4 Sohnemann

Gleich vergess ich mich, in Maltes Erinnerungen ein Satz wie ein Brenneisen. Genauso wie: Sei leise, dein Papa braucht jetzt Ruhe. Oder: Kein Wunder, dass er seine Zeit lieber allein im Garten verbringt, so anstrengend, wie du heute bist.

Frei nach dem schwäbischen Sprichwort, nicht geschimpft sei schon gelobt genug, war Malte als Kind bereits froh, wenn er niemandem zur Last fiel. Umso denkwürdiger war es, wenn er doch einmal gelobt wurde, und das dann auch noch in der seltenen Konstellation damit, dass er seinen Vater für einen Tag in den Kleingarten hatte begleiten dürfen. Alles, was er dafür tun musste, war, versehentlich barfuß auf eine Schnecke zu treten. Noch heute erinnert er sich genau an seinen Schreck und den Satz, den er machte, an das berstende Gehäuse unter seinem Fuß und den kalten Schleim auf der Haut, an seine Reue und den gleichzeitigen Ekel.

Sein Vater aber lachte: Die Schnecken, die sich nach jedem Regen und in jeder Nacht über seine Pflanzen hermachten, waren bloß lästige Schädlinge. Sein mindestens ebenso lästiger Sohn hatte sich nun also endlich mal nützlich gemacht – und dabei auch noch eine gute Show geliefert. Denn Malte war nicht einfach nur zur Seite gesprungen, sondern dank einer raffinierten Choreografie – bestehend aus einem wenig würdevollen Hüpfer, zwei Ausfallschritten mit rudernden Armen und einem abschließenden Stolperer – auch mit dem Hintern im Beet gelandet. Eigentlich ein klarer Grund für einen Anschiss, hätte sein Sturz nicht so absurd ausgesehen.

Anstatt ihn anzuherrschen, kniete sich sein amüsierter Vater vor ihn, wischte ihm mit einem Tuch den Schleim von der Sohle und suchte die Haut nach Schnitten ab. Mit der warmen Hand seines Vaters am Fuß kam sich Malte ungewohnt behütet vor, ein Gefühl wie heißer Kakao nach einem Winterspaziergang, frischer Bettwäsche nach einem Bad, Wadenwickel in einer Fiebernacht. Alles Dinge, die er nur mit seiner Mutter verband.

»Tut’s weh?«

Malte schüttelte bloß still den Kopf – aus Angst, ein einziges falsches Wort könnte alles ruinieren.

Schon den ganzen Morgen hatte sein Vater schlechte Laune gehabt, weil er sich um seinen freien Tag betrogen fühlte. Die Wochenenden gehörten ihm, daran gab es eigentlich nichts zu rütteln, diesmal aber hatte sich Maltes Mutter durchsetzen können, um ihre krebskranke Schwester in Würzburg zu besuchen.

Doch sein Vater dachte gar nicht daran, Zeit mit ihm zu verbringen. Während er stundenlang die Hecken stutzte, überließ er Malte einfach sich selbst: »Such dir halt eine Beschäftigung, mach Hausaufgaben, was weiß ich.«

»Kann ich dir nicht helfen?«

»Bloß nicht, du machst mir nur doppelte Arbeit!«

Nach zähen Stunden, in denen ihm sein Vater kaum Beachtung geschenkt hatte – und wenn, dann bloß, um ihn pampig zu ermahnen, leiser oder, besser noch: woanders zu spielen –, herrschte zwischen ihnen nun erstmals so etwas wie Nähe.

Auf einmal hatte sein Vater sogar eine Idee für ihn. »Komm mal mit«, sagte er und verschwand in der Laube, um kurz darauf mit einer Schere und einem großen Einmachglas zurückzukehren. Dann beugte er sich über ein Beet und drehte geduldig die Blätter mehrerer Pflanzen um, bis er endlich fand, was er suchte: eine schwarze Nacktschnecke, die er behutsam von der Blattunterseite zupfte und Malte vor die Füße legte. »Hier«, sagte er und reichte ihm die Schere. »Einfach in der Mitte durchschneiden.«

Malte kniete sich vor das Tier und zögerte. Die Schnecke war zwar fleischig und schleimig, aber so, wie sie ihre oberen Fühler mit den winzigen Augen erst schüchtern einzog, dann ganz langsam wieder ausfuhr und mit ihnen neugierig den Finger erforschte, den Malte ihr hinhielt, fand er sie irgendwie auch süß. Sie kroch auf seine Hand und ließ dabei eine kühle Schleimspur zurück, die in der Sonne glänzte wie ein Spalt Licht.

»Und jetzt: schnipp, schnapp«, sagte sein Vater, und Malte dachte sofort an das Bild aus dem Struwwelpeter, vor dem er sich früher so gefürchtet hatte. Dass es im Buch einen Mann gab, der nuckelnden Kindern den Daumen abschnitt, war für ihn schon schlimm genug gewesen, viel entsetzlicher hatte Malte aber das Wie empfunden: Mit davonwehendem Hut und einer Schere, groß wie eine Kettensäge, kam er ins Zimmer gehechtet – plötzlich und ohne Vorwarnung, genau wie Malte es von den Ausbrüchen seines Vaters kannte.

Auch die Schnecke hatte keine Ahnung, was ihr drohte, sie war bereits vertrauensvoll in Richtung Unterarm unterwegs und hatte auf halbem Weg ganz tiefenentspannt einen kleinen, schwarzen Schiss auf Maltes Handgelenk hinterlassen.

Er wollte sie nicht töten. Mindestens genauso groß wie seine Skrupel war jedoch die Angst, seinen Vater zu enttäuschen. Kaum setzte er die Schere an, zog die Schnecke aus Reflex wieder ihre Fühler ein – dann schloss auch er die Augen und schnitt. Ihm wurde sofort schlecht.

Sein Vater strubbelte ihm mit der Hand durchs Haar und legte sie ihm etwas unbeholfen auf die Schulter, die Finger schmutzig und steif wie ein Bund frisch gerupfter Karotten.

»Gut gemacht«, sagte er leise und hätte damit genauso gut sich selbst meinen können, die Hand verschwand jedenfalls gleich danach in der Seitentasche seines Overalls, um eine Zigarette und ein Geldstück herauszufischen. Dann tippte er mit dem Fuß ans große Glas, das er neben Malte auf den Boden gestellt hatte. »Willst du dir was dazuverdienen? Zehn Pfennig für jede Schnecke, die du findest.«

Malte starrte auf das zerteilte Tier auf seinem Arm, angeekelt, zugleich aber auch stolz. Vielleicht war er ja doch gut genug, um seinem Vater im Kleingarten zur Hand gehen.

Die Freude über sein Angebot währte allerdings nur kurz. Mit zwei Bieren und einem Aktenordner unter dem Arm machte sich sein Vater nämlich keine zwei Minuten später auf den Weg zu Heinz und ließ Malte einfach alleine in der Parzelle zurück: ein achtjähriges Kind mit einer Schere und dem klaren Auftrag zum Massenmord.

Offenbar haben sich die Zeiten geändert. Mindestens zwölf Schnecken und drei verschiedene Arten zählt Malte in dem kleinen quadratischen Terrarium, das im Markisenschatten auf Sabines Veranda neben der Bank steht. Auf einer Schicht Erde liegen angeknabberte Salatblätter und Gurkenscheiben, die mit etlichen Luftlöchern durchstochene Frischhaltefolie, die das Terrarium abdeckt, ist mit Wassertropfen benetzt und bietet dadurch anscheinend eine willkommene Erfrischung. Eine Schnecke mit beige-braun gestreiftem Häuschen kriecht kopfüber auf dem Plastik herum und saugt mit ihrem kleinen Mund zielstrebig die Tropfen auf. Fasziniert beobachtet Malte die Wellenbewegung im Inneren ihres durchscheinenden Schneckenfußes und vergisst dabei für einen Moment sogar den beißenden Schmerz in seinen Händen. Sein Vater hätte den Glaskasten wahrscheinlich als überdimensionierte Bierfalle in seinem Beet platziert, um die Schnecken zu Hunderten ersaufen zu lassen.

Überhaupt wirkt Sabines Stückle wie ein Gegenentwurf zum Rest der Kleingartenkolonie: eine bunt blühende, wilde Oase inmitten harter Graskanten und einander klar abgrenzender Beete und Zäune, ganz ohne den spießigen Mief der Achtzigerjahre, der so viele andere Parzellen wie Zeitkapseln wirken lässt. Hier gibt es keine Deutschlandflaggen, keine Gartenzwerge, keine Altherrenwitze auf rostigen Emailleschildern. Stattdessen hat Sabine an mehreren Stellen Insektenhotels aufgehängt und hält sich in einer Kiste am Zauneck ein Bienenvolk, auch sonst scheint es in ihrem Garten eher lebhaft zuzugehen: Der Sandkasten, das Planschbecken und die überall verstreuten Spielzeuge lassen Malte vermuten, dass ihre Kinder kaum älter sind als Nora.

In der Hecke am Weg entdeckt er einen zusammengeknüllten Zettel, tief genug ins Geäst gedrückt, dass er dort nicht aus Zufall gelandet sein kann. Mit seiner linken, etwas weniger entzündeten Hand zieht Malte das Papier hervor, wirft aber erst einen Blick darauf, als er wieder auf der Bank neben dem Schneckenkubus sitzt. Die Seite ist ein Auszug aus einer Unterschriftensammlung gegen das Rauchen im Vereinshaus, unterzeichnet hat sie allerdings bloß einer. Und zwar als A. Hitler.

»Irgendwie sympathisch, oder?«, ruft Sabine aus der Laube.

»Bitte?«

»Na, unsere Schneckchen.«

Sabine kommt mit einer Karaffe Wasser mit Minzblättern aus eigenem Anbau und zwei Gläsern zurück; die Salbe, die Malte überhaupt erst zu ihr geführt hat, klemmt hinter ihrem Gürtel und platzt fast auf, als sie sich zum Einschenken vornüberbeugt.

»Die Kinder lieben sie. Als Haustiere machen die jedenfalls deutlich weniger Ärger als ein Hund«, sagt Sabine und lacht dabei laut auf, ein Geräusch, das Malte in den letzten Tagen öfter entnervt aus der Ferne vernommen hat, ohne es genau verorten zu können. Jetzt kann er ihm nicht nur eine Parzelle, sondern auch ein Gesicht zuordnen – und das ist durchaus sympathisch.

Malte tippt ans Schneckenglas und zeigt auf die flache Muschel, die zur Hälfte aus der feuchten Erde ragt. »Warum die Muschel?«

»Die brauchen Kalk fürs Gehäuse. Eierschalen tun’s auch, aber das ist immer so eine Sauerei«, erklärt Sabine.

»Ich dachte immer, die seien bloß Schädlinge und fressen im Garten alles weg, was man anbaut.«

»Ach, die lassen sich mit den richtigen Kräutern und einem Schneckenzaun leicht fernhalten. Und ein bisschen Schwund ist ja immer, nicht wahr?«

Sie setzt zum Trinken an, klatscht sich dann aber unvermittelt mit der flachen Hand an die Stirn und verschüttet dabei etwas Wasser. »Die Salbe! Manchmal stehe ich einfach neben mir, entschuldige bitte. Schieben wir’s auf die Hitze, ja?«

Sabine reicht ihm die Tube, und Malte ist erleichtert, sich in ihr geirrt zu haben: Er hatte mit etwas Homöopathischem gerechnet. Als er die Creme auf seinen Händen verteilt, empfindet er sie, anders als erhofft, nicht als kühlend. Seine Finger brennen wie in ein Säurebad getaucht, und er muss sich zusammenreißen, um nicht aufzustöhnen.

Beim Unkrautjäten hatte er noch nichts bemerkt. Minuten später fing im Gartenhäuschen jedoch das Brennen an, erst nur an einzelnen Punkten, dann bald überall. Eine harmlose allergische Reaktion, beruhigte sich Malte, erschrak dann aber doch, als er im Sonnenlicht die tiefroten Quaddeln auf seiner Haut entdeckte; am schmerzhaftesten war es, den engen, verschwitzten Handschuh von der rechten Hand zu streifen. Er hoffte, im Vereinshäuschen ein Erste-Hilfe-Set oder einen Medizinschrank zu finden, stand dort jedoch bloß vor einer verschlossenen Tür. Es war sein Glück, dass zufällig gerade Sabine vorbeikam und ihm, als sie seine roten Hände sah, sofort ihre Hilfe anbot.

»Ich hoffe, sie ist hoch genug dosiert, die Salbe ist eigentlich für Kinder«, sagt sie und deutet auf die Spielgeräte im Garten. »Meine Zwerge lassen nix aus. Kein Tag ohne Spreißel, Zecke oder Stich. Hast du Kinder?«

»Zwei.«

»Ach, schön! Wir brauchen unbedingt mehr junge Leute im Verein. Ihr seid aber noch ziemlich neu hier, oder? Ich sehe dich heute zum ersten Mal.«

Malte legt beide Hände um das kühlende Glas, traut sich dann aber nicht mehr, sie wieder zurückzuziehen, weil die Creme in Verbindung mit dem Kondenswasser sofort einen schmierigen Film bildet.

Auf Sabines Frage antwortet er lieber vage: »Ich schnuppere gerade ein paar Tage rein. Vielleicht übernehme ich den Garten meines Vaters.«

»Da hast du Glück. Wenn du wüsstest, wie lang die Bewerber:innenliste ist!«

Obwohl sich Malte ans Gendern in seinen Texten längst gewöhnt hat, ist Sabine die erste Person, die er im Alltag eine Pause im Wort machen hört; damit wiederum würde er sich schwertun, vor allem als jemand, der gerne mal ganze Silben verschluckt. Wieder einer dieser Punkte, bei denen er sich selbst ertappt: Woke ist er immer nur dann, wenn ihn die Umstellung nicht allzu sehr ermüdet.

»Ich dachte, der Kleingarten sei schon lange out.«

»Ganz im Gegenteil, besonders in Städten wie hier im engen Stuttgart suchen immer mehr Familien ein grünes Fleckchen für sich. Nur sind die hier gar nicht erwünscht.«

»Wieso?«

»Schau dich doch mal um! Hier gärtnern überwiegend Rentner:innen. Und die wollen ihre Ruhe. In der Satzung steht zwar, Familien mit Kindern würden bei der Vergabe bevorzugt, aber das ist Quatsch. Ich kenne die Tochter eines Mitglieds, die wartet seit Jahren auf einen Platz, wird aber immer übergangen. Weil sie Kinder hat. Selbst meine Jungs wurden hier schon mal als Pack beschimpft, weil sie angeblich zu laut waren, ganz übel.« Sabine hält kurz inne und trinkt einen Schluck. »Bitte entschuldige, dass ich mich hier so in Rage rede. Ich möchte dir das Ganze ja gar nicht schlechtmachen.«

»Alles gut«, entgegnet Malte. »Ich will doch wissen, worauf ich mich einlassen würde. Wer kommt dann zum Zug, wenn nicht die Familien?«

»Na, es hilft, wenn man Kettenraucher:in und Alkoholiker:in ist.« Sabine lacht. »Und deutsch.«

»Ernsthaft?«

»Im Aufnahmebogen wird tatsächlich nach der Nationalität gefragt. Es heißt zwar, die sei nicht wichtig. Aber man kann ohne Angabe von Gründen abgelehnt werden. Und das alles sorgt dafür, dass der Verein immer mehr vergreist. Wir machen keine Werbung und haben nicht mal eine Homepage, einige haben sich sogar gegen das Schild am Eingang gesträubt. Weil die Alten nicht wollen, dass sich hier in ihrem Reich etwas ändert.«

»Und das müsste es?«

»Dringend. Wenn du möchtest, führe ich dich gerne herum und zeige dir, wo die Knackpunkte sind.«

Malte steht gleich auf, Sabine aber bleibt zögerlich sitzen und wirkt mit einem Mal beschämt, die Wangen rot angelaufen wie vor einem peinlichen Geständnis. »Ich muss mich bei dir entschuldigen, wieder einmal. Wir kennen uns keine zehn Minuten, und eigentlich wolltest du bloß meine Hilfe. Und jetzt bin ich hier mitten im Wahlkampfmodus!«

Genau das hat Malte befürchtet, je länger Sabine über die Missstände in der Kolonie gesprochen hat. Heinz hat ihn vorhin also nicht ohne Grund an die Versammlung am Samstag erinnert. Anscheinend hält er Sabine für eine ernst zu nehmende Konkurrentin. Trotzdem tut Malte überrascht: »Wahlkampf?«

»Am Wochenende stimmen wir über den Vorsitz ab. Ich bin die erste Gegenkandidat:in seit mehr als zwanzig Jahren – und die erste Frau überhaupt, die sich das antut.«

»Es gab zwanzig Jahre lang keine Alternative?«

»Eigentlich noch viel länger, die alten Platzhirsche haben sich den Vorsitz hier von Anfang an gegenseitig zugeschustert.«

»Lupenreine Demokraten, was?«

»So ist es«, sagt Sabine lachend. »Dabei ist die Unzufriedenheit bei den Jüngeren schon lange groß. Schon im Frühjahr gab’s eine spontane Sonderabstimmung über Herrn Dachser, den aktuellen Vorsitzenden – fast die Hälfte hat gegen ihn gestimmt, und das ganz ohne Gegenkandidat:in.«

»Warum gab es keinen?«

»Niemand hat Lust, sich mit den Alten anzulegen. Hier weht ein rauer Wind, weißt du? Es ist gerade ein bisschen wie im Staffelfinale einer sehr deutschen Variante von Game of Thrones«, erklärt Sabine, als sie Malte die Gartentür aufhält, und ergänzt nach einem ihrer spitzen Lacher, die so manchem im Kleingartenverein ein Dorn im Auge sein dürften, allzu passend: »Ha, Game of Thorns

Malte folgt ihr auf den Weg und lacht höflich mit, kommt sich dabei aber genauso verlogen vor, wie es sich für einen von der Gegenseite erkauften Königsmacher wohl gehört.

Spießig fand er den Kleingartenverein als Kind nicht, vielmehr entpuppte er sich, je freier sich Malte mit dem Schneckenglas unterm Arm in der Anlage bewegte, als riesiger Abenteuerspielplatz. Irgendwann ließen sich keine Schnecken mehr in der Parzelle seines Vaters finden, doch weil der sich noch immer nicht wieder blicken ließ, nahm sich Malte kurzerhand auch den Wegrand dahinter vor. Natürlich tötete er die Tiere nicht, das brachte er einfach nicht übers Herz; stattdessen befand er sich als Luke Skywalker auf einer Jedi-Mission, um eine bedrohte Außerirdischenspezies vor den Schergen des Imperiums zu retten. Sein Plan war, die aufgelesenen Schnecken außerhalb der Anlage wieder freizulassen, sobald er sein Kopfgeld kassiert hatte. Und das wurde immer stattlicher: Heike und Jörg aus dem Nachbargarten ließen ihn auch ihre Beete durchsuchen und spendierten ihm dafür eine kalte Limo. Frau Kieninger gegenüber hatte ebenfalls nicht viel für Schnecken übrig, dafür aber noch Gummibärchen von ihren Enkeln. Und selbst Herr Tuçulu, den Malte nur aus den Schimpftiraden seines Vaters kannte, schenkte ihm ein Stück zuckrig-süßes Blätterteiggebäck von seiner Frau, nachdem Malte vier große Weinberg- und drei Nacktschnecken aus seinem Garten evakuiert hatte. Das Einmachglas wurde immer voller und schwerer, darin ein sich windender Schleimklumpen aus mindestens achtzig Schnecken und etlichen weiteren, die an den Seiten und am Deckel klebten und das Glas mit ihrem Schleim immer weiter eintrübten. Je länger Malte seinen Fang betrachtete, desto mehr wich sein Stolz dem Ekel und der Sorge, dass er es in den Augen seines Vaters vielleicht übertrieben haben könnte.

Mulmig ließ ihn so langsam aber auch die Dämmerung werden. Es wurde immer kälter, immer dunkler, immer unheimlicher in der Anlage. Die Wege waren nicht beleuchtet, und auch in den Parzellen gingen nach und nach die Lampen aus, weil sich die Pächter lieber auf den Weg nach Hause machten, anstatt einen kühlen Märzabend ohne Heizung zu verbringen. Als Malte zum Garten seines Vaters ging, war der aber noch immer nicht zurück. Auch in der Laube von Onkel Heinz brannte kein Licht. Malte wagte sich bis zum Eingang vor und spähte durchs dunkle Fenster, horchte vorsichtshalber noch einmal an der Tür: nichts. War es möglich, dass sein Vater aus Gewohnheit alleine nach Hause gefahren war und ihn einfach vergessen hatte?

Zurück auf dem Weg erfasste Malte eine Verlorenheit, wie er sie vorher noch nicht gekannt hatte, groß wie das Weltall über ihm, das eben noch Schauplatz seiner Abenteuer gewesen war, ihn jetzt aber nur noch mit seiner schier unendlichen Leere erdrückte.

»Kann ich dir irgendwie helfen?«

Malte erschrak. Es war Herr Tuçulu, der mit einem kleinen Rollwagen und zwei Einkaufstüten auf dem Weg zum Parkplatz war. »Ich suche meinen Vater.«

»Du bist der Sohn vom Chef, nicht wahr?«

Malte nickte und klemmte seine Arme vor Kälte um die Brust.

»Den findest du sicher im Vereinshaus. Komm, ich zeig dir den Weg.«

Nachdem Herr Tuçulu anerkennend das Schneckenglas begutachtet hatte, folgte Malte ihm zu dem kleinen Häuschen am anderen Ende der Anlage. Hinter den Fenstern brannte noch Licht, aus dem Inneren ertönten Schlager und die polternden Stimmen betrunkener Männer, allen voran die von Onkel Heinz.

»Vielen Dank. Wollen Sie noch mit reinkommen?«

Zunächst lachte Herr Tuçulu nur. »Nett von dir. Aber nein, lieber nicht«, sagte er schließlich, dann drehte er sich um und hob, während er leise kichernd davonging, zum Abschied noch einmal die Hand.

Wäre Maltes Interesse an einer Mitgliedschaft im Weichenherz ehrlich gewesen, es wäre spätestens beim Rundgang mit Sabine erloschen. Die Anlage mit den dreiunddreißig Parzellen wirkt genau wie ein Großteil ihrer Pächter: in die Jahre gekommen und aus der Zeit gefallen. Nur die Gartenzwerge mit Mundschutz und vereinzelte Querdenken-0711-Sticker an Laternen lassen Rückschlüsse auf die Gegenwart zu, ansonsten herrscht allerorten ein spießig-bräsiger Bratwurst-und-Bier-Mief wie in einem verfallenen Lost Place aus der Bonner Republik.

Dementsprechend wundert es Malte kaum, dass sich die Streitpunkte vor allem zwischen den Generationen häufen und sich dann um mehr als bloß die Gartenordnung oder laute Kinder drehen. So hat ihm Sabine nicht nur den allgemeinen Verfall gezeigt, sondern auch Stromkabel, die gefährlich aus dem Boden ragen, verbotenes Pflanzengift, das weiterhin benutzt wird, Laubendächer, in denen noch immer Asbest verarbeitet ist. Vor allem beim Umgangston prallen offenbar Welten aufeinander. Im Vereinshaus sind laut Sabine Saufgelage und Kettenrauchen an der Tagesordnung, ohne dass auf Kinder Rücksicht genommen wird, und bisweilen kommt es auch schon mal zu Gewalt: Beim letzten Sommerfest nahm ein älteres Vereinsmitglied den halbstarken Sohn eines anderen brutal in den Schwitzkasten, im Jahr davor mussten nach einer Schlägerei zwischen zwei Zaunnachbarn sogar Polizei und Krankenwagen anrücken. Das Misstrauen untereinander ist so groß, dass ein Pächter seine Gartenlaube allen Ernstes per Kamera überwacht. Auch Sabine begegnen manche mit offener Feindseligkeit. Als ihnen bei der Führung ein älterer Herr mit Schubkarre entgegenkommt, ignoriert er einfach ihren freundlichen Gruß und eilt mit abgewandtem Gesicht vorbei.

»Nun, im Grunde spielt die Zeit ja für uns«, sagt Sabine mit einem Zynismus, den Malte ihr gar nicht zugetraut hätte, als sie über den mit Stacheldraht gesicherten Zaun zum benachbarten Friedhof schauen. »Irgendwann kommt der Generationswechsel halt mithilfe von Mutter Natur.«

Sie deutet in die entgegengesetzte Richtung. »Witzig ist ja, dass man von hier eigentlich nur wenige Schritte braucht, um einen Fuß ins 21. Jahrhundert zu setzen.«

»Du meinst dieses Urban-Gardening-Projekt?«

»Der Stadtacker fängt ja gleich hinterm Verein an.«

Malte nickt, obwohl er aufgrund der Nähe zum Stückle seines Vaters bislang nie dort gewesen ist. Dabei hat er, als das Projekt im letzten Jahr mit einem Förderpreis ausgezeichnet wurde, für Zacke sogar selbst schon über den Stadtacker geschrieben. Anders als Weichenherz ist er das Gegenteil einer Gated Community; gemeinschaftlich gärtnern dort Familien mit Studierenden, Rentner mit Kita-Kindern, Geflüchtete mit Künstlern. Jeder und jede ist eingeladen, sich basisdemokratisch an dem Projekt zu beteiligen. Malte braucht nicht viel Fantasie, um zu erahnen, mit welcher Inbrunst Heinz und sein Vater die Gutmenschen von nebenan verachten.

»Und du trittst nun zur Wahl an, um hier keinen Stein auf dem anderen zu lassen?«, fragt er.

»Jaja, die große Angst vorm Great Reset«, entgegnet Sabine mit Geisterstimme und lässt dabei verschwörerisch ihre Hände in der Luft vibrieren. »Im Ernst, man kann Veränderungen nicht erzwingen. Aber die richtigen Weichen, die sollte man stellen, sonst wird das nix mit dem Generationswechsel. Dafür muss sich die Gemeinschaft nach außen öffnen und mehr Vielfalt zulassen. Ein Ansatz dafür wären zum Beispiel die vielen verwahrlosten Gärten.«

Einige Meter hinter dem Schubkarrenparkplatz bleibt Sabine an einer Parzelle stehen, die sogar noch heruntergekommener wirkt als die seines Vaters. In der Regenwassertonne hinterm Zaun hat sich eine dunkelgrüne, fast schwarze Brühe gesammelt, und das zerbrochene Laubenfenster zwischen Geweih und ironischem Premiere-Sportsbar-Schild wurde nur notdürftig mit Folie abgeklebt, außerdem ist die Nutzfläche neben der Hütte voller vertrockneter Pflanzen, rostiger Gartenmöbel und undefinierbarem Metallschrott.

»So sehen hier einige Parzellen aus«, sagt Sabine. »Die Pächter sind seit Jahren zu alt oder zu krank, um sich um ihre Gärten zu kümmern. Trotzdem werden die nicht für junge Familien freigegeben.«

»Warum nicht?«

»Wahrscheinlich, weil die Pächter zur alten Vorstandsclique gehören«, mutmaßt Sabine mit überraschender Bitterkeit in ihrer Stimme. »Weißt du, es braucht hier dringend auch einen Mentalitätswechsel. Das eigentliche Problem liegt schon seit Jahrzehnten in der Führung.«

Sabine so über Heinz und seinen Vater reden zu hören, setzt Malte, obwohl ihn nichts davon überrascht, stärker zu, als ihm lieb ist. Mit einem Mal spürt er wieder die drückende Hitze der Mittagssonne und das Brennen an seinen entzündeten Händen, die Panik angesichts seiner unauflösbaren Verstrickung in Verantwortung und Schuld, den Hass auf seinen Vater und sich selbst. Er möchte Sabine keine Minute länger zuhören – und bittet sie dennoch, fortzufahren.

»Das Ganze hat richtig System, verstehst du? Die decken sich gegenseitig bei ihren Schweinereien«, erklärt sie. »Du willst gar nicht wissen, was für Geschichten man sich hinter vorgehaltener Hand über die beiden Garten-Oligarchen erzählt! Der Heinz Dachser und sein Vorgänger, der Walter Eberle, die haben ihre Macht hier schon viel zu lange zementiert.«

Malte muss sich mehrfach räuspern und wünscht sich gerade trotzdem nichts sehnlicher als eine Zigarette, er hustet noch einmal kräftig und sagt mit kratziger Stimme: »Klingt nicht so, als würden die dir kampflos das Feld überlassen.«

»Mit dem Dachser ist jedenfalls nicht zu spaßen«, erwidert Sabine ernst. »Und obwohl ich dir ja eigentlich versprochen habe, keinen Wahlkampf zu machen: Solltest du an der Sitzung am Samstag schon teilnehmen dürfen, wäre deine Stimme sehr, sehr wichtig. Es wird knapp.«

Sabine klopft mit den Händen ihre Hosentaschen ab und findet schließlich einen Ausdruck der Unterschriftenliste für das Rauchverbot im Vereinsheim, von dem Malte ein zerknülltes Exemplar in ihrer Hecke gefunden hat.

»Vielleicht möchtest du ja bei der Gelegenheit schon meine kleine Petition hier unterstützen?«

Für einen Moment zögert Malte, dann nimmt er Zettel und Stift jedoch entgegen und trägt sich gleich ein. »Vielen Dank für die Salbe und deine nette Führung.«

Sabine aber starrt Malte, nachdem sie seinen Nachnamen gelesen hat, zunächst bloß schweigend an. Obwohl sie zuvor fast eine halbe Stunde ohne Punkt und Komma geredet hat, reicht es nun gerade einmal für ein konsterniertes »Oh«.

Natürlich hätte sich Malte auch einen Namen ausdenken können. Aber spätestens am Samstag hätte sie sowieso erfahren, wer er ist: ein echter Eberle.

Die Luft im Vereinshaus war beinahe so trüb wie das vollgeschleimte Schneckenglas unter Maltes Arm. Es war ein kleiner, rustikaler Raum mit einer Bar und fünf Tischen, am größten von ihnen stießen sein Vater, Heinz und drei ältere Männer, die Malte nicht kannte, gerade mit Obstler an und knallten die Gläser dann so fest auf den Tisch, dass die Bierhumpen vor ihnen aneinanderklirrten und ein Zigarettenstummel aus dem vollen Aschenbecher fiel. Während sich die anderen gleich wieder lautstark unterhielten, stimmte ausgerechnet sein Vater bei Griechischer Wein mit ein und traf den Ton dabei besser, als Malte es ihm zugetraut hätte. Zu Hause hatte er ihn nie singen gehört, er kannte seinen Vater nur als stillen, in sich gekehrten Mann oder als Choleriker, der sich nach jedem Wutausbruch nur noch weiter von der Familie abkapselte.

Sehr gut kannte Malte jedoch den Blick, den sein Vater ihm zuwarf, als er ihn an der Tür entdeckte: so vorwurfsvoll und bitter, als wäre die schiere Existenz seines Sohnes bereits eine Zumutung.

»Da bist du ja endlich«, sagte er und meinte wohl in Wahrheit das Gegenteil.

»Bestimmt hat er sich verlaufen.« Heinz lachte laut und stieß Maltes Vater in die Seite. »Haste ihm etwa keinen Plan aufgemalt?«

Von allen angestiert stand Malte ihm Türrahmen, bis ihm einer der Männer einen Stuhl an den Tisch schob. Er nahm schüchtern Platz und stellte das Schneckenglas neben sich auf den Boden, um keinen Anschiss für seinen Übereifer zu kassieren, hatte seine Rechnung aber ohne Heinz gemacht. Der hob das Glas hoch und stellte es mitten auf den Tisch, damit alle es begutachten konnten. Malte erkannte den Zorn und die Abscheu in den Augen seines Vaters, vermutlich hielt ihn nur die Anwesenheit seiner Freunde davon ab, ihm an Ort und Stelle eine Ohrfeige zu verpassen. Die anderen johlten jedoch vor Belustigung.

»Also, das nenne ich Killerinstinkt«, rief Heinz. »Ganz der Vater!«

Der nahm einen großen Schluck Bier und rang sich schließlich ein Grinsen ab. »Ein Eberle macht eben keine halben Sachen.«

Heinz, grölend: »Und wenn, dann nur mit der Schere!«

Nach einer weiteren Runde Schnaps diskutierten die Männer darüber, was mit seinem Fang geschehen sollte, und schaukelten sich dabei immer weiter hoch. Heinz schlug vor, die Schnecken in Bier ersaufen zu lassen, ein anderer wollte sie lieber mit Benzin übergießen und anzünden, ein dritter sogar seine Feuerwerkskörper aus der Laube holen.

Angewidert von der Mordlust der Männer nahm Malte irgendwann seinen Mut zusammen und mischte sich ins Gespräch der Erwachsenen ein, obwohl er dafür einen bösen Blick vom anderen Ende des Tisches erntete: »Es sind meine Schnecken, ich habe sie gefunden. Und mein Plan war von Anfang an, sie am Ende wieder auszusetzen.«

Anfangs amüsierten sich die Männer über Maltes Zwischenruf, die Stimmung drohte allerdings jäh zu kippen, als einer von ihnen im Übereifer einen zusammengeknüllten Pilskragen auf seinen Vater schnippte und frotzelte: »Haste deinen Sohnemann etwa zum Weichei erzogen, Walter?«

Heinz ging eilig dazwischen. Er legte die Hand auf die Schulter seines Freundes und hakte beschwichtigend ein: »Der Junge hat recht, wir sind doch keine Unmenschen. Wir sollten die Tiere freilassen. Haben wir nicht vorhin erst lange darüber gesprochen, was wir wegen der Siebzehn unternehmen sollen?«

Alle fünf Männer brachen in herzhaftes Gelächter aus, selbst Maltes Vater wischte sich Bier von seinem Mund, weil er so unerwartet hatte losprusten müssen. Und damit war die Sache beschlossen.

Weil die Schnecken natürlich niemand zählen wollte, kauften sie Malte das Glas für überschlagene zehn Mark ab und machten sich dann mit ihm im Schlepptau auf den Weg durch die düstere Kleingartenkolonie – torkelnd zwar, aber mit der Entschlossenheit von Männern auf einer Mission. Als sie an einem Zaun stehen blieben und sein Vater den Generalschlüssel von seinem Gürtel löste, der ihm als Vorsitzender zustand, begriff Malte, was Heinz mit der Siebzehn gemeint hatte: Es war die Nummer einer Parzelle. Nur war es nicht bloß irgendeine Parzelle, sondern ausgerechnet die vom netten Herrn Tuçulu.

Malte blieb im Dunkeln zurück und setzte als Einziger keinen Fuß in den Garten. Anstatt die Männer daran zu hindern, Herrn Tuçulus Beete mit seiner Schneckenarmada zu verseuchen, sah er bloß schweigend zu und behielt seine Hände in den Hosentaschen, wo sie vor Kälte so stark zitterten, dass er beinahe glaubte, die Münzen darin klimpern zu hören.

Damals war seine Scham so groß, dass es Jahre dauerte, bis er die Anlage wieder betrat, nun ist genau umgekehrt: Malte entschließt sich erst, nach Hause zu gehen, als er es unmöglich länger hinauszögern kann, ohne sich in weitere Lügen zu verstricken.

Dann kehrt er an der Haltestelle Mittnachtstraße jedoch aus einem spontanen Impuls heraus einfach um, biegt wieder zurück in die Parallelstraße und dann in den Weg Richtung Nordbahnhof ab, vorbei am Stadtacker und dem Containerdorf, vorbei an den Wagenhallen. Der Weg wird immer dunkler und damit auch unheimlicher, selbst Malte fühlt sich hier unwohl und malt sich deshalb nur ungern aus, wie sich die Frau vor ihm gerade fühlen muss.

Abstand halten, Tempo rausnehmen und Blickkontakt vermeiden, wenn möglich sogar die Straßenseite wechseln: Diese Regeln hat Malte verinnerlicht, seit er für Zacke einen Artikel über die Angst von Frauen im nächtlichen Stuttgart geschrieben hat. Er weiß es also besser und kann trotzdem nicht anders. Er muss einfach wissen, ob sie es ist. Von hinten sind es jedenfalls dieselben gewellten schwarzen Haare, ist es derselbe selbstbewusste Gang. Die Frau im Mai trug einen knielangen Parka, der eng genug anlag, dass er ihre Schwangerschaft nicht verbergen konnte, die vor ihm ist in Jeans und weiter Bluse unterwegs, auf dem Rücken einen dieser Retro-Rucksäcke, wie ihn früher Bergsteiger trugen. So einen hatte sie damals auch dabei. Um ihr unauffällig zu folgen, geht sie eigentlich zu schnell. Mittlerweile ist sie gut zehn Meter von ihm entfernt, dabei waren es eben noch höchstens sieben. Malte muss Schritt halten, ohne dass sie sich von ihm bedroht fühlt, darum holt er sein Handy aus der Tasche und probiert es mit einem Trick, der sonst oft Frauen geraten wird: Er gibt vor zu telefonieren und nennt, während er den Abstand zwischen ihnen verkürzt, seine fiktive Gesprächspartnerin immer wieder Schatz und Liebling, erzählt ihr von seinem Tag. Erst als er die Frau endlich eingeholt hat, riskiert er einen unauffälligen Blick zur Seite – und lässt sich dann sofort zurückfallen. Sie ist weder schwanger, noch scheint sie einen Migrationshintergrund zu haben. Als sie sich weit genug von ihm entfernt hat, bleibt Malte stehen, und sein Telefonat ins Leere endet genauso jäh wie sein kurzer Moment der Hoffnung.

Das war sie nicht, die Frau, deren bloßer Anblick seinen verwirrten Vater vor zwei Monaten so sehr in Angst versetzte, als hätte er gerade einen Geist gesehen.

Sie wird uns hier alles kaputtmachen, raunte er Malte damals zu und hielt ihn dabei wohl eigentlich für Heinz. Ich hab dich ja gewarnt!

Es ist kurz vor Mitternacht, als Malte endlich zu Hause ankommt und die Wohnungstür so leise wie möglich aufschließt. Drinnen schleicht er sich direkt ins Bad, um sich das Gesicht und die Hände zu waschen, die Zähne zu putzen, sich mit Parfum einzusprühen.

Ist doch gut, dass die Auftragslage endlich wieder besser ist: So hatte ihm Nathalie auf seine Nachricht geantwortet, dass es heute vielleicht später im Büro werde, und ihn nachher noch einmal an die Feuchttücher erinnert, die er trotzdem zu kaufen vergessen hat. Ein Grund mehr zu hoffen, dass sie bereits schläft.

Im Flur horcht Malte, ob aus einem der Räume Geräusche kommen. Im Wohnzimmer ist es still und in Noras Zimmer sowieso, am Schlafzimmer traut er sich allerdings nur in großen, staksenden Schritten vorbei, bei denen ihm beinahe das Einmachglas aus den Händen rutscht, das er eben noch im Rucksack getragen hat. Bei Jonas brennt noch Licht und womöglich auch ein Flammenwerfer; so, wie es klingt, kommentiert er mal wieder einen seiner Ego-Shooter auf Twitch. Momentan ist Jonas’ Gaming-Kanal Maltes einzige Chance, einen Blick in sein Zimmer zu werfen oder ihn überhaupt reden zu hören. Nur mit Nora hat er es sich bislang nicht verscherzt, als Kleinkind verzeiht sie zum Glück schnell und ist noch so unschuldig und naiv, alle Menschen grundsätzlich für gut zu halten. Darum auch das Einmachglas.

Malte stellt es behutsam auf die Arbeitsplatte in der Küche, holt einige Salatblätter aus dem Kühlschrank und drapiert sie auf der Erdschicht im Glas. Zur Dekoration und als Kalkspender legt er noch die große verschnörkelte Muschel dazu, die er Nora in Thailand am Strand hatte finden lassen, obwohl er sie zuvor heimlich im Souvenirshop gekauft hatte, um sein schlechtes Gewissen nach einem Wutausbruch zu beruhigen. Die faustgroße Muschel nimmt eigentlich zu viel Platz im Glas ein, bedeckt fast ein Viertel der Fläche. Aber es muss diese sein, keine andere. Nora und er haben sie schließlich gemeinsam entdeckt und dann stolz ihrer Mama präsentiert – ein glücklicher Moment, an den sich alle gern zurückerinnern und von dem nur Malte weiß, dass am Anfang eine Lüge stand. Zufrieden befreit er die kleine, puddinggelbe Häuschenschnecke aus ihrer Transportbox, der inzwischen leeren Zigarettenschachtel seines Vaters, und setzt sie in ihr neues Zuhause. Wie Sabine spannt er mit einem Gummiband befeuchtete Frischhaltefolie über die Öffnung und stanzt mit einem Messer Luftlöcher hinein, bindet dann ein Geschenkband ums Glas. Nora hat sich schon so lange vergeblich ein Haustier gewünscht, dass sie, hofft Malte, nun selbst ein solch einfältiges Tier wie eine Schnecke in ihr Herz schließen kann.

Als er sich in ihr Zimmer schleicht und das Glas auf ihren Nachttisch stellt, wälzt sich Nora seufzend von einer Seite zur anderen und sucht mit der Hand unbeholfen nach ihrem Mund. Für einen Moment bleibt Malte im Lichtspalt der Tür stehen und beobachtet lächelnd, wie Nora sofort wieder friedlich wird, sobald sie ihren Daumen gefunden hat. Die Hand bereits am Türknauf hält er plötzlich inne, weil vom anderen Ende des Flurs die Klospülung erklingt. Er zieht die Tür vorsichtig zu und wartet ab, spürt sofort wieder dieselbe Beklemmung wie am Morgen, als er sich vor Heinz unterm Tisch versteckt hat. Nach einigen Sekunden Stille hört er den Wasserhahn und das Schloss der Badtür, dann Nathalies schlurfende Schritte in den dicken Hausschuhen, auf die sie selbst im Sommer nicht verzichten will. Zu seiner Erleichterung läuft sie an der Tür vorbei und verschwindet gleich wieder im Schlafzimmer.

Um sicherzugehen, dass sie einander nicht begegnen, wartet Malte lieber noch eine Weile ab, zählt erst bis zehn, dann noch einmal bis zwanzig, ehe er es wagt, das Zimmer zu verlassen. Zurück im Flur ist das Erste, was er sieht, sein stinkender Handschuh, den Nathalie auf den Schuhschrank gelegt haben muss; er ist ihm beim Hereinkommen wohl aus der Tasche gefallen. Malte hält sich seine Hand an die Nase, und sie riecht trotz aller Gegenmaßnahmen so stark nach Tabak, dass er fast würgen muss. Im Badezimmer wäscht er sich die Hände deshalb noch einmal und drückt dabei fast die halbe Tube seines Aktivkohle-Waschgels aus, eine pechschwarze Masse, die sich, als Malte sie zerreibt, sofort in weißen, reinigenden Schaum verwandelt; ein fast beruhigender Anblick, würde unter dem Wasserstrahl nicht gleich wieder seine wunde, brennende Haut zum Vorschein kommen.