«Frank? Hörst du mich?»
Es ist der 1. Februar um zwanzig nach zehn, und ich habe jetzt echt so langsam keinen Bock mehr. Aber das kommt davon, wenn man sich der Nachbarschaft öffnet. Dann hat man die hier hocken und ist gefangen in der eigenen Wohnung. Frank Kapella sitzt eingeschlossen auf meinem Klo, und ich versuche, über das Schlüsselloch Kontakt mit ihm aufzunehmen. Ich knie vor der Tür und kann ihn gerade noch am Schlüsselbart vorbei erkennen, wie er da so bewegungslos auf der Schüssel hockt, mit dem Kopf an der Fliesenwand – und pennt. Das muss man sich mal vorstellen. Ich habe schon gegen die Tür gehämmert und auf seinem Handy angerufen, das in seiner Hosentasche steckt. Vergeblich. Frank Kapella ist weggetreten, und seine Frau ist auf unserem Sofa eingenickt, wo Dörte ihr gerade eine Decke über die Beine legt.
Und das Bittere ist: Ausgerechnet heute hatten Dörte und ich etwas Schönes vor. Nach dem Museumsbesuch hat sie mich nämlich einigermaßen zusammengefaltet, von wegen ich hätte ihr mit meiner Aktion das ganze Erlebnis versaut und ich wüsste manchmal einfach nicht, wann auch mal gut ist. Ich sehe das zwar immer noch anders, aber habe einfach mal taktisch klein beigegeben. Es ist nicht so, dass ich mich selbst nicht einschätzen könnte. Ich weiß das alles. Aber wenn diese Leute im Museum mir so doof kommen – man darf ja wohl noch fragen! Jedenfalls wollte ich mich auch mal wieder von meiner romantischeren Seite zeigen und habe einen schönen Abend ausbaldowert:
«16.00 Uhr Feierabend Dörte, zwei Stunden quality time z. fr. Vfg. – 18.00 Uhr Baumarkt, Angebote gucken mit Anschluss-Wurst – 20.00 Uhr Mundsburg-Kino, freie Filmwahl – 22.30 Uhr Sekt N.N. – 23.00 Uhr Heimkehr.»
Das hatte ich in Schönschrift auf einem Stück Büttenpapier notiert, das noch aus dem Bastel-Nachlass meiner Mutter stammt, und fein säuberlich als Präsent zusammengerollt und verschnürt. Sah richtig gut aus. Und Dörte war ganz angetan. Es war kurz nach vier, und wir guckten zusammen ein bisschen die Rosenheim-Cops , und ich knetete ihr nach neuesten Techniken, die ich mir im Internet angeguckt hatte, den Nacken, der ihr noch von der Schicht wehtat. Stichwort: Partnermassagen. Wobei der Unterschied zwischen Partnermassagen und dem Geknete in der Physiopraxis eigentlich nur in Druck und Tempo liegt. Die vermeintlich erotische Komponente, vor allem am Nacken, hat sich mir noch nicht in Gänze erschlossen. Einen alten kranken Hund würde ich wahrscheinlich genauso massieren. Aber ich ahne, wie es gemeint ist. Das Kribbeln soll wohl auch eher beim Massagenehmer liegen, und ich selbst bekomme ja schon Gänsehaut, wenn mir die Friseurin das Kreppband um den Hals legt und glatt streift. Ist so.
«Du machst das richtig gut, Ralfi.»
«Nicht mehr böse wegen dem Museum gestern?»
«Ich war ja nicht wegen dem Museum böse …»
«Weißt ja, wie ich mein.»
«Alles gut.»
Und tatsächlich entstand in dem Augenblick eine erotische Situation, als wir da immer gehauchter und dem Rhythmus der Massage folgend miteinander am Quatschen waren.
«Aber gestern warst du böse …»
«Böse war ich?»
«Ja. Richtig böse. Ein richtig böser…»
Und da klingelte das. Und gleich hinterher ein Bollern an der Tür, als ob man nicht mal zwei Sekunden warten kann, bis einer nach vorne zum Öffnen kommt.
Die Kapellas!
Bestens gelaunt standen beide mit zwei Sektflaschen und einer Aperol-Kopie vom Discounter vor der Tür.
«Bei uns gibt’s heute was zu feiern, und da dachten wir, wir kommen einfach mal spontan vorbei. Aber wenn euch das jetzt gar nicht passt, müsst ihr sagen.»
Aber da war Tanja Kapella schon an mir vorbei ins Wohnzimmer zu Dörte gehuscht.
«Na, Süße? Feierabend?»
Sie nennen sich jetzt gegenseitig «Süße», und das ist für mich so abtörnend und ätzend, meine Freundin dabei zu erleben, als wenn sie plötzlich Mundgeruch hätte. Ich finde es jedenfalls deutlich unangenehmer, jemanden in der Öffentlichkeit «Süße» zu nennen, als jemanden im Museum anzugehen, der sich in eine private Führung reinzeckt. Meine Meinung. Es ist einfach die Spur Tussihaftigkeit, die Dörte entfaltet, wenn sie mit Tanja Kapella zusammen ist. Es passt einfach nicht, und ich hatte da schon die schlimmste Ahnung, als ich hinter Frank die Tür schloss und das Korkenploppen aus dem Wohnzimmer gehört habe.
«Tag eins in Freiheit! Einen Monat haben wir Basenfasten gemacht und uns echt niiichts gegönnt. Und jetzt ist’s vorbei. Das muss man feiern!»
Tanja Kapella ist völlig manisch. Auf diesen Tag hat sie offenbar hingearbeitet. Unter größtmöglichem Mitteilungsbedürfnis hat das Ehepaar das Fasten-Projekt durchgezogen. Silvester hatten sie sich noch mal ordentlich die Kante gegeben, um dann mit einem letzten Konterbier am ersten Januar – «weil am ersten Januar darf man noch» – in die Enthaltsamkeit zu gleiten. Immerhin keine Kohlsuppendiät. Die ersten Januartage waren unerträglich im Treppenhaus, weil’s aus der Wohnung vom Ökospießer und seinem Blassen wieder mal nach innerer Verwesung roch. Was haben die nur alle mit diesem Fasten? Butschi war auch schon ganz gestresst, weil seine Mutter der ganzen Familie zum neuen Jahr zwei Wochen «Medien-Fasten» verordnet hatte, was dazu führte, dass der arme Junge noch häufiger bei mir zu Hause zum Daddeln abhängen musste. Bei ihm wartete jeden Abend eine Partie Jenga mit den Eltern, was ihm normalerweise richtig Spaß macht, aber die aufgesetzte Ausgelassenheit seiner Mutter geht ihm dabei wohl mächtig auf den Sack.
Bei Tanja und Frank Kapella war das einmonatige Basenfasten nicht nur für Leber und Figur gedacht, sondern das gemeinsame Projekt sollte sie auch als Paar wieder näher zusammenbringen – daher hatten sie einen Begleitkurs in der Volkshochschule gebucht.
«Ich hätte gar nicht gedacht, wie viel mir das geben kann, zusammen mit meinem Mann dieses Projekt gemeinsam auszuarbeiten.»
«Acht Kilo!»
Frank Kapella greift in seinen in der Tat flacheren Bauch.
«Fünf Kilo!»
Tanja Kapella streift mit ihren Händen die Hüften entlang und schiebt nach:
«Weniger Gewicht, aber ganz viel mehr Liebe!»
Ich wollte da schon kotzen, aber sie streichelte dann auch noch sein Knie, und beide gaben sich – auf meinem Sofa, auf unserem Sofa! – einen Kuss, der sich nach gefühlten zwei Sekunden in einen offenen Zungenkuss verwandelt hat. Und dann haut sie ihm noch gespielt empört und mit Kopfschütteln auf den Oberarm. Danach hielten sie demonstrativ Händchen und lösten den Griff nur, um sich Sekt nachzuschenken.
«Leute, Dörte und ich sollen aber noch in den Baumarkt nachher.»
«Ach Ralf, ist doch nur ’n kleines Belohnungs-Sektchen für einen Monat Arbeit am Körper und an der Liebe.»
Und schon fummelte Tanja Kapella wieder an ihrem Mann rum. Und plötzlich spürte ich Dörtes Hand in meiner. Händchenhalten auf dem Sofa – was soll das eigentlich? Wie zwei Kindergartenkinder, die von der Kindergärtnerin im Bus nebeneinandergesetzt werden. Und dann stand sie auf, um noch eine Tüte Erdnusswürmer aus dem Schrank zu holen, weil jetzt dürfen die Kapellas ja endlich wieder, und als sie zurückkam, hat sie sich dann sogar auf meinen Schoß gesetzt, und es war tatsächlich das erste Mal für mich, dass ich eine Lebensgefährtin von mir vor anderen auf dem Schoß sitzen habe.
«Na, ihr zwei könnt wohl auch nicht voneinander lassen», lallte Tanja Kapella schon leicht.
«Warum auch?»
Und damit gab Dörte mir einen Kuss auf die Wange und wuschelte mit ihrer Hand durch mein Haar. Ich kam mir vor wie beim Flaschendrehen. Der eigentliche Zweck dieser Übungen dämmerte mir erst langsam: Dörte wollte mit den Kapellas in eine Art Zweikampf darum gehen, wer hier das bessere Paar ist. Vielleicht brauchte sie das auch für sich selbst, nachdem unser letzter gemeinsamer Paar-Ausflug im Museum in die Hose gegangen war.
«Ralf hat mir ein Parfüm geschenkt, riech mal, Tanja!»
«Mmmh, riecht gut.»
«Er hat’s genau getroffen. Einhundertprozent Dörte Krampitz. Volltreffer. Obwohl, nee, Ralf: Du bist ja mein Volltreffer!»
Und dann hat sie mich noch mal auf die Wange geküsst, und Tanja Kapella stieg auch langsam auf den Schoß von ihrem Fränkie. Zwischendurch wurde ordentlich in die Erdnusswürmer gegriffen und Sekt nachgekippt, und es war schon kurz vor sechs, als ich zaghaft anmerkte, dass wir langsam losmüssten, aber Dörte passte unser Abendprogramm dahin gehend an, dass wir auch noch gegen sieben im Baumarkt aufschlagen könnten, um Angebote zu gucken und danach statt der Bratwurst gleich mit Nachos mit Käsesoße im Kino als Abendbrot weiterzumachen. Na toll. Der Sekt war da schon alle.
Die Kapellas hatten einen unglaublichen Zug am Leib, und nach einem Monat Basenfasten braucht man wohl auch nicht so viel, und nachdem Fränkie im Anschluss an seinen ersten Toilettengang völlig unbemerkt nach oben in seine Wohnung gekrabbelt war, um noch ein bisschen Gin und zimmerwarmes Tonicwater mitzubringen, war der weitere Ausgang der Sache fast klar. Es war halb sieben, und beide Kapellas waren mächtig breit, und von zur Schau gestellten Zärtlichkeiten war keine Rede mehr.
«Awwerwiegesacht! Einma in Jahr ssssganssse Syssem einma runnerfahn – sss tut sooo gut. Glau mir dasssma, Ralf …»
Dann ist Frank aufgestanden, hat sich mit der Hand auf der Erdnusswürmertüte abgestützt, ist in den Flur gewankt, hat mit seiner Hüfte noch ein Päckchen vom italienischen Feinkostversand für den Blassen im Dritten vom Sideboard geräumt und ist im Klo verschwunden. Kurz vor sieben wollten Dörte und ich uns dann fertig machen für Baumarkt und Kino und fragten Tanja Kapella vorsichtig nach ihrem Mann. Wir standen schon in Jacken im Flur, und Tanja klopfte an die Klotür – aber nix.
«Nicht, dass ihm was passiert ist», meinte Dörte, und allein der Gedanke daran hat mir einen Stich mit der Gewissheit versetzt, dass wir uns unseren schönen Abend von der Backe schmieren können.
«Fränkie? Frank? Fra-hank!»
Doch Frank Kapella reagierte überhaupt nicht auf das immer hysterischere Gewieher seiner Frau. Mal ganz abgesehen davon, dass ich auch noch mal auf die Toilette wollte, war die Situation einigermaßen angespannt. Es hätte ja sein können, dass er auf der Toilette tot zusammengebrochen ist, wie damals Elvis. Keine Ahnung. Ich kam mir ein bisschen bescheuert vor, meinen Nachbarn durchs Schlüsselloch auf der Toilette zu beobachten, aber Tanja Kapella war eindeutig zu besoffen dazu, und Dörte wollte ich das nicht zumuten. Wer weiß denn schon in dem Moment, welcher Anblick einen da erwarten kann.
Frank Kapella lehnte regungslos, wie jetzt auch immer noch, an den Fliesen. Drei, vier Minuten starrte ich ihn an.
«Macht er was?»
«Abwarten.»
«Atmet er?»
«Jetzt wartet doch ma!»
Und dann plötzlich ein gackernder kurzer Schnarcher. Sein Brustkorb hob und senkte sich in langen Bewegungen. Er lebt! Besoffen auf meinem Klo eingepennt und auch wirklich nach mehrmaligem Poltern und Klopfen nicht aufzuwecken.
«Na, ein Glück!», hörten wir seine Frau noch kurz lallen, bevor sie zurück ins Wohnzimmer getorkelt ist, wo sie sich aufs Sofa fallen ließ und seitdem ebenfalls pennt.
«Ja toll. Ich will aber in den Baumarkt fahren und dann ins Kino!»
«Ralf. Wir können die hier doch nicht liegen lassen.»
«Was können wir denn bitte schön dafür, dass die sich einen reinhauen und sich dann ablegen?! Dann bin ich ja Gefangener in meiner eigenen Wohnung!»
Berni war auch schon ganz aufgescheucht durch so viel Aktion am Nachmittag und spulte sein ganzes Fäkalwörter-Programm ab. Auch nicht hilfreich!
«Man muss auf die aufpassen irgendwie.»
«Zu Hause würden sie doch auch angesoffen rumliegen.»
«Dann haben wir aber nicht die Verantwortung.»
«Ja, so weit kommt das noch, dass ich die Verantwortung hab.»
«Weißt ja, wie ich meine.»
«Ich könnte Horst fragen, ob er sich hier vielleicht hinsetzt, während wir im Kino sind.»
«Als Babysitter, oder wie?»
«Bei seiner Tochter setzt er sich auch manchmal hin, wenn die was unternehmen wollen.»
«Das ist ja auch sein Enkel. Dann müssen wir ihn bezahlen. Was kostet so was? 12 bis 15 Euro, so was?»
«Ich bezahl doch nicht Horst Rohde als Babysitter für die Kapellas, die sich in meiner Wohnung ungefragt zum Pennen ablegen!»
«Du kannst dir das ja von Tanja und Frank wieder holen.»
«Es geht ums Prinzip, Dörte!»
«Dann eben nicht.»
Es ist gerade mal eine Stunde her, dass sie auf meinem Schoß gesessen hat, aber jetzt kippt die Stimmung langsam. Dabei hatten wir den Kapellas ein Zeitlimit mitgeteilt. 18 Uhr! Das würde ich sowieso gerne immer so handhaben, wenn man Besuch zu Hause hat: Bitte nur bis 22 Uhr. Bitte nur bis Mitternacht. So was. Dann wissen alle gleich, woran sie sind – wenn es sich nicht gerade um die Kapellas handelt.
Butschi ist in dieser Hinsicht angenehm. Den kümmern irgendwelche Zeitlimits zwar einen Scheißdreck, aber er verhält sich dann auch wie ein Möbelstück, das vielleicht mal im Weg ist, wenn man staubsaugen will, aber nicht weiter stört, wenn er da so vorm Fernseher hockt und still Playstation spielt. Er ist also im wahrsten Sinne des Wortes ein Hocker. Und davon fühle ich mich auch nicht beeinträchtigt in meiner Entfaltung. Ist doch so. Frank Kapella sitzt pennend auf meinem Klo und hat die Tür abgeschlossen. Das ist eine Beeinträchtigung. Vielleicht bin ich aber auch traumatisch vorbelastet.
Als ich elf Jahre alt war, haben meine Eltern mit einem befreundeten Paar das Wochenende in Berlin verbracht, um als Studiopublikum an der Hitparade teilzunehmen. Die achtundneunzigste Ausgabe um genau 19 Uhr und 31 Minuten, wie Dieter Thomas Heck gleich am Anfang verkündete. Die Karten hatte mein Vater auf der Internationalen Funkausstellung gewonnen, und Silke und ich waren schon etwas verwundert, dass dieses andere Paar mitdurfte und wir nicht. Ich war beleidigt und meine Schwester hocherfreut. Sturmfreie Bude gegen das Versprechen, auf «Ralfilein» aufzupassen.
Die Eltern waren kaum weg, da tauchte schon Astrid auf, die beste Freundin von Silke, und brachte zwei Flaschen Persiko und zwei Flaschen Kellergeister mit, und ich bekam von jedem der bald eintreffenden Partygäste zwei Mark, damit ich das Ganze nicht ausplaudere.
Dann wurde vorgeglüht, wie man heute sagen würde, damit die Clique einigermaßen angeschickert in die nächste Disco gehen kann. Wenigstens bis Mitternacht. Und da ich auch das für mich behalten sollte, wurde mir in Aussicht gestellt, dass die ganze Bagage um zehn den Abflug macht und ich ganz allein und ohne dümmliche Kommentare Sport-Studio gucken darf. Win-win.
Wir haben uns alle beömmelt, als plötzlich bei dem Lied «Bleib nicht allein» meine Eltern am Gang sitzend neben Tony Marshall auftauchten. Unfassbar. Der ganze Saal war am Schunkeln, nur meine Eltern blieben wie angewurzelt sitzen, aus Ehrfurcht vor den Kameras.
Die Stimmung war ausgelassen, und wie versprochen, hatte ich den Rest des Abends für mich und bin nach dem Sport-Studio brav ins Bett.
Am nächsten Morgen wollte ich wieder ins Wohnzimmer und nachschauen, was das Fernsehprogramm so hergibt – da traf mich der Schlag.
Astrid lag mit einem Jungen unter der Häkeldecke meiner Oma auf dem Sofa. So gut wie nackt. Sofort hab ich die Tür wieder zugemacht, und ich glaube auch heute noch, dass die nicht mal gemerkt hatten, dass ich im Zimmer war. Ich eilte zu meiner Schwester. Die röchelte mit dickem Kopf und meinte nur, dass ich Astrid und «Jörg» ruhig noch pennen lassen sollte. Sie selbst müsste gleich zum Handball, ist aber abends wieder da, um uns was zu essen zu machen. Die Eltern würden erst am Montag kommen.
Wenn ich Silke heute davon erzähle, und vor allem ihren Kindern, dann streitet sie das natürlich total empört ab. Ich weiß aber, dass es so war.
Mit einer nie wieder da gewesenen Kackdreistigkeit blieben Astrid und dieser Jörg den ganzen Nachmittag noch bei uns im Wohnzimmer liegen. Und um 15.20 Uhr sollte der Jerry-Lewis-Film Ein Froschmann an der Angel anfangen, den ich mir schon Tage vorher in der Hörzu angekreuzt hatte. Und ich war nicht in der Lage, ins Wohnzimmer gehen. Ich war gefangen in meinem Zimmer und habe aus lauter Langeweile Plastikstrohhalme angezündet und zusammengeklebt. Und Kopfschmerzen bekommen. Bis dann irgendwann gegen 18.30 Uhr die Wohnungstür ins Schloss fiel und Astrid samt Macker abgehauen ist. Zehn Minuten später kam Silke nach Hause, machte mir eine Dose Texas-Eintopf warm, was ich durchaus auch schon selbst hinbekommen hätte, und feierte sich als fürsorgliche Schwester. Arschlecken!
Und weil das alles so prägend sein kann, mache ich mir so Sorgen um Butschi. Der musste auch schon Erfahrungen mit Sitzfleischkandidaten machen. Und was für welche! Als er neulich seinen Geburtstag gefeiert hat, hat er zwei, drei Kinder aus seiner früheren Schule und dem Kindergarten eingeladen und außerdem diese zwei Vollidioten aus seiner jetzigen Klasse, die ihn immer ärgern und vermöbeln. Warum macht man so was?
Später hat er mir gesagt, dass seine Mutter die Idee hatte und dass ab da, wo sie das mit den anderen Müttern am Telefon besprochen hatte, schon alles zu spät war. Höhere Mächte! Auf jeden Fall haben die Arschgeigen dann stückweise den Geburtstag übernommen und nur noch die Spiele spielen wollen, in denen Butschi nicht so gut war, so was wie Knutschflecke auf den Arm saugen, und wenn die Mutter nicht dabei war, haben sie ihm Schaumküsse ins Gesicht gedrückt. Da haben sich die anderen Kinder schon längst abholen lassen. Aber die Arschgeigen hatten Sitzfleisch und wollten sowieso selbst mit dem Bus nach Hause fahren.
«Prange, es war voll der Albtraum. In meinen eigenen vier Wänden!»
«Ich weiß genau, was du meinst, Butschi.»
Diese Ohnmacht! Neben uns schnarcht Tanja Kapella. Den Gedanken, sie zu wecken, haben wir längst verworfen. Es wäre wohl auch besser, sie hier zu haben, wenn ihr Macker doch noch mal aufwacht. Vor fünf Minuten habe ich bei Horst geklingelt, ihm die ganze Misere geschildert, bin schnell aufs Klo gegangen, Dörte auch, weil da ist Horst ja schon Nachbar und verständnisvoll, und im Rausgehen habe ich einen letzten Versuch gestartet, um vielleicht wenigstes noch mal mit Dörte um den Block bummeln und sich ein Eis von der Tanke holen zu können. Wenigstens das!
«Ich weiß ja, wie spät das ist, Horst. Aber hättest du vielleicht ’ne halbe Stunde Zeit, dich zu uns zu setzen und auf die beiden aufzupassen?»
«Normal ja, ehrlich. Aber ich warte auf einen Rückruf von so einem Radiogewinnspiel, wo man Karten gewinnen kann. Santiano .»
«Seit wann stehst du denn auf die?»
«Tu ich ja nicht. Aber angucken kann man das ja mal. Und die rufen aufm Festnetz zurück, und mein Handapparat geht nicht bis zu dir.»
«Hm.»
«Sonst immer gerne. Wirklich.»
«Hm.»
Es nützt ja nix. Es ist fast halb elf, und Dörte und ich putzen in der Küche unsere Zähne mit unseren ausgedienten Zahnbürsten, die ich zum Chromputzen unter der Spüle stehen habe, die aber glücklicherweise noch nicht zum Einsatz kamen, und einem Streifen Zahnpasta, den Horst uns geliehen (!) hat. Wir schließen die Schlafzimmertür hinter uns und gucken im Bett noch leise den Rest von den Tagesthemen .
Das kommt davon, wenn man Leute kennt.