13 Denkmäler

Das Gleisfeld vor ihm ist vom Schienennetz abgetrennt und eingezäunt worden, Zeichen der Erinnerung heißt es in nüchternen Buchstaben an der langen Wand aus Betonelementen, die die Gedenkstätte von der Straße abschirmt. Mehrere Tausend Namen erstrecken sich quer über die gesamte Innenseite, ein Panorama unerträglicher und unverzeihlicher Schuld, das weder mit den Augen noch mit dem Verstand zu fassen ist. Nach all dem Bier und Schnaps im Vereinsheim fällt es Malte aber sogar schon schwer, die Buchstaben direkt vor seiner Nase zu erkennen. Bis zur Kleingartenkolonie auf der gegenüberliegenden Straßenseite sind es keine fünfzig Meter. Wie viele von den Gründungsmitgliedern, fragt er sich, sind wohl damals dabei gewesen, als all die Menschen an diesen Gleisen in den sicheren Tod deportiert wurden, wie viele haben weggeschaut?

Er nimmt einen Schluck aus der Flasche und muss würgen, wankt aus Respekt vor diesem Ort gleich wieder zurück auf den Gehweg. Den Schnaps schmeißt er ins nächstbeste Gebüsch und den Deckel auf die Straße, ohne dass es seiner Wut gerecht wird, das Geräusch des Aufpralls ist lächerlich dünn, das Aluminium nicht einmal verbogen. Malte stampft den Deckel platt, aber die Genugtuung bleibt erwartungsgemäß aus.

Seine eigene Schuld braucht keinen Namen an einer Mauer. Das Opfer, das sein Vater, Heinz und er zu verantworten haben, hatte vermutlich ohnehin noch keinen. Eines Tages aber hätte es einen Namen gehabt, ebenso wie eine Zukunft, ein Leben, eine Familie. Ob sein Vater die Frau gesehen hat, als er mit dem Volvo Selbstmord begehen wollte, spielt keine Rolle. Es spielt auch keine Rolle, dass er offenbar noch in letzter Sekunde abzudrehen versuchte und deshalb nicht frontal, sondern mit dem ausbrechenden Heck gegen die Mauer prallte. Die Frau selbst trug von ihrem Sprung zur Seite nur leichte Blessuren davon, ein glimpflicher Ausgang war es trotzdem nicht. Sie war in der der zwölften Woche schwanger. Und das ist sie, die für Malte so unerträgliche Konsequenz aus seiner Weigerung, Verantwortung zu übernehmen: dass ausgerechnet sein todessehnsüchtiger Vater noch am Leben ist und dieses Baby nicht.

Walter hat das auch für dich getan, Malte.

Zwar musste die Frau nur eine Nacht zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben, trotzdem ist Maltes Angst groß, ihr dort vielleicht zu begegnen. Noch kennt er nur den Namen der Sechsundzwanzigjährigen. Noch hat Melanie Kienzle kein Gesicht für ihn. Ein Grund mehr, niemals einen Fuß in das Krankenzimmer seines verdammten Vaters zu setzen.

Nach einigen Schritten ist Malte wieder auf der Höhe des Kleingartenvereins und bleibt unschlüssig stehen. Er kann jetzt nicht einfach nach Hause gehen, nicht in diesem Zustand, nicht nach dem, was am Morgen in der Küche passiert ist. Malte biegt in den dunklen Seitenweg ein und hört Musik, die sicher aus keiner der Parzellen kommt, der Rhythmus ist vertrackt, elektronisch, der Bass so laut und tief, dass selbst die Bienenwaben in den Kisten am Wegrand vibrieren dürften. Eine Party im Containerdorf, nimmt er an, vielleicht ja eine Vernissage mit DJ oder irgendetwas anderes, das ihn ablenken, seine Gedanken zerstreuen kann. Um seinem Vater nicht zufällig über den Weg zu laufen, hat er sich früher nie zu den ausrangierten Waggons und Containern gleich hinter dem Weichenherz getraut, lieber schickte er Felix oder andere aus der Redaktion vor, wenn es etwas über die Off-Kultur aus den Interimswerkstätten zwischen Stadtacker und Wagenhalle zu berichten gab. Jetzt ist es aber nicht mehr sein Vater, der ihm Angst macht. Jetzt sind es seine eigenen Gedanken, vor denen er sich fürchtet, sind es die Bilder, die vorhin im Vereinsheim so unvermittelt in seinem Kopf aufblitzten.

Malte beschleunigt seinen unrunden Gang und fällt fast hin, findet gerade noch so Halt an einem Ast. Der Kiesweg zwischen den Bäumen ist ihm zu dunkel und einsam, schon deshalb will er so schnell wie möglich zu der Party und dort allein unter Fremden sein, unbeachtet, aber im Zweifelsfall unter Beobachtung.

Auf dem Stadtacker angekommen wird es sofort heller. Endlich ist Malte wieder unter freiem Himmel und kann weiter blicken als nur bis zum Zaun der nächsten Parzelle. Hier gibt es keine heruntergekommenen, asbestverseuchten Gartenlauben. Die Gemeinschaftsbeete sind zwar abgesteckt, aber nicht voneinander abgegrenzt, alles wirkt offener und einladender als im Labyrinth der Freudlosigkeit nebenan. Vieles, was Malte mit seinem Handy anleuchtet, ist selbst gemacht und improvisiert, aus abgehobelten Paletten sind Kräuterbeete und Sitzgelegenheiten geworden, aus gestapelten Autoreifen Hochbeete. Es gibt einen großen Käfig mit Meerschweinchen und Kaninchen, eine Kinderschaukel unter einer Trauerweide und einen Sandkasten, eine Grillstelle für alle. Der Übergang zu den Kunstwerkstätten ist fließend. Schon von Weitem sieht Malte den grün angestrahlten, alles überragenden Stahlturm und bald darauf den ersten mit Graffiti übersäten Waggon sowie einen Container mit eigens konstruierter, futuristisch anmutender Dachterrasse. Überall sind Skulpturen und Kunstwerke aus Metall, kreative Zweckentfremdungen oder Schrotthaufen mit Steampunk-Flair zu entdecken. Selten hat Malte zwei so unterschiedliche Welten derart nahe beieinander gesehen.

Er folgt weiter der Musik und den flackernden Lichtern, hört bereits die ersten Stimmen. Ein junges Paar, beide mit Bierflasche in der Hand, kommt ihm entgegen und teilt sich auf die gegenüberliegenden Enden des Toiletten-Wagens auf. Kaum biegt Malte um die Ecke, ist er schon mitten im Geschehen. Es sind höchstens vierzig Leute, einige tanzen vor einem zur DJ-Kanzel umfunktionierten Bauwagen, andere gruppieren sich um die Stehtische vor dem Ausschank, sitzen auf Picknickdecken, lehnen sich ans Blech von Containern. Es wirkt auf Malte eher wie eine interne Szeneparty als wie ein großes Event, ein semi-öffentlicher Abend unter Freunden, der vielleicht noch nicht einmal bei Facebook beworben wurde. Trotzdem entdeckt er das eine oder andere bekannte Gesicht aus seiner Zeit als Redakteur, Tina von der Öffentlichkeitsarbeit des StadtPalais, Markus Lohmeyer vom Theater Rampe, eine Frau von diesem Künstlerinnenkollektiv jakARTa, das er vorletztes Jahr interviewt hat, deren Name ihm aber nicht mehr einfällt. Und den DJ natürlich.

Um keinen Blickkontakt zu riskieren, macht Malte einen Bogen um den Bauwagen. Schlimm genug, dass Axel Jonas die Sache mit der PR-Broschüre gesteckt hat; dass sich sein Vater nachts betrunken auf Künstlerpartys herumtreibt, anstatt nach Hause zu kommen, muss er nicht auch noch von seinem großen Vorbild erfahren.

Nachdem er sich ein Bier gekauft hat, stellt sich Malte dennoch in die Nähe der Tanzfläche – mit dem Rücken zu Axel und gleich neben ein tanzendes lesbisches Pärchen, das ihm, hätte Heinz nicht vorhin erst das Thema angeschnitten, vermutlich gar nicht aufgefallen wäre. Es ist lange her, seit er auf einer Party war, die letzte war sein Abschied aus der Redaktion im Herbst und endete erst am frühen Morgen im Oblomow. Eigentlich hat er es nicht vermisst, auszugehen. Nun tut es ihm jedoch gut, in einer Sommernacht unter Menschen und freiem Himmel zu sein und sich einfach auf die Stimmung einzulassen.

Erst wippt er nur leicht mit einem Bein zum Takt und behält das andere fest im Stand, es dauert aber nicht lange, bis er sich auch mit dem Rest des Körpers bewegt, anfangs noch steif und bemüht, dann immer selbstvergessener. Schon nach wenigen Minuten ist es ihm egal, ob ihn Axel oder sonst wer erkennt, im Gegenteil sogar, beim Tanzen sieht sich Malte immer wieder um, ob jemand hier ist, mit dem er früher schon einmal gefeiert hat, er sehnt sich plötzlich nach Gesellschaft und Rausch, nach Leichtigkeit. Kurz spielt er sogar mit dem Gedanken, Felix eine Nachricht zu schicken, und sucht in den versprengten Gruppen abseits der Tanzfläche nach dessen Gesicht. Zu seiner Überraschung entdeckt er dort dann aber jemand ganz anderen: eine Schwangere in einem knielangen, offenen Parka, die sich angeregt mit der Frau von jakARTa unterhält. Und diesmal ist sie es wirklich.

***

»Wie ist das mit dem Hund überhaupt passiert?«

»Welcher Hund?«

Malte blieb für einen Moment stehen und sah seinem Vater nach, der einfach weiterging und trotz etlicher anderer Schlüssel an seinem Bund sofort den richtigen auswählte, um das Tor nach draußen aufzuschließen. Heinz hatte recht: Hier in der Anlage bewegte er sich noch immer überraschend sicher. Ohne die jahrzehntelang eingeprägten Automatismen wirkte er dagegen schnell verloren. Auf dem Weg zum Auto war er zunächst falsch abgebogen, hatte nach einigen Schritten aber innegehalten, um sich dann doch für die Gegenrichtung zu entscheiden. Obwohl er nur drei Schnäpse getrunken hatte – eine Menge, die ihn früher überhaupt erst in Schwung gebracht hätte –, schwankte er so stark, dass Malte kurz mit sich rang, ob er sich nicht besser bei ihm einhaken sollte. Dann fiel ihm wieder ihr Kampf zwei Stunden zuvor ein, die Hände seines Vaters an seinem Hals und dessen verzerrtes Gesicht ganz dicht über seinem eigenen. Diese Nähe, vor allem die Körperlichkeit der Situation, war kaum zu ertragen gewesen. Voller Ekel dachte Malte an den Schweiß und den Speichel zurück, an den Geruch, dem er sich nicht entziehen konnte. Nie wieder wollte er ihm so nahe sein. Trotzdem schloss er zu seinem Vater auf, um wenigstens auf derselben Höhe zu sein, sollte er stürzen.

»Ich rede von dem schwarzen Hund, den wir da gerade begraben haben«, sagte er.

»Darüber weiß ich nichts«, antwortete sein Vater mit einer fast kindlichen Lammfrömmigkeit in der Stimme. »Das musst du Onkel Heinz fragen.«

Kaum sahen sie den schief geparkten Volvo am Ende des Bürgersteigs, zog er seinen Autoschlüssel aus der Tasche und scherte wie selbstverständlich auf die Straße aus, um zur Fahrertür zu gelangen.

Malte streckte seinen Arm aus. »Ich fahre.«

»Nix da. Ich hab kaum was getrunken.«

»Es ist nicht der Alkohol«, erwiderte Malte streng und hoffte, dass sein Vater weder auf Streit aus war noch Maltes eigene Fahrtüchtigkeit infrage stellte. Denn natürlich hätte er nach den Schnäpsen, die Heinz ihm aufgedrängt hatte, ebenso wenig fahren dürfen wie sein Vater. Aber was blieb ihm anderes übrig?

Sein Vater sah bedächtig nickend ins Leere, dann drehte er sich um und reichte ihm kommentarlos den Schlüssel. Genau wie bei ihrer langen Diskussion vorhin war er sich darüber im Klaren, was mit ihm los war; anders als in der Laube, wo er sich phasenweise noch entschlossen und kämpferisch gegeben hatte, wirkte er nun jedoch niedergeschlagen, geradezu besiegt. Er öffnete ganz langsam seinen Mund und schloss ihn gleich wieder, schien etwas sagen zu wollen, das er dann aber doch nicht über die Lippen brachte.

»Ich zeig dir den Weg«, stieß er bloß heiser hervor und ging ums Auto herum zur Beifahrertür, wo er sich jedoch erst einmal eine Zigarette ansteckte, anstatt einzusteigen.

Malte lehnte sich mit verschränkten Armen aufs Autodach und spürte, wie seine Ungeduld mit jedem Zug wuchs. Ihre Fahrt nach Plieningen würde mehr als zwanzig Minuten dauern, seine U-Bahn zurück bräuchte sogar doppelt so lange.

Dann fiel sein Blick auf den Schriftzug an der gegenüberliegenden NS-Gedenkstätte – und ihm wurde schlagartig bewusst, dass dieser Abend womöglich die letzte Erinnerung an seinen Vater sein würde, ein Abschied. Er schaute ihm beim Rauchen zu und hörte das Knistern der Glut, als sein Vater einen letzten, besonders tiefen Zug nahm. Plötzlich war da ein Bedauern, mit dem Malte nicht gerechnet hatte. Er wollte nicht, dass dieser Moment endete. Er wollte, dass sie hier weiter beieinanderstanden und schwiegen. Worte hätten ohnehin bloß alles ruiniert.

»Kann ich auch eine?«, presste er mit belegter Stimme hervor und war dankbar, dass sich sein Vater ebenfalls noch eine Zigarette anzündete.

Hatte er eben noch geglaubt, das einzig Richtige zu tun, waren da jetzt auf einmal Zweifel: Vielleicht war ihre Abmachung in der Laube ein Fehler gewesen. Vielleicht verdiente sein Vater trotz allem, was sie trennte, ja doch noch eine Chance, verdiente er Beistand oder wenigstens Mitleid.

Und dann lief sie an ihnen vorbei: eigentlich bloß eine ganz gewöhnliche Spaziergängerin mit Handy am Ohr, die Malte und seinem Vater keinerlei Beachtung schenkte. Weil sie sich in einer Sprache unterhielt, die er nur grob dem Balkanraum zuordnen konnte, verstand er sie zwar nicht, doch sie war offensichtlich bester Laune, lachte einmal sogar laut auf.

Sein Vater dagegen wirkte, beide Hände an die Oberkante der offenen Beifahrertür gekrallt, plötzlich wie unter Schock. Sekundenlang stand er einfach nur regungslos da, abwartend wie ein Tier, das sich tot stellt; kaum war die Frau um die Ecke in Richtung der Haltestelle Mittnachtstraße abgebogen, knallte er die Tür zu und lief nervös neben dem Wagen auf und ab, schüttelte dabei pausenlos den Kopf. Seine Bewegungen waren genauso fahrig wie sein Blick, immer wieder flüsterte er etwas vor sich hin, das Malte nur als Zischen wahrnahm, ein Druckkessel kurz vor der Explosion.

Dann ging er mit gerecktem Zeigefinger auf Malte zu und raunte leise, deshalb aber nicht weniger scharf: »Sie wird uns hier alles kaputtmachen. Ich hab dich ja gewarnt!«

Malte machte einen Schritt zurück und streckte ihm seine offenen Hände entgegen, eine Geste irgendwo zwischen Beschwichtigung und Abwehr. »Wovon zur Hölle sprichst du?«

Sein Vater zeigte in die Richtung, in die sie gegangen war. »Ihren Bauch hast du ja wohl gesehen! Sorg ja dafür, dass die das wegmachen lässt, ich mein das ernst. Sonst kann ich hier für nix mehr garantieren, mein Freund

In der Stimme, mit der sein Vater ihn – oder wen auch immer er damit eigentlich meinte – sarkastisch Freund nannte, lagen Bitterkeit und Verachtung, viel mehr aber noch eine tiefe Enttäuschung. Der alte Mann drehte sich um, setzte sich einfach ins Auto und zog die Tür zu, zündete sich im Inneren dann gleich noch eine Zigarette an, die er in schnellen, gierigen Zügen rauchte. Als eine zentimeterlange Aschesäule in einem Stück herunterfiel, machte er keine Anstalten, sich den Dreck von der Jacke zu wischen.

Malte stieg lieber noch nicht ein. Er hatte die schwangere Frau, vor der sich sein Vater so fürchtete, noch nie gesehen. Aber vermutlich galt das nicht nur für ihn: Sie war vielleicht Ende zwanzig, Anfang dreißig, und so, wie Malte es einschätzte, kaum weiter als im fünften Monat. Woher hätte sein Vater sie überhaupt kennen sollen? Zumal das ja offenbar nicht auf Gegenseitigkeit beruhte: Für sie waren die zwei rauchenden Männer am Auto anscheinend nur Fremde gewesen.

Von draußen sah Malte zu, wie sich sein Vater langsam wieder zu beruhigen schien, seine Körperspannung ließ nach, und die Intervalle zwischen den Zügen wurden länger. Irgendwann drückte er seine Zigarette im Aschenbecher aus und nickte ihm durchs Fenster zu, worauf wartest du, sagte sein Blick – und sonst weiter nichts. Er hatte sich wieder gefangen.

»Was war das eben für eine Nummer mit der Frau?«, fragte Malte, nachdem sie losgefahren waren. »Oder muss ich das auch wieder Onkel Heinz fragen?«

Sein Vater verstand den Seitenhieb nicht. Er sah bloß aus dem Fenster und sagte im Plauderton: »Mensch, den habe ich ja schon ewig nicht mehr gesehen. Wie geht’s ihm denn?«

»Du weißt doch, schlechten Menschen geht’s immer gut.«

»Jaja, so ist das.«

»Er wird dich morgen übrigens besuchen kommen.«

»Das ist schön«, murmelte sein Vater und blieb dann stumm. Noch ehe sie die Stadtgrenze passiert hatten, war er bereits mit dem Kopf am Fenster eingenickt.

Im Schlaf sah sein Gesicht so unangebracht friedlich und unschuldig aus, dass Malte für den Rest der Fahrt nur noch nach vorne starrte: auf die Straße, die ihn hoffentlich ein für alle Mal wegführte von seinem Vater und allem, was er angerichtet hatte.

***

Der Kaiser ist nackt. Anders als beim realen Vorbild auf dem Stuttgarter Karlsplatz sitzt Wilhelm I. auch nicht in männlichheroischer Pose auf dem Pferd, sondern mit dickem Wanst und hängendem Kopf auf einem Esel, in seinen Händen die zerbeulte Pickelhaube und um seinen Hals ein Schild mit der Aufschrift: Ich bin ein Kriegsverbrecher. An der Flanke des Esels stempelt ihn ein rotes, dahingeschmiertes Graffiti als cancelled ab.

»Ich wollte ihn ja eigentlich mit nacktem Arsch auf der Pickelhaube sitzen lassen.« Kati grinst und klatscht dem deutschen Kaiser mit der flachen Hand auf den schlaffen Po. »Aber das war Jamie und Tamila dann doch zu krass.«

Das Fake-Denkmal, um das sie in ihrem Atelier herumstehen, ist zwar deutlich kleiner als das überlebensgroße Original, sieht trotz einfacher Materialien wie Gips und Lack aber überraschend echt aus, beinahe wie über die Jahrhunderte verwittert.

Tina vom StadtPalais wirkt jedenfalls beeindruckt: »Saucool, das könnte echt was für uns sein. Darf ich ein Foto machen?«

Als Kati einen Schritt zurückmacht, um aus dem Bild zu gehen, kann Malte es sich nicht verkneifen, einen Beifall heischenden Seitenblick zu Selma zu riskieren. Viel mehr, als dass sie und Kati schon lange miteinander befreundet sind, hat er bislang nicht über sie erfahren können, seit er sich draußen am Getränkestand mit anfangs eher steifem Small Talk in ihr Gespräch mischte. Eine Sache weiß Selma nun aber immerhin schon über ihn: Er steht auf der richtigen Seite. Schließlich war er es, der gleich die ehemalige Zacke-Volontärin Tina ins Gespräch dazuholte, nachdem Kati ihm vom aktuellen Projekt ihres Kollektivs erzählt hatte. Neue Denkmäler für Stuttgart – eine Idee wie gemacht für das junge, diskursfreudige Stadtmuseum, bei dem Tina inzwischen arbeitet. Keine fünf Minuten später waren sie zu viert auf dem Weg zur Wagenhalle gleich hinter den Containern, um sich in ihrem Atelier die erste fertiggestellte Statue anzusehen.

»Wie viele habt ihr denn geplant?«, fragt Tina, nachdem sie den nackten Kaiser von allen Seiten fotografiert hat.

Kati stellt ihre Bierflasche auf dem Sockel ab und holt ein Tablet aus ihrer Tasche, auf dessen Rückseite etliche Sticker kleben, We RUN STGT, FCK AFD, das Logo des anderen Stadtmagazins LIFT, ganz unten der Hashtag #saytheirnames, der an die Ermordeten aus Hanau erinnert.

»Ideen haben wir für mindestens zwölf, aber momentan reicht unser Budget wohl eher für die Hälfte«, erklärt sie.

Manche der Skizzen, die sie Tina auf dem Bildschirm zeigt, sind noch im Anfangsstadium, andere schon so fertig ausgearbeitet, als wären sie Illustrationen für ein Magazin. Malte fällt ein, dass Katis Schwarze Mitstreiterin Jamie – das ja in jakARTa – früher manchmal für Felix bei Zacke gearbeitet hat. Irgendwann kam es jedoch zu einem Zerwürfnis zwischen ihnen, weil er sie meist nur beauftragt hatte, wenn es einen Artikel zum Thema Diversität zu illustrieren galt. Felix zeigte damals wenig Verständnis für ihren Vorwurf, zumal er sich, wie er behauptete, bei Jamies Honoraren stets großzügiger gezeigt habe als bei anderen Illustratorinnen. Als Malte sie vor zwei Jahren zusammen mit Kati zur Gründung des Kollektivs interviewte, ließ sie ihn jedenfalls explizit nur Grüße an die anderen aus der Redaktion ausrichten.

Vermutlich hat sich der anfängliche Fokus auf feministische Themen auch ihretwegen verschoben. Auf einer Skizze, die Kati zeigt, ist das abgewandelte Wappen des Stuttgarter Stadtteils Möhringen zu sehen, hier allerdings mit einer Möhre im Eck anstatt mit der klischeebehafteten Darstellung einer Schwarzen. Ein anderer Entwurf deutet abermals auf eine Statue hin, ein Schwarzer in edler Uniform, der in der linken Hand eine aufgetrennte Eisenkette trägt und in der rechten eine Trompete.

»Wer ist das?«, fragt Tina.

»Das ist Christian Real, ein sogenannter Kammermohr aus dem 17. Jahrhundert. Ein Sklave eigentlich. Hier in Stuttgart wurde er aber als Pauker und Trompeter der Hofgarde zum angesehenen Bürger. Das ist die eine Seite. Später wurde er jedoch Opfer einer rassistischen Gewalttat in der Büchsenstraße.«

»Also geht’s euch bei jakARTa nicht nur darum, historisch fragwürdige Denkmäler umzuwidmen?«

»Genau. Einfach ein paar alte Denkmäler stürzen, das macht ja noch keine neue Erinnerungskultur. Diese Büste hier zum Beispiel zeigt Henriette Alexander aus dem 19. Jahrhundert, die damals –«

Malte macht einen Schritt zurück und klinkt sich aus der Unterhaltung, an der er ohnehin nie wirklich beteiligt war, unbemerkt aus – macht es damit genau wie Selma, die sich ebenfalls von der Gruppe abgesondert hat und nun allein in der Werkstatt umhergeht. Trotzdem bleibt sie aufmerksam: Als Kati ihr einen kurzen Blick übers Tablet hinweg zuwirft, reckt Selma ihr lächelnd zwei Fäuste mit gedrückten Daumen entgegen. Dann schaut sie sich, wohl eher aus Zurückhaltung denn aus Neugierde, wieder im Raum um. Einmal bleibt sie stehen und legt eine Hand auf ihren Bauch, schließt dabei sekundenlang die Augen. Sie scheint ganz bei sich zu sein, während Malte bloß ziellos durchs Atelier stromert und einen Großteil seiner Konzentration darauf verwenden muss, beim Gehen nicht allzu betrunken zu wirken. Als er zur Röhrenkonstruktion an der Decke hochschaut, wird ihm sofort schwindelig. Die Wagenhalle, in der einst mehr als hundert Jahre lang Züge repariert wurden, ist nach ihrer aufwendigen Sanierung gerade erst wiedereröffnet worden, noch riecht die Luft neu, wirken die Räume sauber und steril. Die übertriebene Aufmerksamkeit, die Malte den kahlen Wänden schenkt, kommt darum selbst ihm wie pure Heuchelei vor. Nur: Wie soll er Selma ansprechen?

Sorry, aber kannst du mir zufällig erklären, warum mein Vater sich benimmt, als würde ihn der Teufel holen, wenn er dich sieht?

»Das Warten hat sich gelohnt, oder?«, hört er Selma plötzlich neben sich sagen. Sie nimmt einen Schluck von ihrem alkoholfreien Bier und streicht mit der anderen Hand über eine der Holzwände, die die vielen Werkstattkuben in der Halle voneinander trennen.

»Kein Vergleich zu vorher«, stimmt Malte zu, obwohl er das Innere der alten Halle in Wahrheit nur von Bildern kennt. »Bist du auch Künstlerin?«

»Gott behüte, nein!« Sie lacht. »Als Kind hab ich für meine Mutter mal einen Aschenbecher getöpfert, der ist gleich bei der ersten Zigarette zerbrochen, die sie darin ausgedrückt hat.«

»Du musst das symbolisch sehen. Ein Kunstwerk, das sich selbst zerstört: Banksy macht mit so was Millionen!«

Als sich Selma über seinen Witz amüsiert, fühlt sich Malte in ihrer Gegenwart gleich sicherer; sie scheint ihn zu mögen, spielt sein Spiel mit.

»Du meinst, ich sollte mal bei der Staatsgalerie anfragen?«

»Unbedingt sogar!«

»Ha, ich freu mich schon auf die Interpretationen! Wahrscheinlich wollte ich bloß unterbewusst damit ausdrücken, wie sehr ich ihre ständige Qualmerei zu Hause gehasst habe.«

Instinktiv macht Malte einen Schritt von ihr weg, schämt sich für den Gestank seiner Klamotten nach dem Treffen im Vereinsheim. Trotzdem versucht er, sich nichts anmerken zu lassen, und sagt: »Jetzt brauchen wir nur noch einen Titel. Wie wär’s mit Sollbruchstelle

»Sollbruchstelle von Selma Osmanović«, raunt sie mit ironischer Bedeutungsschwere in der Stimme, muss aber bereits kichern, bevor sie bei ihrem Nachnamen angekommen ist. »Also, wenn das die Kunstwelt nicht erschüttert, was dann?«

Selma bekommt rote Wangen vom Lachen, und Malte lacht mit, nutzt die Gelegenheit, sie sich, jetzt, da sie miteinander ins Gespräch gekommen sind, genauer anzusehen. Er kennt sie nicht, so viel ist sicher, dennoch kommt ihm ihr Gesicht aus irgendeinem Grund vertraut vor. Sie ist hübsch, erweckt aber nicht den Eindruck, besonders viel darauf zu geben; ihre weißen Sneaker scheint sie schon lange zu besitzen, sie sehen abgenutzt, aber gepflegt aus, ein klassischer Fall von Wohlfühlschuhen, auf die man nicht mehr verzichten will; der Parka, den sie auch im Mai trug, ist von Naketano, einem Label, das sich schon vor Jahren aufgelöst hat. Selmas goldener Ehering glänzt dagegen wie neu. Er ist allerdings das einzige Schmuckstück, das sie trägt. Mehrere kleine Löcher an den Ohren und eines am linken Nasenflügel lassen zumindest erahnen, dass das nicht immer so gewesen ist. Alles in allem wirkt sie auf Malte unscheinbar und sympathisch, auf keinen Fall wie eine Frau, vor der man sich so fürchten sollte wie vor Kurzem sein Vater. Offenbar war er tatsächlich bloß verwirrt.

»Mach dich nicht immer so klein, Schatzi!«, ruft Kati vom anderen Ende des Raums herüber. »Erzähl ihm lieber von der Geißstraße, das war ja wohl deine Idee!«

Selma winkt bloß ab. »Ich gönn dir den Fame, Darling!«

»Was meint sie?«

»Ach, nix Besonderes«, erwidert Selma und wischt sich eine Strähne aus der Stirn, die gleich wieder dorthin zurückfällt, wo sie schon den ganzen Abend gewesen ist. Anders als ihrer Freundin Kati scheint es ihr nicht zu behagen, im Mittelpunkt zu stehen, ihre Wangen sind noch immer rot, und ihr Blick richtet sich beim Sprechen überallhin, nur nicht auf Malte. »Die Idee für eines der Denkmäler ist auf meinem Mist gewachsen. Der Brandanschlag in der Geißstraße, sagt dir das was?«

Malte nickt.

Damals, als Teenager, hat er von der Tragödie nichts mitbekommen, weil sein Vater zwar alles las, was er in die Finger bekam, aber nur selten die Zeitung. Obwohl ihm die Anschläge in Solingen und Mölln immer ein Begriff waren, erfuhr Malte von dem angezündeten Wohnhaus in seiner eigenen Stadt erst, als sich der Brand in der Stuttgarter Innenstadt zum fünfundzwanzigsten Mal jährte. Sieben Menschen und ein ungeborenes Baby waren gestorben, sechzehn weitere wurden verletzt. Die meisten von ihnen stammten aus der Türkei oder waren gerade erst aus dem Bürgerkrieg in Jugoslawien geflohen.

»Schrecklich, ja. 1994 war das, oder?«

»Genau. Und an keinem Ort der Stadt wird wirklich an diesen Rechtsterror erinnert. Darum die Idee mit dem Denkmal.«

»Finde ich gut, das ist längst überfällig«, pflichtet Malte ihr bei. »Aber hat sich später nicht herausgestellt, dass der Täter psychisch krank war?«

Jetzt sieht ihn Selma wieder direkt an, und auf einmal ist da eine Strenge in ihrem Gesicht, die Malte ihr gar nicht zugetraut hätte. »Das macht’s leichter, nicht wahr?«, erwidert sie so sarkastisch wie scharf.

Sofort fällt ihm seine missverstandene Bemerkung in der Buchhandlung neulich ein, die Feigheit, mit der er anschließend das Gespräch mit Frau Deniz beendet hat, ihre berechtigte Geringschätzung an der Kasse. Diesmal will er es besser machen.

»Entschuldige bitte, so habe ich das nicht gemeint«, rudert er zurück. »Eigentlich macht das Motiv überhaupt keinen Unterschied. Auch uneigentlich nicht.«

»Alles gut.« Selma lächelt und wirkt, obwohl es doch eigentlich andersherum sein sollte, peinlich berührt. Sie streckt ihm ihre Bierflasche entgegen, und sie stoßen an, dann sagt sie: »Das ist ein wunder Punkt bei mir, konntest du nicht wissen. Wir hätten fast in diesem Haus gelebt, als wir zweiundneunzig aus Sarajewo gekommen sind. Das vierjährige Mädchen, das gestorben ist – das hätte genauso gut ich sein können, wenn meine Eltern nicht zufällig was Billigeres hier im Norden gefunden hätten.«

»Fuck.«

»Yep. Darum ist es auch scheißegal, warum der Typ den Brand gelegt hat. Wir haben uns hier nicht sicher gefühlt, das ist es, was zählt.«

Malte lehnt sich seitlich an die Wand und hofft, dass Selma seine Haltung nicht als taktlos interpretiert, obwohl er in Wahrheit bloß nicht vor ihr ins Torkeln geraten will. »Dann verstehe ich gut, dass du ungern darüber sprichst«, sagt er langsam genug, um über keine Silbe zu stolpern. »Andererseits ist es natürlich auch ein wichtiges Thema, für das jemand wie du mehr Aufmerksamkeit schaffen könnte.«

Selma sieht hinüber zu Kati, die das Tablet wieder in ihrem Rucksack verstaut, und zieht den Reißverschluss ihres Parkas über ihren Bauch; spätestens in ein paar Wochen wird er vermutlich nicht mehr hineinpassen.

»Mag sein. Aber ehrlich gesagt definiere ich mich lieber über andere Dinge in meinem Leben«, sagt sie und lächelt dabei so diplomatisch, dass sich Malte schon wieder mit einem Fuß im Fettnapf wähnt.

Jemand wie du: was für eine dämliche, rassistische Formulierung! Viel mehr als sein Vater, der früher jeder Person, deren Name oder Aussehen ihm auf den ersten Blick nicht »deutsch« genug erschien, die Frage stellte, woher sie denn nun wirklich komme, hat er bislang wohl auch nicht gelernt.

Entsprechend wundert es ihn kaum, dass sich Selma augenblicklich aus ihrem Gespräch löst, als Kati und Tina mit ihrer Besprechung fertig sind und zurück zur Party wollen. Die beiden Freundinnen gehen voraus, und er bleibt an Tina kleben, die so langsam läuft, dass sie immer weiter zurückfallen, zumal sie auf halber Strecke auch noch auf die Idee kommt, sich im Stehen eine Zigarette zu drehen, und nur deshalb eine von seinen annimmt, weil er behauptet, dringend aufs Klo zu müssen. Trotzdem fühlt er sich beim Small Talk mit Tina wie in Geiselhaft, und schon ist es wieder da, das Gift, das ihn bereits so oft die Beherrschung hat verlieren lassen. Seine Ungeduld wächst mit jedem Meter, den sie auf Selma verlieren, schließlich darf er sie auf keinen Fall ziehen lassen, bevor er herausgefunden hat, ob da nicht doch etwas dran war an der Angst seines Vaters. Ob es nicht doch einen Ausweg für ihn gibt.

»Hast du Lust, noch mit in die Stadt zu kommen? Vanessa von der StZ ist mit Felix und ein paar Leuten vom LIFT im Arigato«, fragt Tina und verliert abermals an Tempo, als sie ihr Handy zückt, um eine Nachricht zu tippen.

»Nächstes Mal vielleicht«, erwidert Malte bloß knapp, spart sich die Begründung.

Die anderen sind an der Gabelung zwischen Container City und Stadtacker stehen geblieben. Selma gähnt und nimmt Kati in den Arm. Eine Verabschiedung.

»Wie läuft’s denn mit der Selbstständigkeit?«

»Bestens.«

Selma winkt ihnen noch zu, dann dreht sie sich um und läuft weiter. Ausgerechnet Kati ist diejenige, die bleibt und rauchend auf die Nachzügler wartet.

»Falls das was wird mit den Denkmälern bei uns, musst du natürlich als Erster darüber schreiben!«

»Klar, meld dich einfach.«

Selma nimmt denselben Weg, auf dem er sie damals im Mai auch gesehen hat, geradeaus über den Stadtacker und dann vorbei an Kleingartenverein und Pragfriedhof in Richtung Nordbahnhofstraße.

»Wenn meine Nachfolge feststeht, schicke ich dir gerne den Kontakt – im Herbst wechsle ich nämlich intern. Weißt du, so eine Teilzeitstelle ist mir auf Dauer nicht genug, das kann ich machen, wenn ich mal Kinder hab wie du. Aber hey, falls du zufällig einen etwas stressfreieren Job suchst –«

»Du, Tina, ich muss jetzt wirklich los, meine Bahn fährt gleich. Hat mich gefreut, dich mal wieder zu sehen!«, unterbricht Malte sie jäh und eilt davon, ohne ihr die Gelegenheit zu geben, sich ihrerseits zu verabschieden.

Auch Kati speist er lediglich mit einem kurzen Gruß im Vorbeigehen ab und verweist abermals auf die U-Bahn, die um diese Uhrzeit eigentlich gar nicht mehr fährt. Um zu Selma aufzuschließen, pfeift er auf den kontrollierten Gang, um den er sich eben noch bemüht hat, schwankt dann aber deutlich stärker, als er befürchtet hat. Immer wieder braucht er zusätzliche Schritte und Platz, den der schmale Weg nicht hergibt, landet er mit den Schuhen im Dreck. Als er Selma einige Meter weiter mit angeschalteter Handytaschenlampe vor einem Beet knien sieht, wird er langsamer und vorsichtiger, bleibt mit etwas Abstand stehen.

»Hast du was verloren?«

Selma sieht zu ihm hoch und wirkt zu seiner Erleichterung nicht erschrocken. »Meinen grünen Daumen, befürchte ich. Hast du schon mal eine Zucchini befruchtet?«

Malte schüttelt den Kopf.

»Tja, ich bislang auch nicht, wie’s aussieht.« Sie seufzt und richtet sich auf, das Smartphone noch immer grell erleuchtet in der Hand. Aus Vorsicht, nimmt Malte an.

»Ich muss auch in die Richtung«, sagt er und deutet zum Ausgang des Stadtackers. »Nicht dass du glaubst, ich sei dir gefolgt. Gärtnerst du schon lange hier mit?«

»Seit dem Frühjahr erst, Kati hatte die Idee. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das auf Dauer was für mich ist. Gerade mit Baby wäre was Eigenes natürlich schöner.«

Malte schaut durchs Gitter des Nagetiergeheges auf der anderen Wegseite und sieht einen kleinen, dunklen Puschel aufgeschreckt durchs Heu huschen. »Ach, ich weiß nicht. Meine Tochter würde es hier lieben. Vielleicht mache ich mit ihr demnächst sogar mal einen Ausflug her, ein bisschen schaukeln, die Meerschweinchen füttern, irgendwo picknicken«, sagt er. »Es ist einfach eine ganz andere Welt als bei den Spießern da drüben.«

»Na, das ist nicht schwer«, sagt Selma grinsend. »Schade, dass sie nicht von Dauer ist.«

Malte hat die ganzen Debatten nur am Rande verfolgt, weiß aber zumindest, dass die Tage des selbst ernannten Kulturschutzgebietes rund um Stadtacker und Container City von Anfang an gezählt waren: Spätestens im nächsten Herbst muss die gesamte Fläche für Bauarbeiten geräumt werden, während das Weichenherz bleiben darf, wo es ist und immer war.

»Hauptsache, das Alte muss nicht weichen, oder?«

»So ist das eben in Stuttgart«, stimmt ihm Selma resigniert zu. »Zukunft ist hier immer nur interimsweise zu haben. Es ist ein bisschen wie mit den Denkmälern – die guten sind aus Gips, die miesen aus Stein gemeißelt.«

Als sie zu zweit über den Kiesweg gehen, auf dem sich Malte vor einer Stunde noch so verloren und einsam gefühlt hat, scheint Selma von seiner Gegenwart offenbar nicht mehr verunsichert zu sein; sie schaltet ihr Handylicht schon nach wenigen Schritten aus. Rechts zwischen Sträuchern und Bäumen tauchen jetzt immer wieder die Rückwände von Lauben als dunkle Flächen hinter einem Zaun auf, Schattenbauten aus rissigem Holz und Asbest, die alles Licht schlucken. Ein Fahnenmast mit schlaffer Flagge ragt schwarz in den Nachthimmel empor.

»Vielleicht sollte man die verrotteten Parzellen einfach kapern und die Piratenflagge hissen«, greift Malte das Thema wieder auf.

»Count me in!«, ruft Selma mit gespielter Kampflust in der Stimme, klingt anschließend aber so verbittert, dass Malte hellhörig wird. »Noch besser wär’s nur, wenn wir die alten Nazis einfach da drinlassen und von außen Stacheldrahtzaun hochziehen.«

»Das klingt, als hättest du mal schlechte Erfahrungen gemacht.«

Für eine Weile sagt Selma nichts, Malte hört nur ihre Schritte im Kies und den Reißverschluss, den sie sich bis unter den Hals zieht, obwohl es für ein Uhr nachts noch immer mild ist.

»Ach, nicht so wichtig«, wiegelt sie schließlich ab. »Als ich klein war, hatten wir da auch mal ein Stückle, ein, zwei Jahre nur. Unschöne Geschichte am Ende, willst du lieber nicht hören.«

»Und trotzdem läufst du hier noch freiwillig vorbei.«

»Na ja, ist lange her. Außerdem: Wenn ich um jeden Fleck einen Bogen machen würde, an dem mir Rassismus begegnet ist, käme ich zu Hause nicht mal bis zum Briefkasten.«

Als sie zur Straße gelangen und sich ihre Wege bald zu trennen drohen, wird Malte langsamer und hofft, auch Selma damit auszubremsen; es sind nur noch wenige Meter bis zu der Stelle gegenüber dem NS-Denkmal, an der ihr Anblick seinen Vater im Mai so verstört hat.

»Kannst du dich noch an die Zeit dort erinnern?«

»Ich selbst fand’s eigentlich ganz schön, glaube ich. Ein eigener Garten, das war was Besonderes für mich. Endlich ein bisschen Freiraum, ein bisschen Natur«, erzählt Selma. Zu seiner Erleichterung ist sie es, die nun stehen bleibt. »Warum interessiert dich das überhaupt so?«

Malte verschränkt seine Arme und lächelt gequält. Es ist ihm peinlich, seine Verbindung zum Kleingartenverein zuzugeben. »Also vorweg: Ich selbst finde es auch ganz furchtbar dort – im Gegensatz zu meinem Vater. Aber weil er krank ist, kümmere ich mich nun für ein paar Tage um sein Gartenstück.«

»Oh. Okay.«

»Na ja, und ich dachte gerade … Vielleicht hättest du ja Lust, da noch einmal reinzugehen. Einfach so aus Neugierde. Um dich mal umzusehen und zu schauen, an was du dich noch erinnerst.«

Selma beginnt zu lachen und schaut zu ihren Füßen hinab, schüttelt dabei den Kopf. »Ehrlich gesagt klingt das eher nach einem Ticket für die Geisterbahn.«

»Alles gut, war ja nur so eine spontane Idee«, spielt Malte die Einladung herunter, klingt dabei aber eingeschnappter, als er eigentlich preisgeben wollte.

Er zerdrückt mit der Hand die Zigarettenschachtel in seiner Hosentasche und ringt kurz sogar mit dem Gedanken, ob er sich jetzt nicht einfach eine anstecken, auf seine Rücksicht und ihre Schwangerschaft pfeifen sollte – scheißegal, ob als Trost oder aus Trotz. Dann nimmt er seine Hand jedoch von der Schachtel und klemmt stattdessen den Daumen in seine Faust. Es ist nicht Selmas Schuld, dass ihn ihre Absage so dermaßen entmutigt.

Selma sieht hinüber zum verschlossenen Eingangstor des Vereins und dann wieder zu Malte. »Aber weißt du was? Warum eigentlich nicht? Neugierig bin ich schon, und so eine Chance kriegt man ja nicht alle Tage.«

»Super!«, rutscht es Malte etwas zu enthusiastisch heraus, ehe er nach einer kurzen Pause so gelassen wie möglich fortfährt: »Wenn’s gut läuft, bin ich nur noch morgen dort. Wie wär’s gleich am Vormittag?«

Selma holt ihr Handy heraus und checkt ihren Kalender. »Hm, um elf habe ich noch einen Gerichtstermin.«

Als Malte nichts erwidert, erklärt sie sich – womöglich aus vorauseilendem Eigenschutz – ungefragt selbst: »Ich arbeite übrigens in einer Kanzlei, falls du dich nicht zu fragen traust. Wie wär’s gegen halb zwei drüben am Tor?«

Nachdem sie sich verabschiedet haben, sieht Malte Selma nach, bis sie genau wie beim letzten Mal in die Hauptstraße abgebogen ist, dann steckt er sich eine Zigarette an und lehnt sich an einen Zaun, schaut mit dem Kopf im Nacken dem Qualm hinterher. Schon nach wenigen Zügen wird ihm so schwindelig, dass er mit einem Arm vorsichtshalber den Zaunpfahl umklammert. Am Himmel ist keine einzige Wolke zu sehen, und Malte kann sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal so bewusst Weite wahrgenommen hat, wann zum letzten Mal die Sterne. Keiner von ihnen steht still, sie alle ziehen Kreise um seinen Kopf, lassen sich nicht einfangen von seinem unsteten Blick.

Und plötzlich ist da ein Gedanke, den Malte nicht mehr abschütteln kann, ein Gedanke, der ihn mit einem Mal von aller Last befreit und sie durch pure Euphorie ersetzt: Nichts steht fest. Alles, was wir tun oder lassen hat Konsequenzen in diesem Universum. Natürlich schwirrt irgendwo vor seinen Augen auch sein Makel herum, das weiß Malte, auch ohne ihn sehen zu können; aber wenn es ihm gelänge, nur einen einzigen dieser Sterne zu fixieren und den Blick nicht mehr von seinem Leuchten zu lassen, dann hätte er vielleicht eine Chance, seinen Makel wieder aus den Augen zu verlieren. Vielleicht hat er hier rund um die Haltestelle Mittnachtstraße ja tatsächlich seine dunkelste Stunde erlebt. Aber jetzt, zwei Stunden nach Mitternacht, kann Malte an nichts anderes mehr denken als an den Anbruch eines neuen Tages. Machen Sie das Beste (oder wenigstens etwas Besseres) aus dieser Verantwortung.