14 OK Doomer

Vor zwei Tagen passten seine Beine noch angewinkelt unter den Tisch, ohne ihm Probleme zu bereiten, es war zwar höllisch unbequem, aber zumindest irgendwie auszuhalten. Da hatte Malte allerdings auch keinen Krampf. Er streckt sein Bein aus, soweit es geht, wenige Zentimeter nur, und massiert sich die Wade, verliert dabei fast das Gleichgewicht. Gerade noch rechtzeitig findet er Halt an der Bierkiste und flucht lautlos über das verräterische Klirren, das jedoch, ein schwacher Trost, immer noch besser ist, als jetzt wie eine zusammengekugelte Kellerassel aus seinem Versteck zu kullern.

Malte hat keine Ahnung, wie lange er geschlafen hat, weder seine Smartwatch noch sein iPhone hat noch Akku. Die Sonne steht tief genug, um direkt durchs Fenster zu strahlen, hat aber bereits so viel Kraft, dass er schweißgebadet und wie meliert auf den verstaubten Dielen aufgewacht ist, hustend von den vielen Zigaretten, deren Filter aufgedunsen im Rest einer Wasserflasche schwimmen.

Beinahe hätte er die Schritte nicht gehört: vorsichtig erst, ein Fuß vor dem anderen, dann immer bestimmter, zielstrebig ans trübe Fenster und schließlich zum Eingang. Jemand drückt die Klinke herunter und belässt es nicht bei dem einen Versuch, stemmt sich beim zweiten Mal gegen die Tür, als würde sie bloß klemmen. Malte hört den Schlüsselring am Innenschloss klimpern und dann nur noch das Summen, an das er sich inzwischen so gewöhnt hat, dass er es erst jetzt wieder wahrnimmt. Er hält seinen Atem an und müsste eigentlich husten, versucht, sich vom kratzenden Hals und dem krampfenden Bein abzulenken, indem er die Wandpaneele zählt, es sind zweiunddreißig und damit zwei mehr als die Anzahl der Sekunden, in denen er verkatert die Luft anhalten kann.

Wieder verdunkelt sich der Raum, als jemand durchs Fenster späht; an der gegenüberliegenden Wand erkennt Malte einen schmalen Schatten mit angewinkeltem Arm und einer Frisur wie ein Helm. Seine böse Vorahnung bestätigt sich sofort.

»Ich kann deine Füße sehen, Papa!«, ruft Jonas und klopft ans Fenster. »Jetzt mach schon auf!«

Malte sieht sich um und sucht nach irgendeinem Gegenstand, der ihm als Vorwand dienen könnte, unter den Tisch gekraxelt zu sein, ein Werkzeug oder ein Kabel vielleicht, notfalls sogar eine Spinne, die er vorsichtig einfangen und aus der Laube retten könnte. Auf dem Boden liegt jedoch nur das Feuerzeug, das ihm aus der Hosentasche gerutscht ist. Nicht unbedingt das Erste, was er seinem Sohn unter die Nase reiben will. Er steckt es ein, kriecht mit eingezogenem Kopf unter dem Tisch hervor und prüft mit einem flüchtigen Blick den Zustand der Laube. Auf keinen Fall kann er Jonas hereinlassen. Nach dem Aufschließen schiebt er sich durch einen engen Spalt nach draußen und macht die Tür gleich wieder hinter sich zu.

»Was zum Teufel machst du hier?«, fragt er mit so kratziger Stimme, dass er gereizter klingt, als er eigentlich wollte.

Jonas legt den Kopf schief und runzelt die Stirn, überspielt seine Unsicherheit wie so oft mit ironischem Grinsen. »Ähm … Du weißt schon, dass Mama sich Sorgen um dich macht?«

»Ich hab ihr doch geschrieben, bevor mein Akku alle war.«

»Dass du bei Felix übernachtest.«

»Ja.«

»Tja«, sagt Jonas nur. Demonstrativ wie eine Comicfigur neigt er sich zur Seite und schaut zur Laube hinter Maltes Rücken, setzt dann wieder dieses überhebliche Grinsen auf, mit dem er Malte schon immer schnell zur Weißglut bringen konnte. »Axel hat erzählt, dass du auf der Party warst. Da dachte ich mir, vielleicht sollte ich’s mal hier versuchen.«

Malte nimmt einen tiefen, stechenden Atemzug und weicht dem Blick von Jonas aus, schaut an sich herab. Zusätzlich zu den Staubflecken haben sich unter den Ärmeln und am Halsausschnitt seines T-Shirts weiße Absonderungen vom Schweiß gebildet – und wie er riecht, möchte Malte gar nicht erst wissen. Trotzdem macht ihn die Scham nicht demütig, sondern wütend.

»Tolle Leistung, Sherlock«, sagt er scharf. »Und jetzt fährst du bitte wieder zurück nach Hause.«

Jonas schüttelt den Kopf. »Nur, wenn du mitkommst.«

Malte geht einen Schritt auf ihn zu und macht dabei fast einen Satz, das Gift wirkt wie ein plötzlicher Kraftschub, der kaum zu kontrollieren ist, lässt seinen Arm wie von selbst zu einer Drohgebärde nach oben schnellen. »Du gehst jetzt! Sofort!«, brüllt er. »Du hast hier nichts zu suchen!«

»Ohne dich gehe ich nirgendwohin«, erwidert Jonas und gibt sich unbeeindruckt, obwohl ihm die Anspannung deutlich anzusehen ist. Seine Arme sind fest um den Brustkorb geklammert, und die Lippen, mit denen er ein selbstbewusstes Lächeln simuliert, zittern wie vor Kälte.

Malte nimmt den Arm herunter und weicht wieder einen Schritt zurück, er kann und will Jonas weder schlagen noch vom Grundstück zerren, schämt sich für seinen Reflex. Seine Augen streifen hilflos umher und treffen dann auf die der neugierigen Parzellennachbarn – ein Rentnerehepaar, mit dem er bislang nie mehr als Begrüßungsfloskeln ausgetauscht hat. Beide schauen unverhohlen zu, mischen sich aber nicht ein. Natürlich nicht: Es geht sie ja nichts an. Malte starrt so lange zurück, bis sie sich kopfschüttelnd wegdrehen. »Die Jugend von heute«, glaubt er die Frau verächtlich zischen zu hören, ehe sich beide im Gänsemarsch in eine andere Ecke ihres Gartens zurückziehen.

Als er sich wieder zu Jonas dreht, sieht Malte ihn Blut von seiner Handfläche an der Hose abwischen. »Was ist passiert?«

»Nix Schlimmes«, wiegelt Jonas ab, obwohl der Blutfleck an seiner Hose groß wie eine Kupfermünze ist. »Ich bin irgendwo hängen geblieben, als ich über den Zaun geklettert bin.«

»Warte hier«, sagt Malte und geht in die Laube zurück, um ein Pflaster zu holen.

Jonas folgt ihm trotzdem. Kurz bleibt er unschlüssig im Türrahmen stehen und verzieht sein Gesicht, dann übersteigt seine Neugierde aber offenbar den Ekel. Er tritt ein und stakst vorsichtig zwischen den im ganzen Raum verstreuten Aktenordnern mit alten Sitzungsprotokollen umher, die Malte letzte Nacht unbedingt noch nach Hinweisen durchsuchen wollte.

»Was treibst du hier überhaupt?«

»Recherchen.«

»Klar«, sagt Jonas und tippt mit der Fußspitze gegen die Flasche mit den Zigarettenstummeln. Dann beugt er sich hinunter und hebt den gerahmten Zeitungsartikel aus dem Vereinsheim auf. »Ist das da Opa neben Onkel Heinz? Der sah früher ja fast so aus wie du!«

Malte kniet sich vor den Mülleimer und greift tief mit dem Arm hinein, um das Desinfektionsspray und die Pflaster wieder herauszuangeln, die Heinz ihm gestern vorbeigebracht hat. »Nenn den Drecksack bitte nicht Onkel«, sagt er, ohne sich zu Jonas umzudrehen.

»Also mir hat er im Krankenhaus die Tage zehn Euro geschenkt, damit ich mir was aus der Cafeteria holen kann«, hält Jonas dagegen und fragt, als Malte fündig geworden ist, verwirrt: »Warum schmeißt du so was weg?«

Anstatt ihm zu antworten, nimmt sich Malte einen Stuhl und setzt sich damit vor Jonas, um seine Verletzung zu versorgen. Er legt die Hand seines Sohnes offen in seine und reinigt mit der anderen die Wunde, tupft sie behutsam mit einem feuchten Lappen ab, streicht das eingetrocknete Blut von seiner Haut. Er kann sich nicht erinnern, wann er zum letzten Mal seine Hand gehalten hat, wahrscheinlich, als Jonas noch ein Kind war. Jetzt ist er alt genug, dass jede körperliche Nähe zwischen ihnen das letzte Mal sein könnte. Seine Hand, die warm in Maltes ruht und auch dann nicht wegzuckt, wenn es wehtut, ist riesig im Vergleich zu früher, und doch ist es noch immer dieselbe, die Malte so oft nachts hielt, wenn Jonas Kummer, Fieber oder Bauchschmerzen hatte, Nähe und Fürsorge brauchte, einen Vater. Obwohl Jonas zu ihm hinuntersieht, wagt er es nicht, dessen Blick zu erwidern und damit seine feuchten Augen zu verraten.

»Und jetzt?«, fragt Jonas, als Malte ihm das Pflaster über die Wunde geklebt hat.

»Jetzt fahren wir nach Hause.«

Diesmal ist sie es, die den Frühstückstisch nicht abgeräumt hat. Der Ironie, dass das trotzdem seine Schuld ist, ist sich Malte allerdings bewusst. Nathalie war krank vor Sorge und hat den ganzen Morgen herumtelefoniert, sich bei Felix, den Kollegen in seiner Bürogemeinschaft, sogar in Krankenhäusern nach ihm erkundigt.

Er ahnt, wie schwer es ihr gefallen sein muss, ihm geduldig zuzuhören und sich mit Vorwürfen zurückzuhalten, während er ihr in der Küche zwar nicht alles, aber zumindest den Kern seiner Schuld gebeichtet hat: dass er von der Demenz seines Vaters wusste und sich aus Überforderung vor der Verantwortung gedrückt hat. Dass es an ihm gewesen wäre, diesen Unfall zu verhindern.

Tatsächlich brachte Nathalie, obwohl ihr das Entsetzen anzusehen war, mehr Verständnis für ihn auf, als Malte erwartet hatte – vielleicht auch deshalb, weil er ihr gleich zu Beginn den Wind aus den Segeln genommen hat, indem er zugab, dass sie recht hatte: Er stecke in einer schweren psychischen Krise und brauche Hilfe, das wisse er jetzt.

Nun scheint Nathalies Verständnis jedoch aufgebraucht zu sein. Sie lehnt sich nach vorn, schiebt den Teller mit dem übrig gebliebenen Brötchen beiseite, in das sie beim Zuhören mit dem Finger Löcher gebohrt hat, und sieht Malte jetzt direkt an, anstatt an ihm vorbei zum Kühlschrank zu starren. »Ich kann dir bis zu einem gewissen Punkt folgen, ehrlich«, sagt sie. »Aber ich verstehe nicht, warum du glaubst, noch einmal dorthin zurückzumüssen. Tut mir leid, es will mir einfach nicht in den Kopf. Ernsthaft: Es ist ja wohl wirklich scheißegal, was da morgen bei der Wahl passiert. Dieser Heinz kann dir doch gar nichts.«

»Vielleicht ist es ja umgekehrt?« Malte lächelt triumphierend, wird, als er Nathalies irritierten Blick bemerkt, aber gleich wieder ernster. »Es gibt da einfach etwas, das ich tun muss. Einen Weg, manches wiedergutzumachen.«

»Wem willst du was beweisen?«

»Im Zweifelsfall: mir selbst«, erwidert Malte, ohne nachzudenken, und ist überrascht von der Klarheit seiner Antwort.

Nathalie reibt sich die müden Augen und seufzt, legt ihre Hände übereinander auf den Tisch. Anstatt weiter nervös an dem Brötchen herumzupulen, wackelt sie jetzt mit den Füßen. »Du versprichst mir, dass du dir Hilfe suchst, wenn die Sache vorbei ist.«

»Auf jeden Fall.«

»Ohne Wenn und Aber? Auch wenn das heißt, dass du, keine Ahnung, sechs Wochen in eine Klinik musst?«

»Stopp!«, entfährt es Malte etwas zu laut. »Ich mache alles, was nötig ist. Aber ich lasse euch hier nicht im Stich!«

»Im Stich lässt du uns, wenn du dich saufend in irgendeine schäbige Gartenhütte verkriechst«, erwidert Nathalie streng. Dann atmet sie tief durch und fügt deutlich sanfter hinzu: »Die Kinder brauchen dich. Ich brauche dich. Und zwar gesund.«

Malte, sarkastisch: »Sicher?«

»Mach das nicht, bitte. Dein Sohn ist heute Morgen mit dem Rad quer durch die ganze Stadt gefahren, um nach dir zu suchen. Was brauchst du noch als Beweis?«

»Halt Jonas da bitte raus. Es war nicht fair, ihn so zu instrumentalisieren. Ich brauche niemanden, der mich rettet – schon gar nicht meinen eigenen Sohn.«

»Erstens habe ich ihm verboten, nach dir zu suchen. Er hat es trotzdem gemacht. Und zweitens: Bist du nie auf den Gedanken gekommen, dass es vielleicht andersherum ist? Dass es Jonas ist, der Hilfe von dir braucht?«

Malte schüttelt nur den Kopf. »Blödsinn. Er redet schon seit Wochen, seit Monaten nicht mehr mit mir.«

»Er ist ein Teenager, Malte«, sagt Nathalie und legt ihre Hand auf seine. Sie ist feucht vom Schweiß. »Mit mir redet er genauso wenig. Aber es geht ihm nicht gut, das sehe ich. Er hat monatelang seine Freunde nicht treffen dürfen, zieht sich jetzt, wo er dürfte, aber immer noch zurück. Die Pandemie, der Klimawandel, das alles macht ihm zu schaffen. Was glaubst du, was es mit einem Vierzehnjährigen macht, wenn er sich ständig mit der Apokalypse beschäftigt? Und dann muss er sich auch noch ernsthaft um seinen eigenen Vater sorgen.«

»Ach, komm«, sagt Malte lächelnd und tätschelt zweimal ihre Hand.

Als er dazu ansetzen will, das Thema herunterzuspielen, zieht Nathalie ihren Arm sofort weg und steht ruckartig auf. Sie ist drauf und dran, aus der Küche zu gehen und ihn hier einfach sitzen zu lassen. An der Schwelle dreht sie sich jedoch wieder zu ihm um – weinend.

»Weißt du, warum ich nicht wollte, dass er dich sucht? Weil ich Angst hatte vor dem, was er vielleicht findet.«

Malte steht auf und nimmt Nathalie in den Arm, drückt sie so fest an sich, wie sie es getan hat, als sein Vater plötzlich wiederaufgetaucht war. »Es tut mir leid«, sagt er und muss selbst mit den Tränen kämpfen. »Ich würde doch niemals –«

Er bricht mitten im Satz ab, erinnert sich an die verstörenden Bilder, die beim Treffen mit Heinz vor seinem inneren Auge aufblitzten. Zäsurwunsch, denkt er plötzlich. Ein Begriff, über den er irgendwann in einem Artikel gestolpert war und der ihm damals lange nicht mehr aus dem Kopf ging. Zäsurwunsch. Ein Wort, so nüchtern und scharf wie ein Skalpell. Gestern war nicht das erste Mal, dass er so etwas empfunden hat. Die Bilder waren vielleicht konkreter und damit schockierender, neu war die Sehnsucht danach, eine belastende Situation jäh zu beenden, allerdings nicht.

Nathalie löst sich aus der Umarmung und wischt sich das Gesicht mit dem Ärmel ab. »Ich muss jetzt Nora abholen. Bist du noch da, wenn wir zurück sind?«

»Ich bin gleich verabredet.«

Nathalie nickt. »Tu, was du tun musst. Aber vergiss bitte nicht: Du hast auch uns gegenüber eine Verantwortung.«

Wenige Minuten nachdem Nathalie gegangen ist, kniet Malte im Wohnzimmer vor dem Bücherregal und versucht, sich an die Farbe eines Buchrückens zu erinnern. Hauptsächlich grün, glaubt er, die seitlichen Ausläufer eines schematisch gemalten Gebüsches oder Baumes. Er hat das Cover früher immer als abstoßend, fast gruselig empfunden. Ein Mann und eine Frau, recht einfach und mit harten Konturen skizziert, stehen vor diesem Grün und starren einen mit ausgeschnittenen weißen Augen an. Comicfiguren wie aus einem bizarren Albtraum. Während er die Neuübersetzung von Revolutionary Road aus den Zweitausendern auf Schulterhöhe und in bester Nachbarschaft zu anderen Klassikern einsortiert hat, verdammte Malte die rare DDR-Fassung des Romans aus den Siebzigern irgendwann zu den alten Schinken und längst unbrauchbar gewordenen Reiseführern in Bodennähe. Zum einen, weil das Buch hässlich und abgenutzt ist und mittlerweile in einer besseren Übersetzung vorliegt, vor allem aber, weil es ihn immer zu sehr an seinen Vater erinnert. Als er es endlich zwischen einer zerfledderten Alhambra-Broschüre und einer vergilbten Moby-Dick-Taschenbuchausgabe von 1956 entdeckt, schlägt Malte Das Jahr der leeren Träume irgendwo in der Mitte auf, riecht, anders als erhofft, aber keine Druckerschwärze, sondern den jahrzehntealten Mief eines Raucherhaushalts. Eine Schande. Als er ihn damals von seinem Vater bekam, hat er mit dem Roman nur wenig anfangen können. Mit sechzehn war er einfach noch zu jung für Richard Yates, zu hoffnungsvoll vielleicht auch. Malte blättert zum Anfang zurück und findet gleich, wonach er sucht. Früher hat er in jedes Buch mit Bleistift seinen Namen und das Datum geschrieben, an dem er es bekommen hatte; das hatte er sich von seinem Vater abgeschaut. April 1995 war im Yates notiert.

Malte ballt seine Hand zur Faust und klopft mit ihr triumphierend aufs Laminat, zischt ein fast lautloses »Yes!« vor sich hin. Es passt alles zusammen: das Protokoll des Vereinsausschlusses von Milena Osmanovic vom Mai desselben Jahres und der Streit zwischen Heinz und seinem Vater, an den er sich bisher immer nur wegen der Sache mit dem Buch erinnert hat. Bis er letzte Nacht die Akten in der Laube studiert hat, hatte Malte ihrer Diskussion damals bei der Haushaltsauflösung nie eine besondere Bedeutung beigemessen – langweiliges Vereinszeug eben. Nun aber könnte es, je nachdem, was Selma ihm gleich erzählen würde, zu einem entscheidenden Puzzleteil werden. Vielleicht hat er sie ja wirklich gefunden: eine größere Schuld als seine.

Malte steckt das Buch in den Rucksack und schaut auf die Uhr, überlegt kurz, ob er nicht doch auf Nathalie und Nora warten soll – oder wenigstens noch einmal mit Jonas reden. Er trifft Selma erst in einer Stunde. Andererseits muss er vorher noch die Laube aufräumen und sich Gedanken darüber machen, wie er die Sache am besten angeht.

Ehe er sich auf den Weg zurück zum Kleingarten macht, holt er jedoch noch etwas Gurke und ein Salatblatt aus dem Kühlschrank und legt, nachdem er die angeknabberten Reste von gestern entfernt hat, beides in Noras Schneckenglas. Die Bilder, die Nathalie ihm aufs Handy schickte, haben ihn gerührt: Schnecki in Noras kleiner Hand und auf ihrem Arm. Ein bunter Parcours aus Duplosteinen, den Nora eigens für sie gebaut hat und den das Tier trotz Belohnung am Ziel regelwidrig verließ. Schließlich noch ein herzzerreißend süßes Bild für ihn, das Nora von sich und der Schnecke gemalt hat. Er betrachtet das Glas von allen Seiten, kann Schnecki aber genau wie gestern nirgends sehen. Irgendwann entdeckt Malte sie dann doch – allerdings nicht in der Erde vergraben, sondern auf halbem Weg ins Innere der großen, verschnörkelten Muschel, die er als Kalkspender für ihr Gehäuse mit ins Glas gelegt hat.

»Wenigstens du verstehst mich, Schnecki«, sagt er lächelnd und schaut ihr noch einen Moment beim Kriechen in ihr Versteck zu. Und plötzlich bringt ihn ausgerechnet dieses willkürlich aufgelesene, schlichte Tier auf eine Idee, so abstrus und genial, dass er sie sofort wieder spürt, die Euphorie von letzter Nacht.