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Es ist einige Zeit vergangen, und ich stehe tatsächlich auf einer Gartenparty. Das Rauschen der Berberitzenblätter im Wind schluckt jedes Gespräch. In kleinen Gruppen stehen die Gäste beisammen, und ich weiß, dass ich zu keiner einzigen dazugehöre. Wie Kühe, die sich auf der Weide schweigend gegenüberstehen, gruppieren sich in der einen Gruppe alle anwesenden Kleingärtner um die Jürgensens. Die andere Gruppe besteht aus ein paar Nachbarn aus Dörtes Haus, und auch hier hört man kein aufgeregtes Getratsche oder mal ein Lachen oder ein albernes Gekicher. Wie auf einem Totenschmaus steht man mit dem Teller in der Hand beieinander, und nur das Bewegen der Lippen deutet darauf hin, dass da überhaupt kommuniziert wird. Hin und wieder drehen sich die Leute zu mir um und glotzen mich an. Als wären alle Gäste diese fiesen Kinder aus dem Dorf der Verdammten und machen ihr eigenes Ding, ihre eigenen Gespräche – und beobachten mich die ganze Zeit, weil ich eben doch anders bin.

Wenn ich auf dieser Feier eingeladen wäre, könnte ich mich erst mal über Wasser halten, indem ich mit einem Glas in der Hand rumlaufen und so tun würde, als würde mich dieses oder jenes interessieren. Dann würde ich mir in der Küche die Zettel am Kühlschrank durchlesen, mir Fotos angucken, die im Flur hängen, das eine oder andere Buch aus dem Regal nehmen und darin rumblättern oder im Garten mal ein Blatt abbrechen und daran riechen. Vielleicht würde ich sogar ein zweites Glas in die Hand nehmen und so tun, als würde ich auf jemanden warten, der auf der Toilette ist. Auf jeden Fall würde ich das Gefühl ausstrahlen, dass ich etwas mit mir anzufangen weiß und auf diese ganzen Arschgeigen, die sich da in Grüppchen zusammenrotten, überhaupt nicht angewiesen bin!

Das Problem ist: Es ist meine eigene Feier.

Es ist mein Schrebergarten oder, besser gesagt, der Schrebergarten von Dörte. Von ihr und mir. Sie wollte es unbedingt ausprobieren, und ich hab mich von dem Gedanken anstecken lassen, dass man im Grünen, auch wenn es am Bahndamm liegt, mal so richtig abschalten kann von diesem ganzen Nachbarschaftswahnsinn der letzten Monate und Jahre. Ist doch wahr. Was hab ich den Leuten denn getan? Ständig wird man in irgendwelche Sachen mit reingezogen. Egal ob man Pakete für sie annimmt, sie besoffen bei sich auf dem Klo sitzen hat, gegen Mitschüler verteidigen muss oder gegen die Miet-Mafia oder ob die einen einfach vom Balkon aus belästigend angucken. Da ist es doch wohl verständlich, dass man sich einredet, dieser ganze Scheiß könnte in einem Schrebergarten aufhören, und wenn auch nur stundenweise als kleine Erholungsinsel mitten in der Stadt.

Die Jürgensens ziehen einen in gar nix mit rein. Das steht mal fest. Hinter der Hecke hört man es Rascheln und Hacken und Schaufeln, und hin und wieder dröhnt der Rasenmäher, oder der Gartenschlauch läuft, aber von den Jürgensens selbst hört man keinen einzigen Ton. Keinen einzigen Gesprächsfetzen. Sie sind wie Kanarienvögelchen im Käfig, die die ganze Zeit von Stange zu Stange hüpfen, aber nicht einmal piepen oder flöten. Stumm verrichten sie ihre Gartenarbeit nebeneinander. Manchmal hört man ein Becherchen klappern oder ein Gäbelchen auf einem Tellerchen kratzen, aber auch dabei findet kein einziges Gespräch statt. Nur auf Ansprache reagieren sie sofort.

«Frau Jürgensen?»

«Ja, hier drüben!»

«Ah, ich wollt nur mal hören, ob Sie da sind. Weil, man hört ja gar nichts.»

«Nein, nein, wir sind hier. Wir trinken gerade Kaffee.»

«Ah ja, dann mal guten Hunger.»

«Den werden wir haben.»

Und dann wieder absolute Ruhe. Nur Geklapper. Kein Vergleich in Sachen Diskretion zu dem, was bei uns im Haus im Innenhof so zum Besten gegeben wird. Und schleichend, wie von selbst, besprechen auch Dörte und ich nur noch das Nötigste miteinander. Ich weiß nicht, ob es ein gutes Omen ist, die Gartenlaube neben den Jürgensens zu beziehen. Immerhin scheinen alle Beziehungen, die hier an den Wochenenden und Feierabenden ausgelebt werden sollten, in die Brüche gegangen zu sein. Vielleicht ist es dieser Blick in die eigene Zukunft, der einen irgendwann die Notbremse ziehen lässt, damit man nicht doch eines Tages selbst so wird wie die Jürgensens und stumm nebeneinanderher werkelt und im Anschluss auf der Mini-Terrasse stumm seine Mandarinen-Quark-Schnitte in sich reinschaufelt.

Falls ich irgendwann so wie Frau Jürgensen dazu übergehen sollte, einen Häufchenbeutel mit mir rumzutragen, in dem ich im Bedarfsfall die Scheiße von fremden Hunden entsorge, werden wir diese Kleingartenvereinsmitgliedschaft kündigen. Dieses Versprechen hab ich Dörte abgenommen. Ich meine, bei uns im Haus liegt manchmal tagelang irgendein Snickers -Papier oder eine alte FFP 2-Maske auf dem Boden rum, für die sich dann auch niemand zuständig fühlt. Aber Fremdscheiße in einem Häufchenbeutel aufzuheben, obwohl man selber nicht mal einen Hund hat – das geht selbst mir zu weit.

Egal. Für Dörte ist ein Traum in Erfüllung gegangen. Und seit zwei Wochen ist das hier unser kleines Paradies. Seitdem hängen Einladungen für heute in unseren zwei Treppenhäusern und auch im Aushang des Kleingartenvereins.

«Weißt du, Ralf. Dann mach ich so Bowle mit Basilikum aus dem eigenen Garten.»

«Der Basilikum ist doch aus’m Supermarkt, oder welchen meinst du?»

«Wenn ich den in so ein Hochbeet pflanze, dann ist der doch aus’m eigenen Garten. Das ist doch nicht so abgefuckt wie aus’m Supermarkt.»

«Meinst du jetzt wegen ‹regional›?»

«Vom ganzen Feeling her.»

«Und dann kommt das in so komische Marmeladengläser und nicht in Sektkelche?»

«Meine Güte! Ich möchte auch EINMAL in meinem Leben mit meinen Gästen aus Marmeladengläsern mit Deckeln trinken. Weil das hat Art! Das kannst du überall gucken! Ist das denn zu viel verlangt?»

«Nein. Natürlich nicht.»

Die Anspannung war da, kein Zweifel. Seit ich Dörte kenne, guckt sie irgendwelche Sendungen, wo sich Landfrauen gegenseitig einladen, ein Menü kochen und die Tische hübsch machen mit Deko aus dem eigenen Garten, und dann besucht man sich gegenseitig und testet das Essen und vergibt Punkte – aber richtig sympathisch ist eigentlich niemand in diesen Sendungen. Man spürt einfach permanent diese Anspannung wie an Heiligabend, wenn man sich gegenseitig anfaucht, weil die Gänsesoße nicht werden will wie geplant.

Von einer solchen Landfrauenatmosphäre jedenfalls träumt Dörte schon ewig, und vielleicht muss sie es nur einmal selbst erleben, um geheilt zu werden. Wer weiß denn das? Ich selbst war z.B. jahrelang fest davon überzeugt, einen Beo haben zu müssen. Und was soll ich sagen? Nach einem Vormittag mit Berni war ich quasi geheilt. Aber da war es schon zu spät. Ist manchmal so im Leben, und ich unterstütze Dörte dabei, das alles für sich rauszufinden.

Und nun stehen wir hier. Als Erstes kamen die Leute aus der direkten Nachbarschaft im Kleingartenverein. Die Jürgensens von der Shiloh-Ranch, Kai und seine Frau aus dem «Neverland», Klaus von der «Ponderosa» und Rieke und Holger von der «Casita Rieke y Holger» liefen wie Gutachter durch den Garten und scannten alle Beete.

«Herzlich willkommen, mein Name ist Dörte Krampitz, und das hier ist mein Lebensgefährte und Mitgärtner Ralf Prange.»

«Ja, wir hörten. Und: Nacktschnecken?»

«Wie bitte?»

«Haben Sie Nacktschnecken?»

Die Frage nach den Nacktschnecken scheint in diesem Umfeld so was wie eine gängige Begrüßung zu sein. Ich bin kurz rein in die Gartenlaube, um ein erstes Tablett Bowle-Gläser zu holen, und als ich wieder rauskam, stellte ich mich samt Tablett in den Halbkreis um Kai vom «Neverland», der gerade ziemlich engagiert das Thema Schwundstrom im Gemeinschaftszähler zu fassen hatte.

«Auf jeden Fall, bei über 5000 Kilowattstunden Schwundstrom ist ja wohl mal ’ne Umlage fällig. Und dann wird der Wegeverteiler erneuert und ’ne Elektro-Ordnung verfasst und klargestellt, dass die Zuleitung bis zur Wegverteilung Eigentum der Pächter ist und diese dafür selbst verantwortlich sind. Nech?»

«Das will ich ja wohl meinen», hat Klaus von der Ponderosa dann noch ergänzt. Aber Kai war schon weiter.

«Dann musst du vor Inbetriebnahme die Isowiderstände von der Pächterleitung prüfen.»

Und so ging das in einem fort weiter. Ich stand mit meinem Tablett daneben und habe genickt und genickt, aber im Grunde war es so, als wäre ich im Kino in den falschen Saal in den falschen Film gegangen. Da sitzt man auch seine zehn Minuten, um dann möglichst unbemerkt wieder rauszugehen. Und nach zehnminütigen Auslassungen über eine mögliche Kleingarten-Elektro-Ordnung habe ich dann einfach den einen Schritt zurück gemacht, aus dem Kreis raus, und hab aus lauter Verzweiflung mit dem Zeigefinger den Wasserstand im Hochbeet überprüft.

Niemand hat überhaupt bemerkt, dass ich mich a) dazugestellt und b) nach zehn Minuten Schweigen wieder verpieselt hatte. Hätte man sich über die aktuelle Xyladecor-Holzschutzlasur-Farbpalette unterhalten, hätte ich bestimmt etwas Interessantes beisteuern können, weil ich mich gerade in die ganze Thematik eingelesen hatte, zum Beispiel über den Farbton «Echtbraun», der in seiner Bräune echter zu sein scheint als alle anderen Brauntöne wie Lärche oder Nussbaum.

Aber das absolute Nichtwissen in Sachen Kleingarten-Elektro-Ordnung raubt einem ja geradezu den letzten Fitzel Selbstbewusstsein in so einer Situation. Schwundstrom!

Dann hab ich noch mal versucht, an die Gruppe mit den Leuten aus Dörtes Hausgemeinschaft anzudocken. Sie selbst stand im Kreise ihrer Nachbarn, und alle haben irgendeiner uralten Story von diesem einen Älteren aus dem zweiten Stock darüber gelauscht, wie damals im Haus die letzten Nachtspeicheröfen ausgetauscht wurden. Und meine Freundin hing regelrecht an seinen Lippen und hat ihn auch noch angefeuert!

«Das kann man sich ja heute gar nicht mehr vorstellen!»

«War aber so. Wenn man das abends warm haben wollte, musste man das morgens schon wissen.»

«Kann man sich wirklich nicht mehr vorstellen.»

Bis ich dann die Nerven verloren hab.

«Wir haben’s ja aber auch schön hier draußen, ne?»

Und niemand hat reagiert. Nicht mal Dörte. Als wäre ich gar nicht da. Der alte Sack hat einfach weitergemacht und aufgezählt, wo er überall in seiner Wohnung Nachtspeicher hatte und dass das zum Wäschetrocknen gar nicht mal so unpraktisch war, und ich stand dabei, in meinem eigenen Schrebergarten (!), und war doch nur geduldet. Ich will das Dörte nicht vorwerfen, sie hat eben auch die Funktion der Gastgeberin, was die Leute aus ihrem Haus angeht, aber man fühlt sich direkt wieder wie ein Sechsjähriger, der im Einkaufswagen mit durch den Supermarkt fährt und sich dieses ewige Gequatsche seiner Mutter anhören muss, wenn sie irgendeine Bekannte trifft. Da möchte man nur schreien: «Mama, ich bin auch hier! Fahr mich weiter in die Joghurtabteilung oder binde mich in das Gespräch ein!»

Zu Hause wäre ich jetzt einfach unter irgendeinem Vorwand für eine halbe Stunde im Keller verschwunden und hätte irgendwas gepuzzelt. Wahrscheinlich hätte das sowieso kein Schwein gemerkt. Aber hier kann man sich beim besten Willen nicht einfach verdrücken.

Und dann endlich – ein Zeichen.

Zunächst nur zwischen den geilen Trieben der Berberitzenhecke hindurchschimmernd, setzen sich die einzelnen neongrellen Farbflächen schließlich zu einer vertrauten Silhouette zusammen. Zwei Fahrradhelme nähern sich hintereinander auf der schmalen Zuwegung unserer Gartenpforte, und das Gefauche und Genöle darüber, dass man nun doch zwei Minuten später am Ziel sei, als auf dem Fahrrad-Navi angegeben, und warum man sich dann überhaupt noch solche teuren Geräte kauft, wo das doch eigentlich auch jedes Handy kann, verrät lautstark die Ankunft vom Ökospießer und dem Blassen – die ersten Gäste aus meiner Hausgemeinschaft in Barmbek-Süd. Beide haben dem Anlass angemessen eine Art Ausgeh-Outdoorklamotten an, also dinnertaugliche Funktionswäsche, von der ich gar nicht wusste, dass es sie gibt. Wahnsinn. Beide überreichen mir einen Blumentopf, in dem nur ein Holzstock steckt, und versichern mir, dass das mal ein ganz tolles und seltenes Tomatenpflänzchen wird. Na, ich bin gespannt. Am Ende ist da wahrscheinlich gar nichts drin, sondern nur der Stock, weil man sich zu spät um irgendwas gekümmert hat, und wenn da keine Tomate rauswächst, bin ich selber dran schuld. Am Ende ist es nämlich immer der Gärtner. Na ja. Aber ich freue mich sogar.

«Hallo, Herr Prange. Danke für die Einladung. Ist ja wunderschön hier.»

«Ja. Schön. Aber es ist noch ’ne Menge zu tun.»

«Das kann ich mir vorstellen. Wir hatten früher auch einen Garten, also meine Eltern, da war immer viel zu tun.»

«Na ja, man will ja auch was zu tun haben.»

«Nee, das ist klar.»

«Ja.»

«Aber das ist das.»

Also, okay. Ich habe nie gesagt, dass ich der Small-Talk-König bin. Es fällt mir halt leichter, wenn ich mich über irgendwas aufregen oder über irgendjemanden ablästern kann. Und es hatte schon immer was Beklemmendes, sich mit dem Ökospießer zu unterhalten, selbst wenn sein Blasser dabei ist. Aber hier und heute bin ich richtig froh, dass die beiden gekommen sind und ich nicht mehr alleine in der Ecke steh.

Und dann trudelt einer nach dem anderen ein.

Die Nazi-Oma wird von ihrem Sohn gebracht, und eigentlich hätten wir sie nicht eingeladen, aber der Aushang hing ja nun für alle da.

«Eigentlich weiß ich nicht, was ich hier soll. Aber meine Familie will mich wohl mal ’n paar Stunden loswerden. Sind Sie dicker geworden?»

«Schön, dass Sie da sind, Frau Hardefeld.»

Na ja!

Fast unscheinbar läuft Ilona hinter ihr her. Sie trägt 7/8-Hosen, einen Pullover um die Schulter und könnte ohne Weiteres als Volle-Kanne -Moderatorin durchgehen. So sieht sie also aus, wenn sie nach der Arbeit noch mal zu Hause war, um sich umzuziehen.

Dann kommt Butschi mit seiner Familie und trägt voller Stolz sein Deutschland-Trikot, das kurz nach unserer kleinen Ausflugsfahrt in der Zuhälterkarre in seinem Fach in der Schule abgegeben wurde. Er hat Pina dabei und begrüßt mich extracool mit einer Gettofaust, die ja schon so ein bisschen Lässigkeit eingebüßt hat, seit sich die auch Politiker auf aller Welt geben. Da muss man sich als Zehnjähriger jetzt langsam mal wieder was Neues einfallen lassen.

«Sehen Sie, Herr Prange, am Ende hat er das Trikot einfach so wiederbekommen», sagt seine Mutter zur Begrüßung. «Kinder regeln das immer noch am besten unter sich.»

«Mmh. Wollen Sie sonst erst mal ’ne Bowle?»

Es wird immer lebhafter um mich herum im Garten. Die anderen beiden Grüppchen stehen nach wie vor unter sich und mit ihren eigenen Gesprächen beschäftigt auf dem Rasen und drehen sich alle um wie die Kühe, als eine kleine Delegation aus der WG , der Bumser und der Hackenläufer, eine Hanfpflanze im Topf überreichen und sich wegen dieser Mutprobe, sage ich mal, beinah einnässen wie die Zwölfjährigen.

«Prange!»

Horst ruft schon von Weitem meinen Namen, und ich antworte mit «Rohde», und ich möchte fast behaupten, dass diese Form der Begrüßung durch den Ausruf des Nachnamens die eigentlich viel traditionellere norddeutsche Form ist als immer dieses «Moin» auf «Moin». In einem ausgedienten Plastikschraubglas für Instant-Zitronentee bringt er mir den abgefüllten sogenannten Wunderdünger seiner Tochter aus dem Homeshopping mit und brüllt noch in Richtung «Gartenvereinsmitglieder», dass die alles andere an Dünger und Bodenverbesserung ab sofort vergessen können, was pikiert zur Kenntnis genommen wird. Im Schlepptau hat er die Elblette, die ihre mitgebrachte Flasche Fertig-Hugo schon aufgemacht hat und sich wahrscheinlich auch alleine reinhauen wird.

«Dieses Fleckchen Erde schreit ja nach einem kleinen Kaninchen, Herr Prange. Da schon mal drüber nachgedacht?»

«Da ist er ja! Unser Hauspromi!»

Horst hat ihn zuerst entdeckt. Den Fernsehmann. Deshalb hat er auch den ersten Zugriff und ballert ihn mit Fragen voll, während sich der Rest der Hausgemeinschaft wie eine Fan-Traube um ihn herum sortiert. Er ist eine echte Attraktion und sieht ungelogen zehn Jahre jünger aus. Die Auszeit in der Türkei hat ihm gutgetan, und er saß auch schon bei Markus Lanz, um über sein neues Buchprojekt zu sprechen: «Zu Hause im Ich». Ich weiß nicht, ob er ahnt, was es mit dem verschwundenen Fotorahmen aus seiner Wohnung auf sich hat, und ich habe mir zwischendurch immer mal gewünscht, dass es vielleicht doch von einer Kamera festgehalten wurde, dass es Horst war, der das verbockt hat, damit ich wenigstens aus der Schusslinie rauskomme. Aber egal. Er ist hier. Er kommt auf mich zu und gibt mir die Hand und flüstert:

«Glauben Sie mal nicht, dass ich nicht weiß, dass Sie irgendwas mit meinem Foto mit Herrn Scholz zu tun haben.»

Oh. Dann doch. Ich spüre richtig, wie ich rot werde, und überlege kurz, Horst sofort zu verpetzen. Auf der anderen Seite ist er in Sachen Fernsehmann auch mein «Wingman», wie Butschi mir erklärt hatte.

«Welcher Herr …?»

«Ist mir auch egal. Schnee von gestern. Man ist ja Nachbar. Glückwunsch zum Garten. Nur falls es das Foto noch irgendwo …»

Und bevor wir die ganzen Vorgänge unangenehm aufarbeiten können, kommt schon die Elblette mit einem Gläschen Bowle um die Ecke, weil sie ihren Fertig-Hugo in all der Begrüßungsaufgeregtheit schon leer gemacht hat, und haut dem Fernsehmann etwas sehr selbstbewusst auf den Rücken.

«Es sieht richtig toll aus, wenn ich das sagen darf. Wie diese Fell-Heizdecken aus’m Internet. Man sieht ja nicht mal mehr Kopfhaut bei Ihnen.»

«Okay, ich weiß nicht …»

«Ist Ihnen das unangenehm, wenn ich das so freiheraus frage? Weil, Sie gucken so. Es stand ja aber in der Zeitung.»

«Nein, alles gut.»

«Weil, sonst müssen Sie es sagen.»

Sie hat ein Stückchen Basilikum von der Bowle zwischen den Schneidezähnen hängen, und ich überlege noch, ob ich sie drauf aufmerksam mache, aber um was soll ich mich denn noch alles kümmern?

Es war ein anstrengendes Jahr.

Alles um einen herum verändert sich, und als wenn das nicht schon genug ist, wird man immer wieder in Nachbarschaftssachen reingezogen, dabei will man eigentlich nur wohnen. Okay, es ist noch mal alles gut gegangen. Die Lage im Haus hat sich beruhigt, der Flur wurde sogar neu gestrichen, und wir Mieter wurden nach unserer Meinung gefragt. Es wurde letztlich ein Grauweiß in Latex. Das ist angeblich superpflegeleicht, weil abwischbar. Warum man dann einen Farbton nimmt, der aussieht wie Dreckschimmer, der sofort das Bedürfnis weckt, ihn abzuwischen – weiß der Geier. Das ist der neue Geist im Haus. Aber man darf wohl noch fragen, denke ich gerade, als ich das sopranesque Gewieher von Tanja Kapella höre, das sämtliche Partygäste aus Dörtes Haus und aus dem Kleingartenverein zusammenzucken lässt, als wenn jemand unangemeldet einen Asthäcksler anwirft.

«Wenn der Frühling kommt, dann schick ich dir Tulpen aus Amsterdam!»

Und dann holen alle aus meiner Hausgemeinschaft Zettel mit dem Liedtext aus den Hosentaschen und singen mit, während Tanja Kapella mir eine große Schale mit Tulpenzwiebeln überreicht.

Und sicherlich hört sich die ganze Aktion am Reißbrett unglaublich rührend an, als wär’s ein kitschiger Telekom -Spot oder irgendein Internet-Flashmob, aber in Wahrheit ist das hier ganz schön peinlich, objektiv betrachtet. Wirklich schlecht gesungen und überhaupt nicht in einem Rhythmus.

Übergriffig. Penetrant geradezu.

Und immer wieder begleitet von schrillem Gelächter und dem Klirren von Bowlegläsern.

Mir wird warm ums Herz. Weil: Es sind meine Leute!