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Es ist tatsächlich alles wie früher! Ich sitze mit Micki und Butschi im Wohnzimmer – und es läuft Fußball-WM . Im Dezember! Eigentlich wollten wir den Scheiß in Katar boykottieren, aber am Ende ist man ja auch nur Mensch. Und Mann. Man quält sich dann in so ein Ereignis rein wie in eine Tüte Erdnusswürmer, bei der man sich ja auch verspricht, sie auf keinen Fall aufzureißen, weil die das letzte Mal schon langweilig geschmeckt haben. Und dann knibbelt man irgendwann doch an der Verpackung rum, nimmt sich den ersten und kaut schon fast angewidert drauf rum – ist jedenfalls bei mir fast immer so –, schaufelt man sich irgendwann doch eine ganze Handvoll rein, und am Ende schüttet man sich die ganze Tüte in den aufgerissenen Rachen und tupft mit feuchter Fingerkuppe Krümel von seinem Pullover. Die stufenweise Ekstase. Und genau so ist es dieses Jahr auch mit der WM gelaufen. Und der Fußball selber ist mir fast egal. Ich sitze hier wieder, wie es sich gehört.

Micki guckt, die Füße auf meiner Sofalehne, ich gucke mit, und Butschi ist nur körperlich anwesend. Er spielt auf seinem Handy. Die Playstation muss ruhen, weil wir brauchen den Fernseher auch mal. Sieht er ein.

Für Paketboten ist so eine WM in der Vorweihnachtszeit natürlich eine Katastrophe. Die Auslieferung zieht sich meistens doch über den Anpfiff vom Abendspiel hinweg, und ich habe mich drauf eingelassen, die Spiele zu streamen, damit ich auf Pause drücken kann, bis Micki entspannt auf meinem Sofa sitzt.

«Kommst du zehn Minuten später! Machst du Pause?»

Eigentlich habe ich mich langsam dran gewöhnt, dass er mit «du» mich, aber auch sich selbst meint, aber in manchen Satzkombinationen ist es immer noch schwierig. Egal.

Ich setze mir dann Kopfhörer mit Musik auf, damit ich keine verräterischen Geräusche bzw. Jubelarien aus den anderen Wohnungen hören kann. Die WG über mir guckt nämlich auch regelmäßig. Und wenn ich Rod Stewart auf dem Ohr habe und meine Wohnzimmerlampe zittern sehe, kann das bedeuten, dass tatsächlich ein Tor für Deutschland gefallen ist oder sonst wen, weil diese Typen über mir jede Mannschaft gut finden. Oder der Hackenläufer stampft gerade über den Flur, um neues Bier aus dem Kühlschrank zu holen. Dieser Interpretationsspielraum lässt mich diese Situation dann einigermaßen ertragen.

Ich hatte eh schon Ärger mit der WG , weil die an der Sat-Schüssel hängen und ihr TV -Signal fast eine halbe Minute eher kommt als meins, und wenn die dann oben jubeln, während bei mir unten noch der Ball ins Aus geht, der dann zur Ecke führt, die dann erst das Tor einleitet, kann ich schon mal die Nerven verlieren. Dann gehe ich auch schon mal hoch.

«Könntet ihr bitte leiser jubeln. Geht das? Oder einfach gar nicht?»

«Hä?»

«Ich guck das Spiel auch und möchte mich zum richtigen Zeitpunkt freuen oder ärgern können. Ist das so schwer?»

«Ist doch normal. Alle schreien, wenn ’n Tor fällt.»

«Ich hab doch aber auch ’n Recht drauf, es erst dann zu erfahren, wenn auch bei mir unten das Tor fällt!»

«Ja, weiß nicht. Sorry …»

«Es versaut mir das Vergnügen!»

«Es ist doch wohl nicht verboten! Ich könnt auch extra bei Ihnen klingeln und sagen ‹1:0 für Deutschland›, das wäre auch nicht verboten.»

«Okay. Wenn das so ist, dann kann ich ja auch bei euch klingeln und euch einfach sagen, wie dieses Breaking Bad zu Ende geht, das hat nämlich meine Lebenspartnerin schon fertig geguckt, und ihr habt euch ja grad erst die Blu-Ray bestellt.»

«Woher wissen Sie das denn?»

«Ja, das Päckchen war ja bei mir. Und so was kann man ja wohl … erfühlen. Und dann klingle ich einfach und, und …»

«Wir müssen ja nicht aufmachen.»

«Dann brüll ich durch den Briefschlitz! Walter White stirbt! Auch sein Schwager Hank wird erschossen!»

Tja. Das war mir dann tatsächlich einfach so rausgerutscht. Der Hackenläufer (oder war’s der Bumser?) hat dann wortlos die Wohnungstür zugeschoben. Aber da konnte er eben mal sehen, wie das ist. Ich hatte danach das Gefühl, dass sie den Fernseher etwas leiser gedreht haben und auch in den eigenen Reaktionen etwas verhaltener waren.

Ein paar Tage später habe ich sie dann noch mal beim Nikolaussingen im Treppenhaus getroffen, und es reichte nur zu einem stummen Kopfnicken als Begrüßung. Insgesamt war die Stimmung gedrückt. Immerhin war Achtelfinale, und statt gemütlich im Wohnzimmer zu hocken, stand man im Flur und musste Tanja Kapella dabei zuhören, wie sie sopranartig eine hohe zweite Stimme über «Maria durch ein Dornwald ging» drüberzuckerte , wie sie dieses Gewiehere nennt: «Leute, macht mal ganz normal. Und ich versuch, oben noch was drüberzuzuckern

Alle im Haus wissen, was das heißt. Horst und ich waren wieder genötigt worden, als Nikolaus und Knecht Ruprecht den Kindern aus dem Goldenen Buch vorzutragen, was im abgelaufenen Jahr eher schlecht lief, und schon fast aus Tradition heraus habe ich mir dann auch noch die einen oder anderen Erwachsenen rausgepickt.

«Liebe Frau Schönenborn, Ihr neuer elektrischer Duftzerstäuber von Amazon stinkt nach Vanille und Teppichreiniger und zieht ins Treppenhaus. Lassen Sie das!»

Na ja. Am Ende saßen wir in der Wohnung vom Ökospießer und dem Blassen und haben wenigstens noch zusammen die zweite Halbzeit von einem Achtelfinale geguckt – immerhin mit Portugal. Butschi hatte sein nagelneues Deutschland-Trikot an, das ich ihm als Nikolaus höchstpersönlich geschenkt hatte, was zu erheblichem Naserümpfen seiner Mutter geführt hatte. Vielleicht fand sie es übergriffig. Vielleicht auch, weil Deutschland schon rausgeflogen ist. Ausgerechnet der Blasse vom Ökospießer hat noch entsprechende Sprüche gebracht. Als ob der Ahnung hätte. Mir egal. Es ist WM , und der Junge braucht ein Trikot. Basta. Und das hier hatte ich nun mal schon etwas zu optimistisch während der Vorrunde gekauft.

Es gab Saté-Spieße von seiner Mutter, so weit ganz lecker, Knabberkram von Dörte und mir, Würstchen in Blätterteig von Horsts Tochter und dann noch einen Bulgur-Salat vom Blassen selbst, der dann noch ewig Auskunft über dieses «unglaublich interessante» Rezept geben musste und sich in dieser fast hysterischen Nachfrage suhlte, während das Spiel lief und an Fahrt aufgenommen hatte, sodass ich schon anfing, extralaut zu husten, um die Leute dezent darauf hinzuweisen, dass man jetzt langsam auch mal die Schnauze halten könnte.

«Du kannst doch in einer fremden Wohnung den Gastgebern nicht das Sprechen verbieten!»

Dörte war ein bisschen angefressen, dabei hatte nur sie und vielleicht noch Horst überhaupt verstanden, was das sollte.

«Du, Dörte, auf der anderen Seite: Der Blasse hatte uns ja alle erst zu sich eingeladen. Mit den Worten ‹wollen wir nach dem Singen bei uns noch Fußball gucken?›.»

«Er interessiert sich doch überhaupt nicht für Fußball. Und als er das gesagt hatte, war Deutschland ja noch dabei.»

«Dann soll er’s nicht sagen. Dann soll er fragen, ob wir mit zu denen in die Wohnung wollen, wo er uns dann mit seinem Bulgur-Salat vollquatschen kann!»

«Mit Gemüsebrühe. Hätt ich nicht gedacht.»

«Jetzt hör doch auf. Er hat uns zum Fußballgucken eingeladen. Dieses Leistungsversprechen hat er nicht eingehalten. Und dann kann ich das reklamieren. Wie in einem Hotel. Auch in einer fremden Wohnung! Silke hat mich mal darüber aufgeklärt.»

Ist doch wahr. Dörte guckt mich eine Weile an, direkt in die Augen, und fängt dann irgendwann einfach zu lächeln an und krault meinen Kopf.

«Ach Ralfi, du bist mir ’ne Marke.»

Meine Schwester meint häufiger mal kopfschüttelnd, dass sie auch nicht weiß, was Dörte an mir findet, und dass sie mir wahrscheinlich erotisch verfallen ist. Und dann bekommt Silke einen irgendwo verletzenden Lachanfall. Aber die Wahrheit über Dörte ist: Es ist einfach diese grenzenlose Toleranz von dieser Frau! Das wird meine Schwester nie verstehen, und es tut mir auf der einen Seite unglaublich leid, dass sie jetzt in diesem Augenblick immer noch für Hermes Weihnachtspakete ausfährt und sie auch niemals von mir verlangen würde, mit dem Spielbeginn auf sie zu warten, während DHL -Micki schon seine Beine auf meinem Sofa ausstreckt. Auf der anderen Seite, und ich bin nicht stolz drauf (!), genieße ich es! Nicht wegen oder gegen Dörte, sondern für meine Jungs und diesen kleinen Ausflug in mein altes Leben, auch wenn meine Schwester immer rumlästert, dass das ja wohl auch nicht mein gewohntes altes Leben ist, das mit Micki und Butschi, sondern höchstens erst seit einem Jahr.

«Dein gewohntes Leben, Ralf Prange, das ist das Alleinsein! Alleine Fußball gucken. Nur mit deinem versauten Vogel.»

«Woher willst du das wissen?»

«Mit wem hast du denn bitte schön geguckt, bevor du den Jungen und diesen Postmann kanntest?»

«Paketmann.»

«… Paketmann kanntest.»

«Mit einigen.»

«Aha.»

«Ist so. Manchmal Horst zum Beispiel.»

Die Wahrheit ist ja, dass man mit Horst überhaupt nicht Fußball gucken kann. Der sabbelt die ganze Zeit! Und er zusammen mit Micki und Butschi? Nee! Das verwässert.

«Ralfi! Du kannst die Leute, an denen dir was liegt, nicht in Freizeitkategorien einteilen», sagt Silke dann immer. «Was weiß ich, Fußballgucken und Abhängen mit dem Paketmann und dem Jungen, Kriminalfälle im Haus mit Horst, Familienkram mit mir und romantische Zweisamkeit mit Dörte.»

«Wir gehen auch gerne zusammen in Baumärkte, Dörte und ich.»

«Du weißt ja wohl, was ich meine. Du musst die Dinge in deinem Leben auch mal zusammenführen.»

«Das stresst mich. Wenn du und Dörte gleichzeitig da seid, dann tut ihr euch immer gegen mich zusammen. Und wenn Dörte mit uns Fußball guckt, dann ist Micki nicht Micki und Butschi nicht Butschi und Dörte letztlich auch nicht Dörte, und ich bin dann sowieso schon mal gar nicht ich.»

Ist tatsächlich so. Vielleicht gibt es ja den Prange-Prange, den Micki-und-Butschi-Prange und den Dörte-Prange, und solange ich nicht weiß, welcher mir selber am besten gefällt, will ich das lieber mal gar nicht zu doll mischen.

Jetzt genieße ich auf jeden Fall erst mal. Der Ball ist gerade im Aus, und ich nutze die kleine Pause, um Micki nach seinen Weihnachtsplänen auszuhorchen. So weit haben wir uns als Fußball-TV -Partner nämlich schon eingespielt: Wir antizipieren das Spiel, wie man heutzutage sagt, also wir sehen gewisse Spielsituationen voraus und passen unsere Gespräche dem Geschehen an. Der Spieler im Fernseher holt sich noch den Ball für den Einwurf, und Micki «timt» seine Antwort.

«Gehst du Familie. Erste Tag Mama. Zweite Tag Mama und Verlobte. Dritte Tag Kopfweh. Aua, aua, aua.»

Er lacht, schnaubt in seine Bierflasche – und dann wird der Einwurf auch schon ausgeführt. Und wenn die Antwort mal länger dauert, dann unterbricht er eben, sobald das Spiel weiterläuft.

«In Heimat gehst du Wald mit Papa und Opa und Onkel zu holen Baum und schießt du wilde Schwein und ziehst du in Garage Schwein Pullover aus für Braten. Hängst du …»

Pause. Der Spieler läuft zur Ecke an. Der Ball liegt in der Luft. Ein anderer Spieler köpft. Der Torwart hält.

«Karnickel …»

Der Torwart wirft sich den Ball auf den Fuß und schlägt ab. Ins Aus.

«… Karnickel an Decke zu bluten. Und schimpfen Verlobte, wenn auf Auto tropft.»

Und dann murmelt er in den folgenden Einwurf noch so was wie «Babski» rein, was wohl so viel wie «Weiber» heißt, und schüttelt lachend den Kopf dabei.

So ist Micki. Oder besser gesagt der Prange-Micki. Weil an seinem Pullover hängt ein kleiner leuchtender Weihnachtsengel, den er von seiner Verlobten geschenkt bekommen hat, und an der Kette, die aus seinem Kragen rausbaumelt, ist ein kleiner silberner Herz-Anhänger mit dem Namenszug «Danka» dran, was wohl die Koseform von Danuta sein soll. Und das ist dann der Danka-Micki, der insgeheim eine ziemlich romantische Ader hat. Was er natürlich nie zugeben würde.

«Und Prange? Machst du Weihnachten Schwester oder machst du Freundin?»

«Wahrscheinlich Schwester. An Heiligabend. Und Freundin dann am Ersten abends wieder hier in Hamburg. Dörte ist Heiligabend bei ihrem Vater, von daher. Ist mir aber auch ganz recht, wenn ich sie nicht bei meiner Schwester hab.»

«Bist du immer kleine Bruder von große Schwester. Raaaaalfi …»

Er schnaubt und lacht sich schlapp.

«Prange! Bist du im Stress. Bist du anders, wenn Miezekatze da.»

Ich hasse es, wenn er Dörte oder auch seine eigene Verlobte Miezekatze nennt. Das hat ihm mal irgendein Brummifahrer in einem Imbiss beigebracht. Aber es ist wohl das erste Mal, dass Mickis Aussage und das «Du» sowohl auf mich als auch auf ihn selbst zutrifft und seine grammatikalische Unwucht völlig egal ist. Einmal hab ich ihn mit seiner Danuta am Zuckerwattestand auf dem Sommerdom getroffen, als ich mir Schoko-Weintrauben am Spieß zum Mitnehmen für zu Hause holen wollte, obwohl Dörte immer meint, so was muss man vor Ort auf dem Jahrmarkt essen, sonst ist es nicht dasselbe, aber ich finde, zu Hause kann man beim Essen wenigstens gemütlich fernsehen, und wenn man mit dem Spieß im Hals über den Dom läuft, ist das viel zu gefährlich, weil es rappelvoll ist. Auf jeden Fall bin ich mit der U3 zum Dom gefahren und traf die beiden, und er hatte seinen Arm um sie gelegt und seinen Daumen in ihre Arschtasche an der Jeans gesteckt, und sie genauso bei ihm in seiner DHL -Hose. Und er hatte Gel im Haar. So ist das also, wenn der feine Herr Micki Verlobten-Besuch aus der Heimat bekommt. Gel im Haar!

«Du bist doch auch anders, Micki, wenn deine da ist.»

«Was? Bist du ja wohl schlimmer!»

Er lacht völlig empört auf.

«Na und? Du aber auch.»

Er schüttelt gespielt den Kopf, und es entsteht eine kleine Pause, in der wir beide versuchen, möglichst leise und bewegungsarm die Chips aus der Tüte zu fummeln. Wäre Dörte jetzt da, hätte ich sie wahrscheinlich in kleine Snackschüsseln gekippt. Stehe ich zu.

«Weißt du, Micki? Es gefällt mir halt, wenn ich bei Dörte noch so was wie ’ne weiße Weste hab. Wenn ich bei ihr eben noch ’n bisschen was Besonderes hab. Also für mich selbst auch. Weißt, wie ich meine?»

Ist doch so. Der Dörte-Prange ist für mich irgendwo der bessere Prange. Wenn man in eine frische Beziehung startet und sich Mühe gibt, dann ist das, wie wenn man früher in der Schule ein neues Heft anfängt. Schneeweiß. Ohne Eselsohren, noch. Alles in Schönschrift. Und man versucht, wenigstens bis Seite zehn ohne Tintenkiller auszukommen oder Kakaoflecken. Und die weiße Weste bei Dörte heißt eben, dass ich noch keine Ketchup-Flecken auf dem Poloshirt hatte, dass ich noch nie für Klein auf dem Klo saß, während sie sich die Zähne geputzt hat – was bei meiner Schwester Silke durchaus mal vorkommen kann, so nah sind wir uns dann doch –, dass ich mich anstrenge und regelrecht darauf konzentriere, mir vor Dörte niemals, auch nicht unterbewusst, meine Nasenhaare zu richten, weil es wie Popeln aussieht, auch wenn es das überhaupt nicht ist. Was völlig anderes! Aber egal. Ich habe auch noch nie in ihrem Beisein die Zahnpastatube leer gesaugt – und gefurzt habe ich auch nie vor ihr. Und das soll möglichst lange so bleiben. Und wenn dann eben solche Typen wie Micki und Silke mich mit meinem Micki-Ich und meinem Silke-Ich konfrontieren – vor Dörte –, dann ist das ein Einbruch in unser Paradies. Und stresst mich total. Ist so.

Als ich jung war, gab es diesen Film mit der Blauen Lagune, wo Brooke Shields und dieser Blonde auf der einsamen Insel waren und verliebt und alles. Und er hatte so eine richtige Scheißfrisur, so eine blonde Dauerwelle wie später Thomas von Heesen vom HSV . Selbst in der Bravo wurde damals nur über die heiße Brooke Shields geschrieben. Es weiß auch keiner mehr, wie dieser Schauspieler hieß. Das Ding ist: Nur, weil die die ganze Zeit zu zweit waren in dieser Lagune, hat das überhaupt so lange funktioniert mit den beiden. Wären da noch andere dabei gewesen, hätten die jeden Tag über diese Scheißfrisur hergezogen. Und wenn meine Schwester bei uns wohnen würde, kämen jeden Tag irgendwelche alten Storys auf den Tisch wie die, wo mir bei Hagenbeck mal der Elefant mit dem Rüssel eine Backpfeife gegeben hat, eine richtige Schelle, obwohl ich gar nichts gemacht hatte. Und dann würde Silke wieder sagen, dass ich irgendwas wohl gemacht haben muss , weil, ohne Grund würden Elefanten so was nicht tun, und ob ich vielleicht das Trinkgeld für den Tiertrainer, das unsere Mutter mir gegeben hatte, im letzten Augenblick zurückgezogen hätte, als der Elefant gerade danach schnappen wollte, weil ich zu geizig war, und er wäre deshalb sauer gewesen und hätte mir deshalb eine geballert – und dann lachen wieder alle über eine Seite von mir, an die ich mich sowieso nicht richtig erinnern kann und die mir, auch wenn sie wahrscheinlich erfunden ist, heute peinlich ist. Ich möchte einfach nicht, dass meine neue Freundin so was über mich erfährt.

«Bräute! Kannst du nicht mit ihnen, aber auch kannst du nicht ohne sie!»

Micki knufft mich kumpelhaft in die Seite.

«Ja, frag mich mal.»

Wie aus dem Nichts schaltet sich Butschi in unser Gespräch ein, und Micki und ich gucken uns einigermaßen erstaunt an.

«Ist doch so.»

«Was hast du denn für ’n Problem, Butschi?»

«Wieso? Nur so.»

«Hast du Ärger mit Pina?»

«Die meckert auch immer nur. Und sagt, dass ich doof bin, wenn die Jungs aus meiner Klasse in der Nähe sind.»

«Diese Idioten? Diese Idioten aus deiner Klasse? Die vom Flohmarkt? Die dir neulich auch im Supermarkt gefolgt sind?»

«Kann sein …»

Er wird rot. Seine Schläfen pochen.

«Die ärgern dich doch. Hab ich doch gesehen.»

«Kann sein …»

«Aha. Oha.»

«Und wenn Pina dabei ist, sowieso immer doller. Und wenn ich dann sag, dass sie abhauen soll, damit sie das nicht mitkriegt, dann ist sie sauer auf mich.»

«Mmh.»

«Aber es nützt ja nix.»

«Mmh.»

Selbst Micki ist jetzt ganz ruhig und schaltet den Ton vom Fernseher ab. Wir beide schauen auf Butschi, der wie ein Häufchen Elend im Schneidersitz auf dem Teppich zusammensackt und unmotiviert auf seinem Handy rumwischt.

«Sonst verkloppen die mich wieder.»

Das Fußballspiel läuft ohne Ton. Eine Spielertraube geht im Fernseher auf den Schiedsrichter zu, und vor uns sitzt unser kleiner achtjähriger Freund, der gemobbt wird und sich deshalb nicht zu der einzigen Freundin, die er in seinem Alter hat, bekennen mag. Seinen Eltern hat er nichts erzählt, sagte er. Das ist Angst-Butschi. Und ich kann den Moment kaum aushalten.

In die Stille hinein hört man von oben plötzlich Torjubel.

In rund zwanzig Minuten werden wir dann auch wissen, für wen.