Ich weiß, ich weiß! Ich hatte mir nach dem Besuch bei der Polizei fest vorgenommen, mich nicht mehr einzumischen, weil: Es bringt nur Ärger. Tja, und jetzt weiß ich gar nicht, wie ich das erklären soll. Es ist komisch. Es fühlt sich auch komisch an. Aber es nützt nun mal nix. Die Sache läuft. Es ist halb vier am Nachmittag, und ich sitze auf dem Beifahrersitz von einem goldfolierten Mercedes AMG , der mattschwarze Schmiedefelgen mit Bronzebesatz der Marke La Chanti trägt, wie mir der Wagenbesitzer mitteilt. Meine Frage, wo denn da die Muttern sitzen, wenn man mal einen Platten hat, verhallt unbeantwortet im Anfahrts-Dröhnen nach einer roten Ampelphase. Na ja.
Der Sitz ist bequem und mit einer Doppelnaht verarbeitet. Das rote Leder wurde in einer Autosattlerei in Bramfeld genäht, erfahre ich auf Nachfrage. Was soll man mit einem Zuhälter auch sonst besprechen? Über seinen Job will ich nichts wissen, und was er nach Feierabend treibt, geht mir irgendwie am Arsch vorbei. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er mit Teststreifen den Chlorgehalt in seinem Aufstellpool bestimmt oder was andere junge Männer in seinem Alter so machen, die einen Garten – und einen Pool – haben. Ich frage nicht. Wir erledigen einen Job.
Hinter mir sitzt Micki, der nach seiner Frühschicht gleich bei mir geblieben ist, und neben ihm sitzt etwas eingequetscht Ilona aus dem Souterrain, die das alles hier eingefädelt hat.
Ich halte Dragan die Packung Eiskonfekt ins Sichtfeld, aber er lehnt ab.
«Nächste links dann bitte.»
«Geht klar.»
«Donnerwetter. In den Kurven hat er ordentlich Radlast, ne?»
«Hä?»
«Der Wagen.»
«Ja. Sowieso.»
«Meiner hat ja noch Griffe über der Tür.»
«Aha.»
«Zum Festhalten. In der Kurve. Ich mein, ich fahr es nicht aus.»
Und so gleiten wir über die Barmbeker Chaussee, und ich muss gestehen, dass dieses Auto was mit mir macht. Allein schon, dass ich vorne sitze und Micki hinten. Das findet er offensichtlich richtig scheiße, aber ich habe die ganze Sache immerhin aufgebracht, nach diesem Anruf gestern. Und deswegen.
Mein Festnetzapparat hatte geklingelt, als er unter meiner Achsel festgeklemmt war, ich mir gerade die Hose runtergelassen und mich gemütlich aufs Klo gesetzt hatte. Ich wollte auf allen Leitungen erreichbar bleiben, falls Dörte von unterwegs anruft, ob sie was vom Hähnchenwagen mitbringen soll. Auf dem Display erkannte ich sofort eine alte Barmbeker Festnetznummer aus der Zeit, als man in Hamburg noch anhand der Rufnummer erkennen konnte, aus welchem Stadtteil jemand kommt. Leute, die heute noch solche Nummern haben, genießen mein Vertrauen. Diese Leute sind telefontechnisch alter Adel. Aber denkste …
«Ich bin die Mutter von Leander. Mein Mann steht neben mir. Und wenn Sie sich nicht bei unserem Jungen entschuldigen, dann zeigen wir Sie an.»
«Wieso, was soll ich denn gemacht haben?»
Bis ich geschnallt habe, wer da am Telefon ist! Ohne Namen, ohne alles und gleich am Loslegen.
«Das wissen Sie ganz genau! Sie drohen mit dem Moskau-Team? Die Polizei ist doch längst eingeschaltet!»
«Ach so. Jetzt! Dann sind Sie die Mutter von diesem Jungen, der andere Kinder fertigmacht?»
«Wie bitte?»
«Woher wissen Sie denn sonst, dass ich damit Ihren Sohn meine?»
«Hat er uns ja erzählt! Glauben Sie, unser Sohn redet nicht mit uns?»
«Ach, dann fühlt er sich angesprochen?»
«Was wollen Sie damit andeuten?»
Ich wusste gar nicht, wen ich dümmer finden soll. Diesen Jungen, der seine hohle Dumpfheit noch (!) durch Körpergröße ausgleichen kann, was ihm später aber nichts mehr nutzen wird, da wird ihm auch der affige Vorname nicht helfen, oder eben diese hysterisch blubbernde Mutter, die im Ansatz vielleicht eine Löwin ist wie die Mutter von Butschi, nur in absolut ätzend und noch eine Spur verpeilter, was den eigenen Nachwuchs angeht. Weiß sie wirklich nicht, dass sie zu Hause ein Riesenarschlochkind hocken hat, oder will sie es nicht wissen? Ich lehnte mich gegen den Klodeckel und holte Luft.
«Ihr Sohn hat dem kleinen Malik das Trikot geklaut.»
«Was geht Sie das denn an?»
Gute Frage.
«Ich habe ihm das geschenkt.»
«Was sind Sie denn für einer? Ich habe mit der Mutter des Jungen alles längst besprochen. Die Jungen sind ja Freunde.»
«Er hat ihn verprügelt und beklaut.»
«Es sind Kinder !»
Und dabei hat sich ihre Stimme überschlagen, als wenn es hier um die Zukunft der Welt gehen würde. Und dann, tatsächlich, wurde der Hörer an das Riesenarschlochkind weitergereicht, das die ganze Woche zu Hause bleiben darf. Weil es ja so schlimmen Demütigungen durch den Aushang am Schwarzen Brett ausgesetzt war. Scheiß drauf. Ich wollte meine Ruhe haben.
«Hallo. Hier ist Ralf Prange.»
«Ja. Hallo, Herr Prange.»
Er sprach bemüht glockenhell und süß wie ein Wiener Sängerknabe. Und als ich mich dann tatsächlich entschuldigt habe, weil ich vielleicht etwas über die Stränge geschlagen bin, kroch dieser kleine Sack mit seiner Stimme durch den Hörer plötzlich ganz dicht an mein Ohr und flüsterte: «Du bist voll der Loser. Hast du wirklich gedacht, irgendeiner glaubt dir den Scheiß mit Moskau-Team und so? Du bist so cringe, Digga. Voll der Loser.»
Ich bin direkt erstarrt. Im Hintergrund schaltete sich wieder die Mutter ein, die offensichtlich nichts von dem Ausbruch ihres geliebten Leanders mitbekommen hatte.
«Geht es dir jetzt besser, Leander?»
«Ja, Mami. Darf ich fernsehen?»
Unfassbar. Das geht so nicht weiter. Nicht mit mir! Nicht mit Ralf Prange! Ich bin dann gestern Abend noch zu Ilona rüber. Ich weiß mittlerweile, wann ich bei ihr klingeln kann, ohne zu stören; der 14-Uhr-Slot ist immer am stärksten gebucht. Das kann man sich als Außenstehender kaum vorstellen, dass ausgerechnet dann die Durchschnitts-Geilheit der Bevölkerung am dollsten ihr Recht einfordert. Man vermutet wohl eher zum gemütlichen Feierabend oder so was, aber da müssen die Typen wieder frisch gestriegelt am Abendbrottisch sitzen, sagt Ilona. Leuchtet ein. Deswegen klingle ich meistens erst ab 18 Uhr bei ihr. Manchmal steht dann die Tür zu ihrem «Studio» offen, und sie fegt den Vorflur, wie eine Friseurin kurz vor Feierabend.
«Na, hast du ’n Päckchen für mich?»
Seit dem Straßenfest damals, das noch bei mir zu Hause auf dem Balkon weiterging, duzt sie mich. Ich habe mit ihr zwar nicht offiziell Brüderschaft getrunken wie mit Tanja Kapella, aber zum Abschied nahm sie mich in den Arm, und alles an ihr und mir klackerte – ihre großen Ohrringe, die langen Nägel, das Moschino -Täschchen, die Pumps, die Ketten, die Ringe, als wäre sie ein Tannenbaum, hinter dem man krabbeln muss, um die Steckdose für die Lichterkette zu finden. Und dann hat sie mir einen Kuss auf die Wange gegeben, und ich erinnere mich an das komische Gefühl, dass ihre gemachten Wimpern wie kleine Besen über mein Jochbein fegten.
«Nee, heute mal nicht. Ich komm, weil du mir ja letztes Mal … gesagt hattest … also … äh … wenn ich mal … äh … Hilfe bräuchte …»
Es fällt mir immer schwer, andere um Hilfe zu bitten, aber auf dem Bürgersteig direkt vor dem Studio einer Liebesdame ist es noch mal komplizierter, und von daher lasse ich nach jedem Wort eine kleine Pause für sie, damit sie den Satz für mich vervollständigt.
«… dann kannst du immer zu mir kommen. Hab ich gesagt. Was ist denn los, Ralf?»
«Also eigentlich ist es der kleine Scheißer, der uns braucht.»
«Verstehe. Ich hab dir ja gesagt, dass das so nicht weitergeht mit ihm.»
Und dann hat sie alles in Gang gesetzt und mir später noch eine SMS geschickt, dass Dragan uns sein Auto zur Verfügung stellen wird, aber nur, wenn er selber fährt. Das wäre dann sowieso einen Tick überzeugender, wenn so ein bulliger, volltätowierter Hüne mit Goldkettchen dabei wäre, und dass ich ihm aber den Sprit bezahlen müsste, weil der Verbrauch bei dem Auto nun wirklich nicht zu unterschätzen ist. Der Plan ist nämlich, dass wir Butschi mit dieser Zuhälterkarre von der Schule abholen, um einfach auch mal ein kleines Zeichen in der Schülerschaft zu setzen. Dann werden wir ja sehen, wer hier der Loser ist.
Vor einer halben Stunde war Treffpunkt bei uns in der Straße, also eigentlich direkt vor dem Haus, wo ich den ganzen Vormittag schon mit einem Klappstuhl und einem «Ladezone! Bitte freihalten»-Schild den Parkplatz für Dragans AMG reserviert hatte. Normalerweise rege ich mich über so was auf, aber das hier war ein Notfall. Ich stand also vorm Haus und wartete, als plötzlich Grinsegesicht Vick mit seinem Sohn auftauchte und in die Lücke wollte.
«Ist da nicht frei, Herr Prange?»
«Nein. Da kommt gleich jemand, auf den ich warte.»
«Das ist mir piepegal. Das darf man ja gar nicht. Räumen Sie bitte den Stuhl da weg?»
Dann hat er mir noch so bedeutungsvoll mit einem Briefumschlag zugewunken!
«Ich muss Ihnen sowieso gleich noch was geben, Herr Prange. Und dann müssten wir uns mal ganz in Ruhe …»
In dem Augenblick hörte ich das Blubbern hinter ihm und ein Hupen. Und als das Grinsegesicht in den Rückspiegel geguckt und Dragans AMG gesehen hat, hat er sich schnell geschlichen und vor einer Baumwurzel ein paar Meter weiter geparkt. Ich hörte sie quatschen, als sie auf unserer Bürgersteigseite langsam in unsere Richtung marschierten.
«Ich find das scheiße hier, Papa. Hier wohnen nur komische Leute.»
«Gewöhn dich dran. Meinst du, ich kauf noch ’ne Extrawohnung, weil mein verwöhnter Herr Sohn …»
Das Gespräch riss abrupt ab, als beide vor der Haustür und neben dem AMG von Dragan ankamen, wo ich gerade auf der Beifahrerseite die Tür aufgehalten hab, um eine deutlich als professionelle Liebesdame erkennbare Frau am vorgeklappten Sitz vorbei auf die Rückbank zu drücken, gefolgt von einem polnischen DHL -Fahrer, der glockenhell am Lachen war und immer nur «Bist du total bekloppt, Prange! Do przodu!» kiekste und dabei die Krümel von seinem Camembertbrötchen durch die Gegend hustete.
Das Grinsegesicht wollte noch irgendwas sagen, aber dann stieg Dragan aus dem Wagen, um Baumpollen unter seinen Wischern rauszufummeln. Und wie er da so halb über der Haube lag, waren nicht nur seine Armtattoos und die ganzen Halstattoos bis unters Kinn freigelegt, sondern auch ein Arschgeweih. Sieht man auch nicht alle Tage bei Männern. Wahrscheinlich ein Adler. Vielleicht aber auch ein Milan oder Bussard. Was weiß denn ich, bin ich Vogelkundler? Auf jeden Fall blieb das Grinsegesicht auf dem Absatz stehen, und als Dragan sich wieder in aufrechte Position gebracht hat mit seinem rötlich glänzendem Gesicht, den gegelten Igelborsten und überhaupt dieser ganzen absurden Kopfform, als hätte er einen ganzen Tilsiter senkrecht zwischen den Schultern stehen, nur in Geölt und Rot – drehte mein Vermieter um und zog seinen Sohn am Ärmel.
«Ich hab noch was im Auto vergessen.»
«Wieso … was denn, Papa?»
«Frag nicht. Geh.»
Er steckte den Briefumschlag in seine Jackentasche, und als beide so weit weg waren, dass sie davon ausgegangen sind, nicht mehr gehört zu werden: «In so ’ner Gegend bleibst du nicht, mein Sohn!»
Auch gut. Aber für solche kleinen Triumphe war keine Zeit. Wir fuhren los, und schon an der nächsten Ecke löste sich meine Nervosität. Der rechte Ellbogen wanderte wie von selbst auf die Türablage, nachdem ich die Packung Eiskonfekt aus dem Tankstellenshop von Butschis Vater aufgemacht hatte. Eiskonfekt war für mich schon immer der perfekte Reisebegleiter. Den Fahrer, zumal diesen, auf dem Weg zu Butschis Schule mit hartgekochten Eiern zu versorgen, schien mir übertrieben.
«Raaaalf?»
Ich habe Dörtes Stimme schon von Weitem gehört, und es dauerte noch eine kleine Weile, bis sich ihr Hermes -Lieferwagen auf der linken Abbiegerspur und unsere Zuhälterkarre rechts daneben auf Augenhöhe begegneten. Das war nun wirklich nicht eingeplant, dass meine Lebensgefährtin mich auf dieser Mission quasi «erwischt», aber sie konnte ihr Erstaunen über so manche Zusammenhänge mit mir schon immer ganz gut verbergen.
«Ach, hallo Dörte», habe ich an Dragan vorbei aus der Fahrertür in ihre Richtung gerufen, nachdem der stumm die Scheibe runtergefahren hatte, als wir an der roten Ampel zum Halten kamen.
«Wir holen grad Butschi aus der Schule ab. Er hat jetzt noch Sport.»
«Aha.»
«Ilona und Micki kennst du ja. Und das neben mir ist Herr Dragan, ein … Geschäftspartner von Ilona.»
«Guten Tag.»
«Guten Tag.»
«Ja, und du so, Dörte?»
Ich lehnte über Dragan und hielt mich mit der linken Hand am Türrahmen fest, damit ich nicht vornüber auf seinem Schoß lande. Er presste sich diskret in seinen Sitz, während ich so mit Dörte am Quatschen war. Das muss man ihm lassen: so ein steroider Tilsiterkopp, aber dann doch das nötige Feingefühl für solche Situationen.
«Ich mach gleich Mittag und fahr in den Baumarkt und wollte mal nach Farbe für den Jägerzaun gucken.»
Und dann ist die Ampel auch schon auf Grün gesprungen, und wir tauschten nur noch einen flüchtigen Abschiedsgruß aus, weil sie links abbiegen musste und wir weiter geradeaus gefahren sind. Andere Frauen hätten vielleicht Fragen gestellt, warum ihr Partner zusammen mit einem Zuhälter und einer Liebesdame in so einem Auto durch Hamburg Barmbek fährt, aber Dörte hatte ja schon immer diese Unerschrockenheit.
Die Farbe für den Jägerzaun.
Tja. Wir haben tatsächlich den Zuschlag für die Parzelle neben dem Ehepaar Jürgensen bekommen. Das Ehepaar, das zuvor dort gewohnt hatte, hat es als Paar dann doch nicht über den Winter geschafft, und vielleicht ist ein Blick über die Hecke in den Garten oder besser gesagt auf die Shiloh-Ranch der Jürgensens so was wie der Blick in die eigene Zukunft als Schrebergartenpaar, was bei einigen vielleicht den spontanen Wunsch nach sofortiger Trennung auslöst. Das ist das, was mir bei diesem ganzen Projekt am meisten Angst verursacht. Weil, einen an der Marmel haben ausnahmslos alle in diesem Kleingartenverein.
Aber ich denke mal, Dörte hat einen gut bei mir. Und der Jägerzaun bei unserer neuen Parzelle hat Grünspan. Das sieht nicht aus. Da muss ich bei.
Wir nähern uns Butschis Schule, erkennbar an den ganzen kleinen Hubbeln und Verkehrsinselchen auf der Straße, aber auch an den vielen wartenden Autos. Offene Fahrertüren und überwiegend Mütter mit übergroßen Coffee-to-go-Bechern, die sich gegen ihre SUV s lehnen. Es sieht fast ein bisschen so aus, als hätte man zwei verschiedene Spielwelten miteinander gemischt: die dicken SUV und Coffee-to-go-Becher bzw. die übergroßen Lastenräder von dem einen Hersteller mit den zu kleinen Mama-Spielfiguren von einem anderen Hersteller. Ganz genauso wie damals, als ich mit meinem Big Jim im Traummobil von der Barbie von meiner Schwester fahren wollte und der kleine Muskelmann mit seinen Füßen nicht an die Pedale von Barbies Karre rankam. Genau so sieht das aus. Kleine Mamas in viel zu großen Autos und auf viel zu großen Lastenrädern.
Wir fahren an der Abholschlange vorbei nach vorne zum Schultor, dann noch hundert Meter weiter, wo wir wenden und wieder zurückfahren, natürlich in Schritt-Tempo (!) und – wieder von vorn. Genau wie die ganzen Autoposer früher auf dem Jungfernstieg! Und es dauert wirklich keine zwei Runden, bis all die Mütter und, okay, auch einige Väter, die aber durchaus als Großväter durchgehen könnten, hätten sie nicht diese angeblich so geilen veganen Turnschuhe an, ihre Hälse und Handys recken wie eine Horde empörter Erdmännchen.
«Hallo zusammen! Hab heute Nachmittag ein Zuhälterauto vor der Schule von unserem Liebling auf und ab fahren sehen. Wollte euch nur warnen.»
So oder so ähnlich stell ich mir das später in unserer Stadtteilgruppe auf Facebook vor, und ich weiß auch nicht genau, welcher Teufel mich da reitet. Manchmal frag ich mich, was wohl geworden wär, wenn ich Butschi damals, als er für mich noch das Arschlochkind war, nicht die Tür zu meiner Wohnung aufgemacht hätte. Dann würd ich jetzt vielleicht allein vor meinem Fernseher sitzen, Drehscheibe gucken und mich von Berni anmotzen lassen. Und das ist nun wirklich keine Alternative. Also nicht mehr. Freizeit hin oder Freizeit her. Am Ende geht sowieso alles von der Freizeit ab. Kannst du dich gar nicht gegen wehren.
Als es klingelt, bubbern wir langsam bis zur Feuerwehrdurchfahrt direkt vor der Schule und halten im Leerlauf.
Butschi kommt als einer der Ersten aus der Turnhalle. Gerannt. Wahrscheinlich die einzige Chance, die er hat, um schnell abzuhauen, bevor die anderen Arschgeigen aus seiner Klasse Witterung aufnehmen. Und prompt taucht auch schon dieser Leander hinter ihm auf.
«Nicht so hastig, Demirbay. Demirbaby! Warte mal, du dumme kleine …»
Hup! Dragan drückt aufs Lenkrad und hebt seinen massigen Körper samt Tilsiterkopf aus dem Auto. Dann steige ich aus. Ich haue aufs Autodach und kassiere dafür sofort einen scharfen Blick vom Besitzer. Aber es nützt ja nix.
«Malik! Hier sind wir. Kommst du?»
Er guckt und braucht erst mal eine Sekunde, um die Situation richtig einschätzen zu können. Dann schälen sich auch noch Ilona und Micki aus dem Auto. Butschi lächelt, bremst seine Schritte und läuft jetzt deutlich aufrechter auf uns zu, bevor er grinsend auf der Rückbank verschwindet.
Das Riesenarschlochkind schaut ungläubig zu uns rüber und bleibt stehen. Wir schauen uns direkt in die Augen, und er kann meinen kleinen Gruß, den ich ganz langsam und stumm formuliere, von meinen Lippen ablesen: «Moskau-Team!» Dem Leander-Arsch schießt die Röte in die arrogante Visage.
Ich selbst hatte auch mal einen einzigen Bad-Boy-Moment in meinem Leben, als ich in mehr oder weniger demselben Alter damals zusammen mit Helge Lütjens durch den großen Drogeriemarkt um die Ecke getigert bin, um uns zwei von diesen damaligen «Gummigetränken» Dreh und Trink zu kaufen. Angestachelt von Lütjens, so die offizielle Version später gegenüber meiner Mutter, habe ich mich dann tatsächlich dazu hinreißen lassen, als Mutprobe eine Packung eingeschweißte dicke Batterien vom Angebotstisch durchzubrechen und liegen zu lassen. Keine zwei Sekunden hat es gedauert, bis ich den harten Zeigefinger vom Ladendetektiv auf meinen Rücken pickern gespürt habe. Wie ein Specht, der sich in mein Gewissen geklopft hat.
«Die kaufst du jetzt, Freundchen, oder ich ruf die Polizei.»
Mit einem ebenso kräftig durchbluteten Kopf wie dieser Leander heute habe ich mich dann mit meinen zerbrochenen Batterien, die ich übrigens überhaupt nicht brauchen konnte, an die Kasse gestellt. Und erst als ich rauskam, wo Helge Lütjens schon auf mich gewartet hat, habe ich gemerkt, dass ich mir in die Hose gemacht hatte.
Tja.
Ich glaube, genauso fühlt sich dieser Junge gerade.
Wird er nicht dümmer von.