Mit sieben passten seine Beine noch quer unter den Tisch, und er konnte gerade so aufrecht sitzen, es war zwar höllisch unbequem, aber immerhin ein sicheres Versteck. Draußen herrschten gut dreißig Grad im Schatten, und die Hitze staute sich im Inneren wie heute der Qualm, niemand wäre freiwillig hier reingekommen, und wenn, dann nur, um sich ein Bier zu holen.
Jetzt wuchert längst Schimmel in den leeren Flaschen, in einer klebt eine tote Spinne mit den Beinen im Pilz, und Malte denkt an die Eislaternen mit gefrorenen Blüten, die Nathalie im Winter mit den Kindern gemacht hat. Das ist sechs gärende Monate her. Jetzt ist Sommer, und anstatt bei ihnen zu sein, schwitzt er neben Schimmellaternen mit angezogenen, brennenden Knien im toten Winkel einer Gartenlaube und hofft wie damals, nicht entdeckt zu werden.
Als Erstklässler konnte er die Uhr noch nicht lesen, gefühlt versteckte er sich für Stunden unter dem Tisch, mindestens eine Reise zu Sendaks Wilden Kerlen und wieder zurück. Zurück zu den echten Monstern, die überall nach ihm suchten, nur nicht hier, am wahrscheinlichsten Ort von allen.
Eines von ihnen schleicht nun schon seit Minuten um die Hütte herum, vielleicht prüft es gerade mit strengem Blick den Heckenwuchs, schnuppert an den Hortensien, nascht mit seinen wulstigen Lippen direkt von einer Rebe. Dabei war sich Malte sicher gewesen, dass Heinz heute nicht hier sein würde. Immer wieder bricht sein Husten in das Summen, das Malte schon seit Tagen in den Wahnsinn treibt, ohne dass er bislang ein Wespennest gefunden hätte. Die Schritte kommen näher, schweres Schuhwerk auf Holz, dann ein Schatten. Heinz späht durch das einzige Fenster und verdunkelt damit den Raum, allein sein Wanst reicht für eine spontane Sonnenfinsternis. Ein kurzes Flackern, als er sich die Handkante an die Stirn legt, dann humpelt er davon, und über Malte schwirrt wieder der Staub von Jahrzehnten im gleißenden Licht.
Er holt tief Luft und spürt ein Stechen in der Brust, wartet vorsichtshalber lieber noch ab. Zwei der Flaschen neben ihm sind ungeöffnet und seit September 2018 abgelaufen, fast zwei Jahre schon. Malte macht eine auf, das warme Bier schmeckt abgestanden und hefig, trotzdem setzt er noch ein zweites Mal an und trinkt das erste Drittel, ohne abzusetzen, schaut dabei aufs Handy. Er sollte Nathalie endlich antworten: dass er auf dem Heimweg selbstverständlich kurz Feuchttücher kaufen könne. Und dass es heute vielleicht etwas später im Büro werde. Ganz automatisch geht sein Blick zum MacBook, es steht aufgeklappt zwischen ausgeblichenen VfB- und Ferrari-Wimpeln auf dem Klapptisch und überführt ihn mit seinem leuchtenden Apfel nicht nur als Poser, sondern auch als Lügner.
Das Geräusch des hüftsteifen Gangs lässt nicht lange auf sich warten, nur hört Malte es viel zu spät – und dann schon das Schloss. Natürlich hat Heinz einen Zweitschlüssel. Um sich die Blamage zu ersparen, will Malte noch schnell unterm Tisch hervorkraxeln, stößt sich dabei aber den Kopf am Metallscharnier. Der Schmerz ist so heftig, dass seine Hand sofort an die Stirn schießt und er den alten Mann nur mit einem Auge hereinkommen sieht. Fast wie damals streckt Heinz seinen Arm zu ihm aus, nur aufstehen lässt er Malte diesmal aus eigener Kraft. Wenn er wollte, könnte Heinz es sicher noch immer; seine Oberarme sehen aus wie aus der Lederweste geplatzt.
»Schlimm?«
Malte sieht auf seine Hand, die er sich eben noch gegen die Schramme gepresst hat, und zerreibt etwas Blut zwischen den Fingern. »Geht schon.«
Heinz reicht ihm ein Taschentuch und kramt in einer Schublade der Küchenzeile herum, findet aber nur akkurat zusammengefaltete Lappen und Geschirrtücher, die er achtlos zurück ins Fach stopft. »Irgendwo hat Walter bestimmt Pflaster und was zum Desinfizieren hier«, murmelt er mehr zu sich selbst als zu Malte und macht sich gleich über die nächste Schublade her.
»Lass gut sein.« Malte hält sich das Bier an den Kopf, als wäre es kalt. Er deutet auf die Flasche: »Ich bin medizinisch bestens versorgt.«
Heinz lacht kurz auf, künstlich zwar, aber durchaus anerkennend. »Erst ein paar Tage hier, und schon sprichste unsere Sprache.«
Er nimmt sich das andere Bier, öffnet es an seinem Schlüsselbund und setzt sich ungefragt an den Klapptisch. Auch das eine klare Sprache: Das hier ist sein Revier, nicht Maltes. Er schiebt den Tisch etwas nach vorn, um mehr Platz für sich zu schaffen, kneift die Augen zusammen und schaut unverhohlen auf den Bildschirm des Computers.
»Was haste da unterm Tisch überhaupt gemacht?«
Die Gartenlaube ist nur wenige Quadratmeter groß, trotzdem hat Malte das Gefühl, einen riesigen Satz machen zu müssen, um das MacBook vom Tisch zu nehmen und es zusammenzuklappen. Weil sich seine Hände wieder flattrig anfühlen, presst er die Finger fest ans Metallgehäuse.
»Ach, es ist dieses Wespennest«, sagt er bemüht beiläufig. »Ich find’s einfach nicht.«
Heinz legt den Kopf in seinen fleischigen Nacken, die Haare im Schweiß, und formt mit der Hand eine Muschel am Ohr. »Hm, hör nix. Aber vielleicht sind deine Ohren besser als meine«, sagt er grinsend. Dann nimmt er wieder einen Schluck Bier und schaut sich in der Hütte um, als würde er hier nicht schon seit Jahrzehnten ein und aus gehen.
Malte lehnt mit dem Rücken am Türrahmen und lächelt gezwungen, er muss wortwörtlich die Zähne zusammenbeißen, um freundlich zu bleiben. Schon ist alles wieder da: der Druck auf seiner Brust. Die Enge. Vor allem aber das Gift. Es wird Stunden dauern, bis es abgebaut ist und er wieder klar denken kann. Er fixiert ein Astloch in ein Wandpaneel, bis ihm die Augen brennen, und schweigt. Er will nicht mit ihm reden. Weder übers Wetter noch über Schädlinge und Nützlinge im Kleingarten oder die guten alten Zeiten. Und schon gar nicht über letzten Donnerstag. Sieht Heinz in seine Richtung, schaut Malte auf sein Handy, an seinem Bier nippt er immer erst dann, wenn Heinz seines gerade abgestellt hat. Dabei weiß Malte es längst: Ihr Schweigen ist eine Machtprobe, die er nur verlieren kann. Heinz wird erst gehen, wenn er das will. Vor allem bedeutet ihr Schweigen aber, ohne Ablenkung das ständige Summen ertragen zu müssen – wie das Sirren eines Zahnarztbohrers mit nur halber Umdrehungszahl. Damit es auch wirklich quält.
Von wegen Ruheoase, wie es auf dem Schild am Eingang heißt. Wirklich leise ist es im Kleingartenverein Weichenherz nie. Auf dem Kiesweg läuft gerade jemand pfeifend mit einer Schubkarre vorbei, weiter hinten plätschert es aus einem Gartenschlauch, während nebenan zwei alte Frauen in breitestem Schwäbisch miteinander schwätzen und in einer anderen Parzelle nach mehreren Versuchen ein Rasenmäher angeworfen wird, weil ja immer einer irgendwo mähen muss. Und die Vögel haben um diese Uhrzeit sowieso nicht alle Tassen im Schrank, findet Malte – ganz besonders die Papageien, die sich hier angesiedelt haben und damit genauso fehl am Platz sind wie er.
»Wolltest du eigentlich was Bestimmtes?«, fragt er schließlich und ist danach so erleichtert, als hätte er zu lange die Luft angehalten und nun wieder geatmet.
Endlich steht Heinz auf. Er stützt sich auf die Tischkante, schiebt sich hoch und geht schwerfällig zur Tür, bleibt dort viel zu dicht an Malte stehen.
»Hab mir Sorgen gemacht. Du wirktest ein bisschen durch den Wind die letzten Tage.«
»Ich bin okay.«
»Hier bei uns passt man aufeinander auf.« Heinz lächelt und legt seine große Hand auf Maltes Schulter, sachte nur, ganz ohne Druck. »Find ich übrigens gut, dass du vor der Abstimmung am Samstag ein bisschen Präsenz zeigst. Dein Vater kann stolz auf dich sein. Und wer weiß, vielleicht wird ja noch ’n richtiger Gärtner aus dir!« Heinz lacht laut und jovial, genau wie früher auf Familienfesten, wenn er betrunken den Scherzbold gab und Malte mit billigen Taschenspielertricks beeindruckte.
Malte spielt das Spiel mit. »Mit diesen Händen?«, fragt er ironisch und zeigt seine sauberen, hornhautlosen Finger vor: Schreibtischtäterhände.
»Wenn du erst auf den Geschmack kommst, wirste dir die hier schon noch schmutzig machen, wart’s ab.«
Heinz macht sich auf den Weg zurück in die Kommandozentrale, wie er seine Laube halb im Scherz nennt, dreht sich nach einigen Metern aber noch einmal um. »In ner Stunde fahre ich zum Krankenhaus. Komm vorbei, wenn du mitwillst.«
»Ich schaff’s erst heute Abend«, lügt Malte und krallt seine Finger um den Flaschenhals. »Du weißt ja, die Wespen.«
Heinz klopft sich an den Schädel und grinst: »Du musst nach Hohlräumen suchen.«
Malte sieht ihm nach, sein Gang ist unrund und abgehackt wie in einem Zeichentrickfilm mit zu wenigen Zwischenbildern. Fast hat er Mitleid mit Heinz. Die Zeit und seine Hüfte haben es nicht gut mit ihm gemeint. Im Lexikon seiner Erinnerungen ist Heinz noch immer als echtes Mannsbild verzeichnet, so jedenfalls sprachen andere über ihn, besonders sein Vater. Früher konnte er mit seinem Selbstbewusstsein und der bulligen Statur jeden Raum für sich einnehmen, jetzt ist er fett und bewegt sich steif wie eine ausgemusterte Actionfigur mit Sand in den Gelenken.
An Bedrohlichkeit hat er für Malte trotzdem nichts eingebüßt, dafür ist seine Erinnerung an diesen Nachmittag im Sommer 1986 noch viel zu plastisch. Die Erinnerung an die schiere Kraft, mit der Heinz ihn mit nur einem Arm unter dem Tisch hervorzerrte und nach draußen in den Garten schleifte, um ihn dort seinem Richter vorzuführen. An die Ohrfeige, die ihm sein angetrunkener Vater vor allen gab. Niemand von ihnen schritt ein, natürlich nicht. Es ging sie nichts an. Und sein Vater hatte ja auch jedes Recht, wütend auf ihn zu sein: Malte war heimlich in sein Paradies eingedrungen, das eben nur deshalb ein Paradies war, weil er darin nichts zu suchen hatte. Jedes verdammte Wochenende und mindestens jeden zweiten Abend verbrachte sein Vater allein im Schrebergarten, er braucht eben die Erholung, erklärte Maltes Mutter stets und ließ dabei offen, ob von der Arbeit oder seiner Familie. Die Ohrfeige war ein hoher Preis dafür, um ihn – wenn auch nur aus der Ferne – wenigstens einmal ausgelassen und glücklich zu sehen.
Als Heinz um die Ecke gebogen ist, geht Malte wieder hinein und macht sich selbst auf die Suche nach einem Pflaster. In den Schubladen findet er nichts außer Besteck, Samentüten oder Gartenwerkzeug, im Eckschrank erwartungsgemäß nur Aktenordner mit alten Sitzungsprotokollen. Überraschend ist dagegen, was Malte an der Innenseite der Schranktür entdeckt. Neben zwei Postkarten aus Griechenland klebt ein Bild, das er seinem Vater als Kind gemalt hat. Hepi Ent heißt es oben in Großbuchstaben, darunter stehen Luke Skywalker und ein Darth Vader ohne Maske, lächelnd und Hand in Hand, auf einer Wiese.
Malte muss erst lachen, kann sich dann aber nicht gegen die Tränen wehren, als er sich seinen Vater am Beatmungsgerät vorstellt. Plötzlich wird es ihm zu stickig in der Laube. Draußen zündet er sich eine Zigarette an. Er nimmt drei, vier tiefe Züge, bis ihm schwindelig wird, und setzt sich auf die Bank, starrt auf die Hand, mit der er die Zigarette hält. Schlagartig wird er sich seiner eigenen Armseligkeit bewusst. Wie lächerlich er doch ist: ein Zweiundvierzigjähriger, der sich unterm Tisch vor einem alten Mann versteckt, den er schon so lange kennt, dass er ihn als Kind Onkel nannte. Ein Familienvater, der vor lauter Scham seine Frau und seine Kinder belügt und sich ihnen heimlich entzieht. Ein Feigling, der sich lieber selbst cancelt, bevor es andere für ihn tun und er sich vor ihnen verantworten müsste. Auf Twitter hätten sie ihre helle Freude daran, über ihn zu richten, wie er hier im spießigen Kleingarten seines Vaters sitzt: ein fragiler und offensichtlich frühverboomerter, privilegierter weißer Cishet Dude mit Peak Male Tears im Gesicht, der all diese Ausdrücke kennt und für wichtig hält und sich allein deshalb immer zu den Guten gezählt hat. Dabei ist er nichts weiter als eine traurige, enttäuschende Figur – wie der späte Luke Skywalker im Exil. Wie der Held seiner Kindheit trägt Malte nur einen Handschuh, schwarz, aus Leder, wie er will auch Malte damit nur verbergen, dass er im Kern kaum besser ist als sein Vater, der zwar kein Cyborg, aber dafür starker Raucher ist. Niemand soll wissen, dass auch Malte seit Tagen heimlich in der Parzelle raucht. Das Gesicht kann man waschen, aber den Gestank an den Händen wird man nicht los, egal, wie lange man schrubbt. Darum der Handschuh. Darum auch die Kaugummis gegen den Mundgeruch, der zu weite Overall aus der Laube.
Am Abend wird Malte Nathalie wieder von seinem Arbeitstag erzählen, und sie wird ihn nicht infrage stellen, schließlich hört sie ohnehin nur noch mit halbem Ohr zu – und zwar zu Recht. Auch deshalb wird er morgen wiederkommen. Diese Parzelle ist sein Exil: Hier kann er keinen weiteren Schaden anrichten, in sicherer Quarantäne mit all den toxischen alten weißen Männern, denen er sich bis vor Kurzem noch moralisch so überlegen fühlte. Dabei ist er, wie Malte jetzt weiß, kaum besser als sie. In Wahrheit ist er längst zu demjenigen geworden, der er nie sein wollte. Zu dem Mann, dessen Platz er nun einnimmt, weil er es ihm verdammt noch mal schuldig ist.