die meiste Zeit, hab ich das alleine mit mir ausgemacht. Und als nach und nach Butschi und Micki in mein Leben traten, bekam ich das erste Mal diesen Schreck, als Butschi an der Playstation glänzte und ich mich dieses freudige «Leckomio» sagen hörte, was bisher einzig in meinem innersten Privaten Verwendung fand.

«Leckomio, was für ’n geiles Tor, Butschi.»

Als wär mir ein Furz rausgerutscht. Und genau so guckten die beiden mich auch an.

«Was is los, Prange?», musste Micki lachen, und schon war ich fast wieder eingeschüchtert. Und auch ans – ja, wie sagt man – Stöhnen vor Dörte muss ich mich immer noch gewöhnen. Nicht, dass Dörte da komisch drauf reagiert, nein, aber für mich fühlt es sich komisch an, mich selbst so zu hören.

Schlimmer ist fast nur die Vorstellung, sich beim Sex auch noch selbst zu sehen. Also vorm Spiegel oder so, man kennt das ja aus Schilderungen in Funk und Fernsehen, dass manche Leute sich so was extra übers Bett hängen. Für mich wär das wirklich das Allerletzte.

Völlig neue Probleme, seit ich Dörte kenne! Was einem Beziehungen alles abverlangen, stresst mich jetzt schon wieder total. Ehrlich. Und ich bemühe mich ja. Doch irgendwann fing Dörte auch noch an, Kommentare abzugeben. Wir waren gerade dabei, wie man so schön sagt, und es fühlte sich alles wunderbar an. Im Fernseher lief das heute journal auf 18 Balken Lautstärke, weil das hegt überhaupt keinen erotischen Verdacht in der Nachbarschaft und war laut genug, um meinen eigenen Äußerungen entgegenzuwirken, auch wenn ich mit einem halben Ohr beim Bericht der ZDF -Börsenfrau Valerie Haller war. Wenn die wüsste!

Und wirklich mittendrin gab es plötzlich Tonprobleme. Anfangs hörte man Marietta Slomka noch hilflos fragen «Valerie Haller?», dann war der Ton auch bei ihr weg. Es gab nur noch das Ticken der Uhr, das Summen und Klackern der Gas-Therme in meiner Wohnung – und uns.

Und plötzlich, ohne jede Vorbereitung, meine ich, dieses versaute Wort gehört zu haben. Konnte das sein? Ich dachte erst noch, dass es vielleicht Berni war, der aus dem Wohnzimmer rübergegrölt hat, aber nein, es muss Dörte gewesen sein. Also wirklich was ziemlich Versautes, Aufforderndes, was auch gar nicht wirklich zu ihr passte. Habe ich mich vielleicht verhört? Aber was kann man schon schreien, wenn man intim ist, was nichts mit dem Akt selbst zu tun hat? «Feuer, Feuer!»? Aber dann würde man ja wahrscheinlich auch nicht einfach so weitermachen. Es ließ mir auf jeden Fall keine Ruhe.

«Was hast du eben grad gesagt?»

«Wa…?» Sie war recht atemlos.

«Was hast du eben grad gesagt?»

«Wie?»

«Was du eben gesagt hattest, ich hab’s nicht ganz verstanden. Akustisch.»

«Ich weiß nicht …»

«Du, ich wollte nur sichergehen, dass ich auch alles richtig mache, weißt du?»

«Ralf … ich weiß wirklich nicht. Lass uns einfach weitermachen.»

«Du, kein Ding. Kein Ding.»

Ich spürte ihren heißen Atem an meinem Ohr. Manchmal kann ich immer noch nicht glauben, dass wirklich Dörte, die Hermes -Frau, früher DHL , die mich schon seit Jahren im Sommer immer mit ihren kurzen Zusteller-Shorts um meine gewohnte Paketannahme-Routine brachte, dass diese Dörte wirklich in guter Regelmäßigkeit hier in meinem Bett liegt und mich anhaucht. Es lag ein merkwürdiges Schweigen in der Luft, als wenn man gemeinsam beim Essen im Restaurant sitzt und der Gesprächsstoff plötzlich alle ist. Unerträglich.

«Irgendwas hast du ja aber gesagt.»

«Kann sein.»

«Weil, wenn das was Wichtiges war …»

«Ich möchte das jetzt nicht wiederholen, Ralf. Das passt jetzt nicht mehr.»

«Du, ich wollte jetzt nicht die Stimmung kaputt machen. Ich habe es einfach nur akustisch nicht richtig verstanden.»

«Schon gut.»

Sie wurde richtig rot.

«Sonst sagst du’s einfach noch mal, wenn es wieder passt.»

«Vielleicht.»

Wir lagen so beieinander, und sie nahm einen Schluck Wasser aus der Sprudlerflasche vom Nachttisch. Im Fernsehen lief eine Tonstörungsbanderole durchs Bild, und als auch noch Berni «Ficker» rüberkrächzte, war die Sache endgültig gegessen. Ich habe seitdem nichts Vergleichbares mehr von Dörte gehört, und auch, weil ich diese erdrückende Stille nicht mehr erleben will, bin ich heute Morgen geradezu euphorisch, was den Bodenschleifer von oben betrifft.

Ihr scheint es ähnlich zu gehen.

Es ist ein segensreicher Höllenlärm. Es ist wie ein Flirtgespräch direkt unter der Lautsprecherbox früher im Disco-Bierdorf Posemuckel in der Innenstadt, wo ich mitunter gezwungenermaßen mit der Faustballmannschaft feiern musste. Man schrie sich an, lachte, scherzte, knuffte sich und verstand trotzdem kein einziges Wort.

Wir lieben uns, und ich hab keine Ahnung, was Dörte mir gerade ins Ohr brüllt.

Es ist besser so.