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Es ist Viertel vor acht Uhr abends, und ich stehe im Supermarkt hinter dem Babygläschenregal – und verstecke mich. Hier läuft sie wahrscheinlich nicht vorbei. Wozu auch? Sie ist bestimmt schon um die achtzig. Da kauft man keine Babygläser mehr, höchstens, um sich selbst breiweiche Eiernudeln in Tomatensoße im Wasserbad warm zu machen, wenn man keine vernünftigen Zähne mehr hat. Hat sie aber. Selbst, wenn’s nur dritte sind, könnte sie mit ihren Schneidezähnen Elektrokabel abisolieren.

Vor fünf Minuten hab ich sie in der Obst- und Gemüseabteilung entdeckt: Frau Jesteburg, da war ich mir einigermaßen sicher, unsere alte Nachbarin, die ganz früher über uns gewohnt hat, da, wo jetzt die WG drin ist. Frau Jesteburg hat immer ihren ausgelesenen Lesezirkel zum Abholen an die Haustür gestellt, und wenn das Praline oder Quick waren, habe ich mir die dann für die Witze genommen und für den nächsten Schultag auswendig gelernt. Irgendwann hatte Frau Jesteburg ihren Mann verlassen, und auch der Lesezirkel kam nicht mehr in unser Haus. Ich fragte mich damals, ob tatsächlich Frau Jesteburg die Praline - und Quick- Leserin in der Ehe war oder ihr verlassener Mann aufgrund horrender Unterhaltszahlungen nicht mehr zum Lesezirkelkauf in der Lage. Wahrscheinlich Letzteres. Ein Jahr später zog er nämlich auch aus.

Frau Jesteburg stand da also vor den künstlich auf Bio getrimmten Holzkisten und drückte auf dunklen Avocados rum, was auch deshalb merkwürdig aussah, weil sie dabei Nordic-Walking-Stöcke um die Handgelenke baumeln hatte. Wie soll man denn bitte schön einkaufen, wenn man zwei Nordic-Walking-Stöcke in und an der Hand hat? Ich hab sie wirklich nur ganz kurz von hinten angeguckt und wollte schon still meinen Einkaufswagen weiterschieben, als sie sich umdrehte, weil sie wahrscheinlich meinen Blick in ihrem Nacken spürte. Vielleicht wurde ich rot im Gesicht oder so was, auf jeden Fall muss irgendwas die Dame getriggert haben. Ein Scheiß! Sie stellte den Kopf schräg, und dann hat’s wohl gedämmert bei ihr, und sie ging langsam auf mich los, mit zwei Avocados in den Händen und den Stöcken an den Gelenken.

«Das ist er ja doch.»

«Moin.»

«Na du? Wir haben uns ja ’ne Ewigkeit nicht gesehen!»

«Mmmh. Moin.»

«Gut siehst du aus.»

«Ja. Selber. Mönsch.»

Okay. Erst mal neutral bleiben. Weil, ich weiß gar nicht mehr, ob ich Frau Jesteburg früher überhaupt geduzt hab, zumal ich Kind war. Die Elblette duze ich ja auch nicht, und Frau Strehler hab ich auch nie geduzt.

So langsam wurde ich etwas unsicher, ob es sich tatsächlich um Frau Jesteburg handelte. Kannte ich diese Frau vielleicht doch woandersher? Vielleicht früher vom Faustball? War sie eine der Waffeldamen am Waffeleisenstand in der Turnhalle? Dann habe ich sie bestimmt geduzt. Und ich weiß auch gar nicht, wieso man dann nicht einfach ehrlich die Wahrheit sagen kann von wegen: «Sorry, ich steh grad auf dem Schlauch, woher kennen wir uns noch mal?» Das Schlimmste, was einem passieren könnte, wäre ja nur, dass sie beleidigt wieder abzieht, und den Verlust dieser Bekanntschaft könnte man dann sowieso ziemlich entspannt verknusen, wenn man sich noch nicht mal richtig mehr an die Person erinnern kann. Und ich setzte schon dazu an – als sie mir um den Hals fiel. Ohne Scheiß. Sie fiel mir um den Hals und presste mich ganz fest an sich. Mit den Avocados in der Hand und den baumelnden Stöcken an den Gelenken. Dann nahm sie mein Gesicht in die Hand.

«Dass ich dich noch mal wiedersehe!»

Sie hatte feuchte Augen, und so langsam wurde mir die Sache unangenehm. Also vom Gesicht her kam sie mir schon einigermaßen bekannt vor. Aber das ist auch das Problem an so norddeutschen Allerweltsgesichtern. Die sind wie ein VW Golf : tausendmal gesehen, aber wem das Ding nun gehört, kann man sich bei so viel Durchschnittlichkeit nun auch wieder nicht im Einzelnen merken. Zu unauffällig. Zu verwechselbar. Ist doch wahr. In der Kleinstadt von meiner Schwester Silke fährt so ein Alt-Punk und pensionierter Kunstlehrer einen hellblauen Leichenwagen mit original Ado -Gardinen an den Fenstern, und da weiß natürlich jeder schon auf tausend Meter Entfernung, wer da kommt.

Der Mann von Silke macht es einem auch leicht. Er hat ein Gesicht, wenn es ein Auto wäre, wie ein Fiat Multipla . Nicht superhässlich, aber schon auch irgendwie hässlich, auf alle Fälle aber doch ziemlich aus dem Rahmen gefallen. Stefan hat Schweineäuglein, die von seiner Brille auch noch verkleinert werden, und eine große Stirn bei kleinem Kinn. Das Ding vergisst du nicht! Diesen Menschen kannst du nicht vergessen. Auch wenn man vielleicht eines Tages den Namen nicht mehr zusammenbekommt, man weiß einfach, dass man ihn kennt, und auch die Herleitung, von woher, funktioniert dann meist noch.

So! Schönen Dank. Jetzt steht diese Frau vor mir, und ich habe keine Ahnung. Dann trägt sie auch noch eine glänzende Daunen-Steppweste in Oma-Beige, was in ihrem Homeshopping-Kanal wahrscheinlich als perlmutt-metallic angepriesen wurde. Das weiß ich, weil Tanja Kapella regelmäßig solche Sachen für sich und ihre Mutter bestellt, die dann bei mir abgegeben werden. Dann laufen die beiden immer rum wie eine Willy-Bogner-Version von Margot und Maria Hellwig. Und die Dame, die vor mir stand, war ähnlich elegant, aber doch viel zerbrechlicher. Das einzig verbliebene Kraftvolle an ihr sind die Zähne.

«Ja. Ist lange her», wagte ich mich aus der Deckung.

«Du, es ist ja sooo lange her.»

«Nee wirklich. Is so.»

«Du, do…!»

Jetzt lächelte sie und knuffte mich spielerisch mit einer Avocado auf den Oberarm.

«Trifft man sich hier beim Einkaufen.»

«Ja, sollte wohl sein.»

«Da, das sollte wohl so sein.»

«Is so.»

«Ist ja wirklich so. Ist ja rein verrückt!»

Und so hätte das noch ewig weitergehen können, doch dann kamen ihr wieder die Tränen, und sie drückte mich und sah mir mit festem Blick in die Augen.

«Das tut so gut.»

«Mmmh.»

«Wie oft hab ich an dich gedacht in der letzten Zeit.»

Das fand ich schon ein bisschen übertrieben von ihr. Dann streichelte sie auch noch meinen Hinterkopf und ließ mich gar nicht mehr los. Über ihre Schultern hinweg sah ich, wie Butschi in den Supermarkt stürmte, und wollte schon aus lauter Verzweiflung «Hallo!» rufen, aber dann packte sie mich schon wieder am Nacken und zog mich noch dichter an sich heran.

«Das tut mir so leid mit Mutti. Ich konnt das gar nicht glauben, dass sie tot ist, als ich das gehört hab.»

«Ja, das war nicht so einfach.»

«Das kann ich mir denken. Das kann ich mir wirklich denken.»

«Mmmh …»

Ich meine, der Tod meiner Mutter ist jetzt schon mehrere Jahre her, aber es ist ja nie zu spät zu kondolieren. Auf der anderen Seite wollte ich jetzt auch nicht zu lange verweilen, weil ich Dörte noch irgendwo in der Joghurtabteilung aufgabeln musste, bevor sie wieder nur diese Soja-Dinger einpackt und meint, dass ich den Unterschied nicht merke. Meine größte Sorge war außerdem, dass der Mann im Hähnchenexpress auf dem Parkplatz so langsam die letzten guten Dinger vom Spieß schieben würde, wenn ich mich nicht beeile. Die Dame tätschelte wieder meine Wange.

«So schrecklich.»

«Krebs?»

«Mmmh.»

«Dabei hab ich sie doch vor zwei Wochen noch bei Rossmann gesehen.»

Ähhhh. Hallo? Irgendwas lief hier gerade ganz schief, und mir wurde ganz heiß. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie die Arschgeigen aus Butschis Klasse in den Supermarkt gestürmt kamen und nach ihm Ausschau hielten. Aber ich war gefangen im Griff einer Greisin, die ihren Umarmungsgriff immer weiter zuzog.

«Mmmh. Äh …»

«So ’ne feine Frau. Wie geht’s denn dem Hund?»

«Ja, wie soll’s ihm gehen?»

«Und deine Arbeit. Hast du die noch?»

«Ja.»

«Das ist so wichtig, mein Jung.»

«Mmmmh. Nee, aber hab ich.»

«Spielst du noch Fußball?»

«Selten.»

«Hast du doch früher so gerne.»

«Na ja.»

Ich bin nicht stolz drauf, aber was soll man machen? Ich hab ja nicht gelogen, und eigentlich kann man mir gar nix vorwerfen. Trotzdem hab ich innerlich gebetet, dass sie endlich ihren Klammergriff löst und mich in Ruhe lässt.

«Ach, hier bist du immer noch? Ich hab schon Blaubeer-Joghurts eingepackt. Die magst du doch auch.»

Dörte stand plötzlich neben uns, mit mehreren Bechern von diesem Soja-Dings vor dem Bauch auf den Unterarmen gestapelt, und schaute mich fragend an, als ich da so vor ihr stand, mit einer älteren Dame, die Avocados in der Hand und Nordic-Walking-Stöcke an den Gelenken hatte und mich fest umklammert hielt. Manchmal magst du einfach nicht mehr.

«Ja, ich bin hier im Obst hängen geblieben.»

«Stellst du uns nicht vor? Guten Tag.»

«Ja, ach so. Das ist … eine alte Bekannte», und zur alten Dame «Das ist meine Freundin. Sozusagen.»

«Ach Gottchen!»

Sie nahm mein Gesicht in ihre Hände, mit den Avocados, schaute mich überwältigt an auf eine Art, wo ich nicht deuten konnte, ob sie das wahnsinnig oder einfach nur furchtbar fand. War das plötzliche Gehässigkeit in ihrem Blick oder Zuneigung? Ihr Gesicht war eingefroren wie in einer schlechten Videokonferenz, und genau in dem Moment stand eine andere, etwas jüngere Frau mit einem Einkaufswagen direkt neben uns.

«Na? Ist er das, Mutti?»

«Du, er ist es. Ich hab’s vorhin doch gleich gesagt, als er übern Parkplatz ging.»

Sie lockerte ihren Avocadogriff um meinen Hals und gab mein Gesicht frei. Was heißt frei?

Sie präsentierte mich förmlich, und ihre Tochter nickte zwar freundlich, aber die Skepsis in ihrem Blick war unübersehbar. Diese Leute waren nicht die Jesteburgs, und ich war Ralf Prange, und offensichtlich überhaupt nicht der, den Frau Nicht-Jesteburg im Kopf hatte. Da hätte ich immer noch sagen können: «Hören Sie! Bevor Sie weiterreden! Ich bin es nicht!» Das hätte ich sofort sagen müssen , aber ich bin ja auch nur ein Mensch und habe versucht, mich aus der Nummer rauszusabbeln.

«So. Nun ja. Ansonsten geht’s uns allen aber wirklich besser, schön, dass wir uns mal wieder…»

«So schön.»

Sie tätschelte meine Wange.

«Wenn du glaubst, es geht nicht mehr …»

«Ja, dann kommt irgendwo ein Lichtlein her. Danke du. Lass dich noch mal drücken und toi, toi, toi auch für euch im Allgemeinen und bis irgendwann mal wieder. Wir schnacken.»

«Wir schnacken.»

«Das tun wir!»

Und ohne der Tochter noch mal richtig ins Gesicht zu schauen, bin ich losgezogen mit meinem Einkaufswagen, raus aus der Obstabteilung, obwohl ich eigentlich noch gucken wollte, ob die heute vielleicht diese mittelgroßen Cherrytomaten haben, und bin mit den schnellen Schritten einer Person, die mal ganz dringend auf Klo muss, Richtung Non-Food-Abteilung abgehauen, Dörte völlig verdattert hinterher.

«Ralf?»

«Später. Gla-heich.»

Und noch währenddessen habe ich einhändig mein Handy entsperrt und im Gehen oder, besser gesagt, im Traben Silke angerufen.

«Silke, kennst du noch Frau Jesteburg von früher?»

«Was flüsterst du denn so?»

Ich nahm mir einen Satz Autofußmatten aus dem Angebots-Aufsteller und hielt ihn mir schützend vor Ohr und Handy, damit nicht jeder mithören kann.

«Frau Jesteburg. Von früher. Von oben. Kennst du die noch?»

«Die mit den Zähnen?»

«Ja, die mit den Zähnen. Deswegen bin ich ja so verwirrt. Die hatte doch keine Tochter …»

«Nee, die hatte nur diesen Sohn mit der Frisur und diesem Fahrrad immer.»

«Dann ist sie das tatsächlich nicht. Hätt ja sein können, dass sie nur einen an der Marmel hat mittlerweile. Weil die Zähne stimmten.»

«Ralf, was ist denn los?»

«Erzähl ich später mal. Ich muss jetzt aufpassen, dass die mir nicht noch mal übern Weg laufen!»

«Frau Jesteburg?»

«Eben nicht, Silke! Eben nicht!»

Ich habe wieder nicht den richtigen Zeitpunkt erwischt, die ganze Sache mit der falschen Frau Jesteburg aufzuklären, die jetzt wahrscheinlich von ihrer Tochter die ganze bittere Wahrheit, noch mit den Avocados in der Hand, um die Ohren gehauen bekommt.

«Mutti, das war er gar nicht.»

«Warum tut der Mann denn so was?»

«Ich weiß es nicht.»

«Vielleicht hat er einen an der Marmel?!»

«Kann sein. Er guckte so.»

«Ich hab ihn gestreichelt . Was stimmt denn nicht mit ihm?»

«Ich weiß es nicht.»

«Aber dann ist Kai vielleicht noch mit seiner Frau zusammen.»

Oder so ähnlich. Ich schäme mich so. Und auch wiederum nicht. Was geht die Alte denn so distanzlos auf mich zu? Ich bin hier das Opfer. Es gibt ja diesen einen Film mit Richard Gere und Jodie Foster, von der ich eine Zeit lang immer dachte, sie heißt Judy Foster, wo er eine falsche Identität annimmt und so tut, als wäre er ihr Ehemann, der nach Jahren aus dem Krieg zurückkommt und sich am Ende sogar hinrichten lässt, weil es ihm zu unangenehm ist zuzugeben, dass er der Falsche ist und alles nur eine Verwechslung. Und ich kann das so gut nachvollziehen! Eigentlich will ich noch Ausschau nach Butschi und seinen Verfolgern halten, aber für mich zieht sich jetzt die Schlinge am Hals langsam zu, weil ich Mutter und Tochter immer mal wieder aus der Entfernung am Wagenschieben bzw. beim Stockeinsatz in den Gängen sehe. Das Gefühl, den beiden wieder in die Augen sehen zu müssen, nachdem ich aufgeflogen bin, ist unerträglich.

Das war früher schon bei mir so. Damals beim Friseur: Man saß da frisch gewaschen, mit trocken gerubbelten Haaren, und wurde pneumatisch aufgebockt, was ich als kleiner Junge sensationell aufregend fand, fast besser als Jahrmarkt, aber spätestens als junger Mann irgendwie enteiernd, wenn man von einer Frau in die Höhe gestemmt wird, technische Hilfsmittel hin oder her.

«Was machen wir denn heute Schönes? Wie immer?»

«Ja, würd ich sagen. Klingt gut.»

«Na dann mal los.»

«Jupp.»

«Schon Feierabend?»

«Nee, ich sitz grad noch bei der Arbeit und bin gar nicht hier …» – möchte man am liebsten sagen, weil: Was ist das denn für eine dumme Frage immer?

Aber auch das hab ich mich natürlich nicht getraut. Generell bin ich beim Friseur immer ziemlich eingeschüchtert. Ich mag mich nicht gerne im Spiegel beobachten müssen beim Sprechen, und deshalb sage ich lieber gar nichts und reagiere nur auf Ansprache. Und da war es auch schon passiert: Ich wurde offensichtlich für jemand anderes gehalten. Mit einem Scher-Aufsatz wurden meine Haare über dem Ohr auf 15 mm getrimmt, und da hatte ich dann wirklich keinen Bock mehr auf Haareschneiden. Es war klar, das war nicht das übliche Frisurenprogramm von Ralf Prange, nämlich Spitzenschneiden und den Rest mit der Ausdünnschere. Die Friseurin bemerkte meine Nervosität.

«Das wird nachher noch schön angeglichen, nech?»

Und ich saß nur da wie das berühmte Kaninchen, völlig gelähmt und nicht in der Lage, dem ganzen Wahnsinn Einhalt zu gebieten. Bin ich nicht stolz drauf. Die Pein, die Verwechslung zugeben zu müssen, wiegt dann bei mir wohl noch stärker als die Angst vor einer Kackfrisur. Manchmal denke ich, man wird am Haarwaschbecken irgendwie sediert, und aus dem Wasserhahn kommt dampfendes Tavor, das man über die Nase aufnimmt und danach alles mit sich machen lässt. Und die Pflicht-Frage, ob die Temperatur so in Ordnung sei, dient nur der Überprüfung, ob der Kunde schon tiefenentspannt zurücknäselt: «Alles wunderbar.» Kurzum: Die andere Seite wurde auch noch abgesäbelt, und als sie mir dann noch Alustreifen fürs Strähnchenfärben in die Haare schob, war mir sowieso schon alles egal, und ich habe nur noch überlegt, bei welchem anderen Friseur ich das alles wieder einigermaßen reparieren lassen kann. Ich war 23. Ich sah scheiße aus. Ich hab 45 Mark (!) bezahlt und sogar noch zwei Mark Trinkgeld gegeben.

Es ist vielleicht genetisch. Wir Pranges sind und waren alle so, bis auf meinen Opa vielleicht.

Wahrscheinlich würden wir uns sogar ein Bein absägen lassen, wenn der Chirurg uns für jemand anderen hält und der Kipp-Punkt, wo man das Ganze noch souverän hätte aufklären können, schon längst hinter uns liegt.

«Was ist denn überhaupt los? Wer war denn das?», fragt mich Dörte, als sie mich dann endlich eingeholt hat.

«Ich weiß es nicht!»

«Wie? Du weißt es nicht?»

«Ich kenn die Frau nicht.»

«Die hat dich umarmt.»

«Es ist dumm gelaufen, Dörte! Es ist einfach dumm gelaufen!»

«Okay …»

«Bitte sprich nicht mit denen. Ich bleib jetzt einfach hier stehen. Und du kannst ja vielleicht schon mal bezahlen und zum Auto, und ich komm dann nach.»

«Also manchmal, Ralf Prange …»

«Is so. ’tschuldigung.»

Das sind eben auch wieder die Fänge einer Beziehung! Dass man sich nicht einfach still und heimlich in einem Supermarkt vor alten Omas verstecken kann, von denen man sich irrtümlicherweise drücken ließ. Immer muss man alles erklären! Auch warum man findet, dass Soja-Joghurt nicht genauso schmeckt wie echter Joghurt oder warum man gegen Leute vorgeht, die einen grundlos vom Balkon aus anglotzen oder warum man gerne Aktenzeichen XY guckt! Es ist doch meine Sache. Zumindest war es mal meine Sache. Vor einem Jahr, als weder eine Lebensgefährtin noch irgendwelche Nachbarn oder irgendein ehemaliges Arschlochkind all das interessierte, was Ralf Prange denkt und tut.

Ich kauere in der Babygläschenabteilung und versuche, mir durch die Regalritzen einen kleinen Überblick zu verschaffen, wo Mutter und Tochter stecken. So bin ich nun mal! Und da sehe ich Butschi. In der Non-Food-Abteilung schaut er ängstlich aus einem Wäschekarussell mit Angebots-Fleecejacken heraus in alle Richtungen, und in dem Augenblick sieht er mich auch. Wir blicken uns wortlos an. Dann hält er sich seinen Zeigefinger an die Lippen. Ich halte mir meinen Zeigefinger an die Lippen. Dann taucht Butschi wieder ab, in der Hoffnung, dass seine Peiniger von selbst den Spaß an der Suche nach ihm verlieren. Ich schäme mich. Wie leicht wäre es, den Jungen an der Hand aus dem Supermarkt zu retten, doch meine Angst vor den zwei Damen lässt mich erstarren. Minutenlang. Ich komme mir wieder vor wie ein Zwölfjähriger im Schwimmunterricht, der mit einer, ja, spontanen Beule in der Hose so lange im Schwimmerbecken bleiben muss, bis alle anderen Klassenkameraden und vor allem *innen im Umkleidetrakt verschwunden sind. Und einmal war es nämlich so, dass Cordula Ackermann schon so eine Ahnung hatte und mir mit den anderen Mädchen hinter der Bademeisterloge auflauerte, als ich Minuten später als Letzter aus dem Becken stieg.

«Prange hat ’n Steifen!»

Traumatisch. Mit diesem Angstgedanken schleiche ich mich als vermeintlich vorletzter Kunde an diesem Abend, gefolgt von Butschi, an der Kasse vorbei, besser gesagt kaufe ich noch schnell eine Packung Dextro Energen und vier Fläschchen Boonekamp aus der sogenannten Quengelabteilung – wo sich mir die Frage stellt, wer da eigentlich wem gegenüber quengeln soll, wenn es um Kräuterschnaps geht –, damit man was in der Hand hat und nicht einfach so durchgeht, und Micki kann so was immer brauchen.

Butschi ist sicher, die Jungs aus seiner Klasse sind weg. Mir aber wird tatsächlich aufgelauert.

Ich erkenne von Weitem Dörte in meinem Auto sitzen, völlig verloren auf dem riesigen, geleerten Parkplatz, und an der Einkaufswagenrückgabe steht die alte Schachtel, ich sage es jetzt einfach mal so, reiner Abwehrmechanismus, zusammen mit ihrer Tochter, und beide starren mich hasserfüllt an.

In der Hand halten sie die letzten beiden Hähnchentüten.

Der Hähnchenexpressmann hebelt seine große Hähnchenwagenklappe zu, zieht das Starkstromkabel ab und verschwindet in der Dunkelheit.