3 Der Makel

Endlich sieht er ihn nicht mehr, den Makel, aber er ist noch immer da, genau dort, wo Malte jetzt die Hacke in den Boden rammt und Wurzel um Wurzel aus der trockenen Erde rupft, ohne bisher wirklich vorangekommen zu sein. Das Unkraut ist einfach überall. Nach nicht einmal einer halben Stunde Jäten ist er bereits erschöpft. Alles brennt, die Knie und die Hände und seine Augen sowieso, immer wieder wischt Malte sich den Schweiß aus dem Gesicht und bekommt ihn trotzdem nicht in andere Bahnen gelenkt, also lässt er ihn einfach laufen, stellt sich vor, der Schweiß könne den verfluchten Makel wie Salzsäure aus seinen Augen ätzen. Mit voller Wucht hackt er die Klinge wieder ins Beet und stößt gegen einen Stein im Untergrund. Seine Hand zuckt nach hinten wie beim Rückstoß nach einem Schuss, doch obwohl ihm der Arm bis zum Ellenbogen schmerzt, macht Malte einfach weiter, ohne System, ohne Rhythmus und ohne seine Kräfte zu schonen. Dennoch ist da keine Katharsis, nur Qual, und überhaupt fragt sich Malte, wie Menschen Gartenarbeit als friedlich empfinden können, wenn sie doch in Wahrheit nichts weiter ist als ein vergeblicher Krieg gegen die Natur, die sich, egal, wie sehr man sich aufreibt, am Ende ja doch durchsetzen wird.

Jahrzehntelang hat sein Vater das kleine Stückle mit einer solchen Akribie und Hingabe gepflegt, dass Malte als Kind geradezu eifersüchtig auf all die Pflanzen war, mit denen er zu konkurrieren glaubte. Zu Hause machte er nie auch nur einen Finger krumm, hier aber konnte er sich den ganzen Tag lang bucklig arbeiten, nur um abends dann, wenn er nicht gerade vollkommen abwesend ein Buch las, wortlos und ausgelaugt mit einem Bier vor dem Fernseher einzuschlafen. Der Garten war die eine Sache in seinem Leben, auf die er wirklich stolz war, die eine Sache, die er tatsächlich unter Kontrolle hatte.

Um zu wissen, wie es ihm in der Zeit, die sie einander nicht gesehen haben, ergangen ist, muss Malte sich nur umschauen: Die Beete sind überwuchert und verwahrlost, die Hecken ausufernd wie eine besonders schlimme Lockdown-Frisur. Während es grün aus allen Fugen des Gehwegs sprießt, gleichen etliche Keramiktöpfe offenen Särgen. Ein postapokalyptisches Idyll mit Gartenzwerg: Der frech zwinkernde Zeuge des Niedergangs ist im Laufe der Jahre immer tiefer im Matsch versunken, nur sein Oberkörper ragt noch schief aus dem Dreck wie eine urdeutsche Sphinx.

***

Trotzdem beteuerte er, als er nach fast zwei Jahren Funkstille unerwartet in Maltes Einfahrt auftauchte, süffisant: »Wie soll’s mir schon gehen? Du weißt doch: Schlechten Menschen geht’s immer gut.«

»Gilt das auch umgekehrt?«, erwiderte Malte gereizt, und damit war fürs Erste alles gesagt.

Weil Nathalie nun selbst die Kinder wegbrachte, blieb ihm jedoch nichts anderes übrig, als seinen Vater hineinzubitten und sich für seine Höflichkeit zu verfluchen: Auch Vampire konnten ein Haus schließlich nur auf Einladung betreten. Viel zu lange hatte er seinem Vater erlaubt, ihm seine Energie zu rauben, diese Tür wollte er ihm nun keinesfalls wieder öffnen.

Auf der Treppe überließ er ihm bewusst den Vortritt. Alt war er geworden, das sah Malte an seinem Gang. Beinahe tastend setzte er einen Fuß vor den anderen und ließ die Hand stets am Geländer, unsicher wie ein Blinder, der nicht wusste, wann die Stufen endeten.

Kaum war er wieder auf sicherem Terrain, kehrte aber sofort die alte Bestimmtheit zurück. Wie selbstverständlich nahm er auf dem Sessel im Wohnzimmer Platz, die Beine breit wie ein Manspreader alter Schule, und klärte Malte ungefragt darüber auf, dass er seinen Kaffee zwar immer noch stark, inzwischen aber mit viel Milch trinke: »Mein Magen macht das sonst nicht mehr mit.«

Malte nahm die Bestellung kommentarlos entgegen, war aber eigentlich dankbar für die Chance, sich ihm zumindest kurz entziehen zu können. Oder lange genug, um spontan zum Barista zu werden: Denn natürlich hätte er auch eine Kapsel nehmen können. War das Wasser erst heiß, brauchte die von Jonas so verhasste, weil alles andere als nachhaltige Maschine gerade mal zwanzig Sekunden für einen Café Crème. Genau das sprach für die Kaffeemühle. Malte drehte so langsam an der Kurbel, dass ihn jeder Widerstand im Mahlwerk Kraft kostete. Kurz weckte das Geräusch der knackenden Bohnen Erinnerungen an sein früheres Zähneknirschen und daran, dass er seine Beißschiene von einem Tag auf den anderen nicht mehr gebraucht hatte, kaum dass er von zu Hause ausgezogen war; ein Grund mehr, seinen Vater nebenan warten zu lassen.

Als Malte erst Minuten später mit dem Kaffee zurück ins Wohnzimmer kam, fühlte er sich auch olfaktorisch in seine Kindheit zurückversetzt. Der kalte Rauch in den Klamotten seines Vaters hatte sich bereits im ganzen Raum verteilt wie ein Klecks Tinte im Wasserglas. Noch ehe er die Tassen abstellte, kippte Malte das Fenster – eine Geste, die er gegenüber willkommeneren Gästen als unhöflich empfunden hätte, die von seinem Vater aber nicht einmal bemerkt wurde.

Der sah sich ein gerahmtes Foto von Jonas an, das er von der Wand genommen hatte, und tippte mit einem Fingernagel aufs Glas. »Groß ist er geworden, der Junge«, stellte er fest. »Wie alt ist er jetzt?«

»Inzwischen ist er vierzehn, und Nora wird im Sommer vier.«

Sein Vater nickte und wirkte einen Moment lang, als versuchte er, sich die Zahlen einzuprägen, dann wechselte er abrupt das Thema und deutete auf die Februar-Ausgabe des Stadtmagazins Zacke auf dem Couchtisch. »Arbeitest du noch für die?«

»Nur manchmal. Ich habe mich vor ein paar Monaten selbstständig gemacht und schreibe jetzt frei.«

»Das ist gut. Da musst du dir nix mehr vorschreiben lassen«, entgegnete er, und Malte war froh, dass er es dabei beließ und nicht wie früher auf die angeblichen Staatsmedien schimpfte.

Stattdessen sah sich der alte Mann weiter im Raum um, krampfhaft auf der Suche nach einem Aufhänger für Gesprächsstoff. Viel zu entdecken gab es allerdings nicht, seit sich Nathalie diesem Minimalismus-Trend verschrieben hatte und Malte sich für jeden zweiten Gegenstand eine persönliche Geschichte einfallen lassen musste, damit sie ihn nicht aussortierte. Immer wieder entdeckte er in der Zu-verschenken-Kiste an der Straße etwas, das er heimlich zurück in die Wohnung schmuggeln musste – zuletzt Filetstücke seiner eingestaubten DVD-Sammlung oder die bunt zusammengewürfelten Kaffeebecher ihrer ersten gemeinsamen Wohnung, aus denen er noch immer lieber trank als aus den teuren Designertassen, die sie ihm zum Geburtstag geschenkt hatte. Die neue Kargheit fiel sogar seinem Vater auf.

»Zieht ihr um?«

»Nathalie mistet alles aus, was wir nicht mehr brauchen.«

»Na, dann pass mal lieber auf, dass du dich hier nützlich genug machst«, sagte sein Vater grinsend und traf damit einen wunden Punkt.

Zwar hatte Malte Nathalie mit seinem Artikel über Menschen, die ihren Besitz auf das Nötigste reduzieren, um ein nachhaltigeres und fokussierteres Leben zu führen, selbst auf das Thema gebracht, doch mittlerweile fürchtete er sich so sehr vor Nathalies Konsequenz beim Ausmisten, dass er es nicht einmal wagte, sich mit ihr das Scheidungsdrama Marriage Story auf Netflix anzuschauen.

Er starrte auf die große weiße Wand über dem Sofa, die nur noch von einer kleinen Hängepflanze geziert wurde, und ignorierte einfach, was sein Vater als Nächstes sagte: »Tja. Wär’s nach Johanna gegangen, hätten wir sicher auch auf solch einer Katalogseite gelebt.«

Wenn es eines gab, über das Malte nicht mit ihm sprechen wollte, dann war das seine Mutter. Bis zum Schluss hatte sie ihre unglückliche Ehe einfach ertragen, ohne je über ihr Leben zu klagen, dabei hatte ihr Maltes Vater sogar im Tod noch die kalte Schulter gezeigt: Auf keinen Fall hatte sich der große Hobbygärtner imstande gesehen, nun auch noch die Pflege für ihr kleines Grab zu übernehmen – und damit endgültig den Bruch mit Malte in Kauf genommen. Obwohl es zwischen ihnen nie den einen großen Streit, sondern immer bloß viele kleine gegeben hatte, war das ihr letzter gewesen. Danach gab es bloß noch pflichtbewusste Telefonate zu Geburts- oder Feiertagen, und zuletzt nicht einmal mehr das. Sie hatten ihre Beziehung einfach ausschleichen lassen wie ein verblassendes Foto.

Nun machte sein Vater jedoch keine Anstalten, sein plötzliches Auftauchen zu begründen, sondern tat stattdessen so, als wäre sein Besuch ein ganz alltäglicher. Als er sich vorbeugte, um Milch nachzugießen, erzählte er im Plauderton: »Ich trinke meinen Kaffee jetzt weiß, das übersäuert den Magen nicht so.«

Malte lehnte sich zurück, die Arme über Kreuz, und channelte angesichts der vermeintlich neuen Information bloß lakonisch Loriot: »Ach was.«

Wieder entstand eine Schweigepause, diesmal so lang, dass Malte irgendwann lieber selbst die Initiative ergriff, als die dröhnende Stille zu ertragen. »Nathalie hat jetzt zusammen mit einer Freundin eine eigene Apotheke am Feuersee, sie ist wirklich schön geworden.«

»Gut, gut«, sagte sein Vater, ohne nachzuhaken, dann rührte er wieder wortlos in seiner Kaffeetasse herum – dreimal nach links und zweimal nach rechts, was Malte nur deshalb bemerkte, weil ihn das leichte Zittern am Löffel irritierte.

»Und, was liest du gerade so?«, versuchte sein Vater sich dann am einzigen Thema, über das sie früher hatten reden können, ohne dass es irgendwann in Streit ausgeartet war.

»Nichts«, erwiderte Malte. »Keine Zeit.«

»Hm.«

»Wie geht es Heinz?«

»Ach, du kennst doch den Spruch: Schlechten Menschen …«

»Das hast du vorhin schon über dich gesagt.«

»Macht’s nicht weniger richtig.«

Erst als sich Malte zwang, ihm direkt in die Augen zu sehen, fiel ihm auf, dass er bislang jeden Blickkontakt vermieden hatte; nun war es allerdings sein Vater, der wegsah, als Malte ihn fragte: »Was ist los, warum bist du hier? Brauchst du meine Hilfe bei irgendetwas?«

Dass er ihn überhaupt fragte, machte Malte einen Moment lang stolz: Es war der Beweis dafür, dass er über seinen Schatten springen, auf die feigen Rituale toxischer Männlichkeit pfeifen konnte. Anders sein Vater: Eher hätte der eine in seiner Backentasche versteckte Zyankali-Kapsel zerbissen, als aktiv um Hilfe zu bitten.

Darum war Malte auch nicht überrascht, als er bloß lächelnd den Kopf schüttelte. »Nein, nein, alles bestens. Obwohl … doch, ein Aschenbecher wäre prima«, sagte er. Dann suchte er in seinen Jackentaschen nach Zigaretten und zog eine andere Schachtel heraus als jene, die er vorhin am Automaten gekauft hatte. Zusammen mit der Packung im Auto besaß er nun also mindestens drei.

»Tut mir leid, nicht hier drinnen. Du müsstest runter vor die Haustür, wir haben ja keinen Balkon.«

Sein Vater legte die Zigaretten auf den Tisch, als hoffte er, dass Malte es sich noch anders überlegen würde, und nahm wieder das Foto von Jonas in die Hand.

Die beiden hatten sich immer gut verstanden. So viel Geduld und Interesse wie für seinen Enkel hatte er für den eigenen Sohn nie aufbringen können. Tatsächlich hatte es Malte früher sogar als verletzend empfunden, die zwei beim Fußballspielen zu beobachten – ganz besonders, als sein Vater Jonas dabei einmal versehentlich Malte nannte.

Die Smartwatch an Maltes Handgelenk vibrierte, und sofort fielen ihm die drei Telefoninterviews und zwei Textabgaben ein, die vor ihm lagen; das Display zeigte allerdings keine neue Nachricht an, sondern empfahl ihm bloß eine Atemübung zur Entspannung. Als er darauf achtete, merkte er tatsächlich, wie flach und kurz er atmete, also holte er mehrmals tief Luft, ohne sich jedoch dadurch Erleichterung zu verschaffen. Viel zu sehr roch sie nach seinem Vater, nach kaltem Rauch und altem Mann.

Plötzlich ekelte er sich davor, dieselbe Luft zu atmen wie er und damit unzählige Partikel, die eben erst durch seine schwarze Lunge geströmt waren. Auch sein Zorn wurde immer größer: darüber, mit welch dreister Selbstverständlichkeit sein Vater es wagte, einfach so herzukommen und seine Luft, sein Zuhause, sein Leben wieder mit dem Gift zu kontaminieren, das er so zuverlässig in Maltes Innerem freisetzte. Wie Teer hatte es sich fast vierzig Jahre lang noch in Maltes kleinsten Verästelungen abgelagert; die Spätfolgen zeigten sich erst jetzt, in seinen vermeintlich besten Jahren.

»Bitte erklär’s mir«, sagte er ruhig. »Es ist Montagmorgen, kurz nach neun. Die Kinder sind in der Schule und in der Kita, Nathalie und ich müssen arbeiten. Du wirst doch einen Grund dafür haben, dass du nach all der Zeit ohne Ankündigung wieder bei uns auftauchst.«

Mit einem Mal wurde sein Vater unruhig, er richtete sich auf und schaute sich nervös im Zimmer um, sah dann auf seine Uhr. Kaum setzte er an, um etwas zu sagen, geriet er schon wieder ins Stocken.

»Du kannst doch nicht einfach herkommen und so tun, als wären die letzten Jahre nicht gewesen«, setzte Malte nach, diesmal schärfer. »Also noch einmal: Warum zum Teufel bist du hier?«

Und plötzlich war es genau wie früher: Sein Vater explodierte ohne die geringste Vorwarnung und ließ Malte vor Schreck zusammenzucken: »So redest du nicht mit mir!«, brüllte er los. »So nicht! Ich werd ja wohl noch meine Familie besuchen dürfen!« Er hob die flache Hand wie zur Androhung einer Ohrfeige – »Pass ja auf, du!« –, dann ballte er sie zur Faust und schlug so fest auf den Couchtisch, dass die Kaffeetasse kippte.

Doch genauso jäh, wie er sich zu alter, einschüchternder Größe aufgebläht hatte, fiel er auch wieder in sich zusammen. Keine fünf Sekunden später sah Malte nur noch einen schwächlichen Greis, der sich, erschrocken über seine eigene Reaktion, sofort ans Putzen der Kaffeeflecken auf dem Tischtuch machte und sich dabei geradezu erschütternd unterwürfig entschuldigte.

»Es … tut mir leid, ehrlich. Ich wisch das auf, wir können das Tuch auch reinigen lassen, ich zahl das.«

Inzwischen hatte sich Malte wieder gesammelt. Er stand auf und bat seinen Vater mit fester Stimme: »Lass es. Bitte geh einfach.«

Als der trotzdem weitermachte und unbeholfen ein Taschentuch aus seiner Jacke fummelte, um kniend den Teppich trocken zu tupfen, und damit alles nur noch schlimmer machte, reagierte Malte nicht länger als das Kind seines Vaters, sondern als der Mann, den der aus ihm gemacht hatte.

»Los, raus hier!«, befahl er streng und zeigte zur Tür.

Sein Vater hielt beim Putzen inne und warf ihm einen hilflosen Blick zu.

Aber für Malte gab es jetzt kein Halten mehr, er bebte am ganzen Körper und ließ einen so lauten, sich überschlagenden Schrei fahren, dass sein Hals noch Stunden später wie nach einer Verätzung brannte: »RAUS HIER!«

Sein Gebrüll konnte im Treppenhaus unmöglich zu überhören gewesen sein, trotzdem ließ Nathalie sich nichts anmerken, als sie ins Wohnzimmer kam und seinen Vater zum zweiten Mal an diesem Morgen begrüßte: »Hallo, Walter, was führt dich zu uns?«

»Walter geht gerade«, sagte Malte heiser – und war überrascht, als genau das tatsächlich geschah.

Sein Vater nickte Nathalie bloß wortlos zu und verließ den Raum, ohne sich von Malte zu verabschieden.

Kaum hörten sie die Wohnungstür ins Schloss fallen, nahm ihn Nathalie in den Arm und drückte seinen Oberkörper fest an sich, die Arme hinter seinen Schultern verschränkt, wie ein straffer Gurt.

»Tut mir leid«, sagte sie nur.

Um zu verstehen, wie sehr ihm das Wiedersehen zugesetzt hatte, brauchte sie kein Gesprächsprotokoll, keine Tränen, keinen Beweis. Sie wusste, wie tief der Stachel saß. Allerdings war sie es auch, die die ständigen Entzündungen an der Wunde ertragen musste.

»Mir tut es leid«, erwiderte Malte darum. »Mein Ausraster in der Einfahrt, das war scheiße.«

Er lehnte seinen Kopf an Nathalies und schaute über ihre Schulter hinweg aus dem Fenster, wo Schönwetterwolken den ersten milden Tag des Jahres ankündigten. Und genau dort, wo zwei Kondensstreifen einander im eisblauen Himmel kreuzten, entdeckte Malte ihn plötzlich wieder – nach Monaten, in denen er den Makel beinahe vergessen hatte. Er war nichts weiter als ein staubkorngroßer schwarzer Punkt in der Mitte seines Sichtfelds, allerdings einer, der sich, hatte Malte ihn erst einmal wahrgenommen, einfach nicht mehr ignorieren ließ.

»Ich bin wie er, nicht wahr?«

Nathalie legte ihre warme Hand in seinen kalten Nacken, und erst jetzt merkte Malte, wie verschwitzt er war. »Allein, dass du mich das fragst, beweist doch das Gegenteil«, antwortete sie. »Du hinterfragst dich.«

Malte nahm Nathalies Hand von seiner nassen Haut und behielt sie in seiner, drückte einmal fest zu. Vielleicht hatte sie recht mit dem, was sie sagte. Aber vielleicht war es ja auch genau das, was das Ganze für ihn so unerträglich machte: dass er wusste, was er anrichtete, und sich trotzdem nicht dagegen wehren konnte. Er wandte sich vom Fenster ab und ließ seinen Blick durchs Wohnzimmer schweifen, schaute aber weder zu den Familienfotos im Regal noch auf Nathalie und sich im Spiegel gegenüber; stattdessen sah Malte die vergessenen Zigaretten seines Vaters auf dem Tisch und ansonsten bloß triste, kahle Wände, die seinem Makel nicht mehr das Geringste entgegenzusetzen hatten.

***

Ein nasses Taschentuch auf der Stirn: Etwas Besseres ist ihm nicht eingefallen, um sich abzukühlen. Als er es mit der Hand auspresst, läuft das Wasser an seinen Schläfen hinab und rinnt ihm kitzelnd ins Ohr. Fast wundert es ihn, dass ihm noch niemand Hilfe angeboten hat, wie er hier so im Schatten der Birke flach auf dem Boden liegt, besiegt von der Hitze und der Natur und nicht zuletzt seiner eigenen Dummheit. Körperliche Arbeit in der Mittagssonne, davor ein Bier auf nüchternen Magen und eine Nacht fast ohne Schlaf: Malte hätte es wissen können.

Aber er hatte ja auch nicht geplant, hier Unkraut zu jäten, es war vielmehr ein Versuch gewesen, die quälenden Fragen ins Leere laufen zu lassen, seit er Heinz aus dem Augenwinkel zum Parkplatz hat hinken sehen, um zum Krankenhaus zu fahren – allen voran die nach seiner eigenen Schuld: Hätte er die Zeichen früher deuten, entschiedener eingreifen können? Natürlich hätte er das. Aber stand es ihm nicht auch verdammt noch mal zu, sich bis in die letzte Faser seines Körpers gegen diese ungewollte Verantwortung zu sträuben?

Malte breitet seine Arme aus wie für einen Matschengel, spürt sein eigenes Gewicht im Dreck und die Unebenheiten unter seinem Rücken. Trotzdem sind da keine Wurzeln, keine Stängel, keine Büschel mehr, stellt Malte nicht ohne Stolz fest. Zumindest auf ein paar Metern hat er Ordnung ins Chaos gebracht und tatsächlich etwas bewirkt – jedenfalls, bis ihm vor Erschöpfung schwarz vor Augen wurde.

Nun sticht die Sonne wieder aus der Baumkrone hervor und bringt damit auch den Makel zurück, den Malte bei grellem Licht sogar mit geschlossenen Lidern sieht.

Seinen Namen verdankt er Nathalie: »Was ist eigentlich los mit dir?«, fuhr sie Malte bei einem Streit während ihres missratenen letzten Urlaubs an. »Alles kann noch so gut sein, aber du? Du siehst in allem nur noch den Makel!«

Und obwohl sie damit gar nicht spezifisch den toten Pixel in seinem Blick meinte, traf ihre Diagnose ins Schwarze. Mouches volantes, fliegende Fliegen: Allein die medizinische Bezeichnung verriet, dass der Makel, der Malte und damit auch allen anderen den Sommer ruinierte, in Wahrheit nichts Schlimmes war, das ihn eines Tages erblinden lassen würde, sondern bloß eine harmlose Alterserscheinung im Glaskörper seines Auges. Und doch sah er auf hellen Flächen nichts anderes mehr. Beim Lesen hüpfte der Punkt von Wort zu Wort und von Zeile zu Zeile, sodass er sich kaum noch konzentrieren konnte. Am schlimmsten aber war es draußen. Besonders der Strand setzte den Makel perfekt in Szene: Der Himmel über dem Meer konnte noch so herrlich und weit sein, Maltes Blick fokussierte sich trotzdem nur auf diesen winzigen Punkt, der alles Schöne und Gute um sich herum mit der Gnadenlosigkeit eines Schwarzen Lochs verschlang.

»Es ist ein bisschen wie der Planet in Lars von Triers Melancholia, nur als Low-Budget-Version«, scherzte er zwar gegenüber Nathalie, aber in Wahrheit war es gerade diese Lächerlichkeit, die ihn an der Sache am meisten erschütterte: dass ihn etwas so Kleines aus der Bahn warf.

Täglich wurde Malte gereizter und streitlustiger. Baute er nicht gerade wie manisch mit Nora an Sandburgen, um ja nicht aufsehen zu müssen, hielt er es kaum noch aus, mit der Familie Zeit im Freien zu verbringen, wo er, genau wie Nathalie es ihm vorwarf, in allem und jedem nur noch das Schlechte sah. Seine ständigen Wutanfälle, die Dünnhäutigkeit und geringe Belastbarkeit: All das hatte er auf den Stress der letzten Jahre geschoben, auf die vielen Überstunden bei Zacke, die wenige Zeit für sich. Natürlich war ihm immer klar gewesen, dass er für seinen Aufstieg vom einfachen Redakteur zum stellvertretenden Redaktionsleiter eines chronisch unterbesetzten Monatsmagazins mit mehreren Sonderheften und gnadenlos eng getakteten Produktionszyklen einen Preis zahlen musste, zumal mit zwei Kindern daheim und einer Frau, die ebenfalls Karriere machte. Doch dass er im Alltag nicht abschalten konnte, weil sich die Arbeit auch in die Abende und die Wochenenden fraß und er oft sogar krank in die Redaktion ging, war eine Sache gewesen; nun aber gelang es ihm nicht einmal mehr, sich im einzigen Urlaub des Jahres zu entspannen.

Weil er den permanenten Makel vor Augen nicht länger ertragen konnte, zog Malte sich immer öfter zurück und verbrachte bald mehr Zeit allein im abgedunkelten Bungalow als mit Nathalie, Jonas und Nora am Strand, beschämt von dem Gedanken, dass er sich ausgerechnet auf dem Höhepunkt seiner beruflichen Laufbahn, deretwegen er seiner Familie so vieles abverlangt hatte, nichts sehnlicher wünschte, als endlich, endlich zu kündigen.

Und jetzt, einen Sommer später, schließt sich offenbar der Kreis, nur ist es diesmal kein Luxusbungalow am Strand von Koh Phangan, sondern eine heruntergekommene Gartenlaube am Stuttgarter Nordbahnhof, wo er sich vor seiner Familie und der Scham versteckt.

Kaum haben sich seine Augen an die wohltuende Dunkelheit in der Hütte gewöhnt, zwängt Malte seine verschwitzte Hand mühsam in den Handschuh und zündet sich wieder eine der Zigaretten seines Vaters an, die vorletzte. Die bisherigen hat er zwar meist auf der Veranda geraucht, aber eigentlich macht es keinen Unterschied, im Holz der Laube ist ohnehin der Gestank von Jahrzehnten gespeichert. Wäre das Ganze nicht so tragisch, könnte Malte seinen Vater fast beneiden: Ist es nicht vielleicht auch eine Gnade, alles, einfach alles vergessen zu können – sogar sich selbst?