18 This is fine

Malte geht nach vorn, in seiner Hand die Karteikarten für die Rede, und alle sehen ihn an. In der ersten Reihe kennt er nur den Sensenmann und Bernd, der ihm eifrig zunickt, trotzdem sind unter den einundvierzig Weichenherz-Mitgliedern, die er im Garten gezählt hat, viele vertraute Gesichter. Wenig überraschend sind die Alten in der Überzahl, weil einige Junge der Versammlung lieber ferngeblieben sind, deutlich überraschender findet Malte dagegen, wie viele von den ganz Alten noch am Leben und gekommen sind – als Stimmvieh natürlich, um die althergebrachte Ordnung zu bewahren. Selbst einer der Männer, die damals zusammen mit Heinz und seinem Vater die Schnecken in Herrn Tuçulus Garten ausgesetzt haben, hat sich mit dem Rollator aus dem Seniorenheim gewagt und beißt nun auf seiner Bierbank etwas unbeholfen in eine von Nathalies Buletten.

Als Malte auf der Veranda angekommen ist, räuspert er sich und wartet noch einen Moment ab, bis Ruhe eingekehrt ist, entdeckt dabei zu seiner Erleichterung endlich auch Sabine. Sie steht ganz hinten an den Zaun gelehnt und nippt an einer Bierflasche. Zum Glück hat es sich rechtzeitig bis zu ihr herumgesprochen, was für einen Aufwand er als Gastgeber betrieben hat. Dass da was im Busch ist.

Es ist für jeden etwas da, dafür hat Malte mit Nathalies Unterstützung gesorgt. Drei Kisten Pils für die Traditionalisten und zwei Sixpacks Craftbeer für die Aufgeschlosseneren, dazu einmal Schnaps, viermal Wein und zweimal Sekt, natürlich der gute von Kessler. Mehrere Kannen Filterkaffee und Tetra Paks mit Saft für diejenigen, die lieber nüchtern bleiben wollen. Die Salate und der üppig bestückte Brotkorb auf dem Biertisch vor der Laube markieren eine unsichtbare Grenze im Büfett. Links davon ein Teller mit Falafelbällchen und Schälchen mit veganen Aufstrichen, Gemüsesticks, Oliven, rechts das Aufgebot einer Achtzigerjahre-Party mit selbst gemachten Frikadellen, Weintrauben-Käse-Spießen, Dosenchampignons und Maltes ganz persönlichem Highlight: einem Mettigel voller Salzstangen, den er mit geradezu diebischer Freude beim Metzger bestellt hat. Ein großer Aufwand zwar – aber alleine das Gesicht von Heinz zu sehen, als er vorhin ahnungslos um die Ecke gebogen kam, machte alle Mühen wett.

Noch größer war Maltes Freude nur, als er Heinz zum zweiten Mal an diesem Abend sprachlos machte und sich gleich zu Beginn der Mitgliederversammlung per Wortmeldung überraschend selbst um den Vorsitz bewarb.

Es dauert noch einige Sekunden, bis auch die Letzten ihr Gespräch eingestellt haben, dann setzt Malte zu seiner Rede an: »Guten Abend, liebe Mitgärtnerinnen und -gärtner. Mein Name ist Malte Eberle, und ich stehe heute Abend hier vor Ihnen, weil ich Verantwortung übernehmen will.«

Während seiner rhetorischen Pause schielt er zu Heinz in seinem Anglerstuhl hinüber; er lächelt zwar selbstgerecht, sein stechender Blick und der Schweiß, der eine Art Kranz um seinen Shirtausschnitt gebildet hat, sprechen jedoch eine andere Sprache. Er ist stinksauer. Und nervös.

»Sie kennen mich nicht«, fährt Malte fort und lässt sich dabei fast zu einer Merkel-Raute hinreißen, »aber viele von Ihnen kannten meinen Vater. Walter Eberle hat diesen unseren geliebten Verein mehr als dreißig Jahre lang geleitet und geprägt, man kann sagen, das Weichenherz war sein ganzes Leben. Ich bin nicht Walter Eberle. Aber – die Älteren von Ihnen haben es sicher längst erkannt – der Apfel fällt nie weit vom Stamm.« Malte deutet auf den Blaumann, den er trägt, zupft ihn auf Höhe seines Bauches nach vorn und nimmt dann einen Schluck aus einer imaginären Bierflasche. »Ein bisschen muss ich da aber wohl noch hineinwachsen.«

Einige der Älteren lachen, Malte hört Flaschen beim Zuprosten aneinanderklirren und den einen oder anderen markigen Spruch unter Männern. Offenbar funktioniert es tatsächlich: Sie sehen in ihm seinen Vater, akzeptieren ihn als einen von sich.

»Mehr als dreißig Jahre lang hat mein Vater hier alles zusammengehalten. Dieser Zusammenhalt – und das wissen alle, die hier heute Abend versammelt sind – ist momentan so gefährdet wie nie. Es herrscht Streit. Die erfahrenen Gärtner unter uns möchten selbstverständlich bewahren, was ihnen schon so lange am Herzen liegt. Sie schätzen die Ruhe im Weichenherz, die Verlässlichkeit, die über Jahrzehnte gewachsene Gemeinschaft. Die Gärtner:innen, die neu hinzugekommen sind, würden dagegen am liebsten alles anders, alles besser machen – und das am besten schon gestern.«

Wieder wird gelacht und zustimmend gemurmelt, während Heinz bloß entnervt die Augen verdreht.

»Was hat das mit mir zu tun, fragen Sie sich jetzt vielleicht. Schließlich bin ich hier noch ganz grün hinter den Ohren. Nun: Ich kenne die Werte, für die mein Vater stand. Ich respektiere aber auch die Bemühungen der Jugend, aus unserer Welt eine bessere zu machen. Das ist ihr gutes Recht, die Zukunft gehört schließlich ihr. Wir sollten den Jungen zuhören. Aber bekanntlich macht der Ton die Musik. Wer glaubt, immer alles besser zu wissen, und Menschen, die über deutlich mehr Lebenserfahrung verfügen, nur als alte weiße Männer oder Boomer abkanzelt, der vergreift sich nun mal im Ton.«

Unter den Alten wird applaudiert, bei den Jungen ist das Stimmungsbild unklarer. Manche von ihnen sieht Malte nur irritiert den Kopf schütteln, andere stimmen zumindest verhalten in den Beifall mit ein. Sabine steht bloß mit verschränkten Armen am Zaun und zeigt, wenn sie nicht gerade an ihrem Bier nippt, nicht die geringste Regung.

»Und dann wird es schnell laut – und zwar auf beiden Seiten. Diese Polarisierung muss aufhören. Damit wir einander endlich wieder zuhören können. Und deshalb bin ich der Mann, den Sie heute Abend wählen sollten. Ich werde in diesem Jahr dreiundvierzig und gehöre damit weder der Generation meines Vaters noch der meines engagierten Sohnes an. Ein bisschen bin ich wie das Auto, das ich derzeit fahre: ein Hybrid – quasi das Beste aus beiden Welten. Ich stehe für einen Ausgleich zwischen Jung und Alt, für Maß und Mitte, für Moderation anstelle von Streit.«

Malte blickt in Dutzende zustimmende Gesichter und lächelt zufrieden. Er hatte sich das Ganze angsteinflößender vorgestellt, die Überwindung seiner Zweifel für weitaus schwieriger gehalten. Tatsächlich fällt es ihm nun aber überraschend leicht, sich seiner Rolle in dieser Farce zu fügen. Es fühlt sich so richtig an wie lange nichts mehr. Wenn er wollte, könnte er die Wahl gegen Heinz vielleicht sogar gewinnen. Aber das war nie der Plan.

»Damit aus unserem Verein wieder eine Gemeinschaft wird, müssen wir zuhören lernen und wieder offener und respektvoller miteinander umgehen«, setzt er seine Rede fort. »Es gibt nichts Wichtigeres als Solidarität und Loyalität. Aber – und das ist mir ein sehr wichtiges Anliegen heute Abend – auch Loyalität muss Grenzen kennen.«

Malte steigt von der Veranda herab und nähert sich seinen Zuhörern bis auf wenige Schritte, bleibt allerdings vorsichtshalber auf Distanz zu Heinz, der gelangweilt auf sein Handy schaut, als würden ihn die Worte seines Konkurrenten nicht im Geringsten interessieren.

»In der Geschichte dieses Vereins gibt es, das wissen sicher die meisten, auch das eine oder andere unrühmliche Kapitel. Wenn mein Vater heute hier wäre, könnte er Ihnen ein Lied davon singen. Viele der Älteren unter Ihnen erinnern sich wahrscheinlich auch noch daran, wie hier zum Beispiel vor mehr als zwanzig Jahren mit Familie Osmanovic umgesprungen wurde.«

Mit einem Mal wird es bis in die hinterste Reihe still, auch wenn einigen älteren Zuhörern die plötzliche Unruhe anzumerken ist, einer nestelt an seinem Hörgerät herum, eine andere flüstert ihrem Nebensitzer etwas ins Ohr. Während Heinz sein Handy gegen eine Zigarette eingetauscht hat, ist Sabine einige Meter weiter nach vorn gekommen.

»Neun Mitglieder, die damals für ihren Rauswurf gestimmt haben, weilen heute Abend unter uns«, sagt Malte ernst. »Ich werde Ihre Namen nicht nennen, aber: Sie sollten sich schämen, das sage ich Ihnen ganz offen. Wählen Sie bitte Herrn Dachser, nicht mich. Ich will Ihre Stimmen nicht – und ich will nicht, dass sich in unserem Verein jemals wieder etwas Ähnliches zuträgt. Rassismus hat im Weichenherz nichts zu suchen!«

Diesmal sind es vor allem die Jungen, die klatschen, darunter auch Sabine, die dafür extra ihre Bierflasche auf dem Boden abstellt. Nach und nach schließen sich auch viele Ältere dem Applaus an, selbst Heinz schlägt irgendwann seine Hände langsam und mit amüsiertem Grinsen aneinander. Malte sucht seinen Blick und zwinkert ihm zu.

»Sie merken es schon: Offenheit und Transparenz liegen mir sehr am Herzen. Deshalb bleibt mir – leider, muss ich sagen – auch nichts anderes übrig, auf einen anderen, deutlich aktuelleren Vorfall zu sprechen zu kommen. Ich sage leider, weil dieser Vorfall etwas mit meinem Vater zu tun hat. Sie müssen wissen: Mein Vater ist ein kranker Mann. Er leidet unter Demenz. Trotzdem gibt es noch immer Momente, in denen er ganz klar ist. In einem dieser seltenen klaren Momente hat er mir etwas gestanden, für das er sich zutiefst schämt. Er hat – auf gut Deutsch gesagt – Scheiße gebaut. Schlimme Scheiße. Vorhin sprach ich darüber, dass auch Loyalität Grenzen haben muss. Diese Grenzen wurden hier deutlich überschritten: Jemand, der heute Abend unter uns ist, hat meinem Vater nämlich dabei geholfen, seine Scheiße unter den Teppich zu kehren.«

Aus dem Augenwinkel kann Malte erkennen, wie Heinz seinen Oberkörper angespannt im Anglerstuhl aufrichtet und beide Hände um die Lehnen krallt, sicher würde er am liebsten sofort auf ihn losgehen. Malte würdigt ihn jedoch keines Blickes und sieht stattdessen zu Sabine, der Adressatin seiner nächsten Sätze.

»Liebe Sabine«, sagt er, »ich weiß, dass du schon seit Monaten nach deinem Hund suchst. Leider muss ich dir heute Abend traurige Gewissheit geben: Deine Caro ist tot. Mein Vater hat sie überfahren.«

Sabine hält sich entsetzt die Hände vor dem Mund, noch größer ist das Entsetzen aber bei Heinz, als Malte mit dem Finger auf ihn zeigt: »Es war dieser Mann, der ihm dabei geholfen hat, den Unfall zu vertuschen. Unser Vorsitzender, Heinz Dachser, hat diesen noch so jungen Hund nämlich in seinem eigenen Garten vergraben!«

Heinz springt wutentbrannt aus seinem Stuhl auf und brüllt aus voller Kehle: »Er lügt! Das ist eine Lüge!«

»Nun, was soll der Gute sonst auch sagen?«, wendet sich Malte spöttisch ans Publikum und wirft Heinz ein mitleidiges Lächeln zu. Dann deutet er auf die fünf Schaufeln, die an der Außenwand der Laube lehnen. »Ich war so frei, mir ein bisschen Gerät aus dem Gemeinschaftsschuppen zu borgen, falls sich jemand mit eigenen Augen von der Wahrheit meiner Anschuldigungen überzeugen möchte.«

Und schon ist er da, der Tumult, auf den Malte so gehofft hat.

Sabine stürmt mit gerecktem Zeigefinger auf Heinz zu und schimpft ihn vor allen ein mieses Schwein, plötzlich platzt alles aus ihr heraus, was sich über die letzten Wochen, vielleicht Monate an Frust und Anspannung in ihr angestaut, sie schließlich sogar zum Aufgeben gezwungen hat. »Ich mach dich fertig, Dachser!«

Heinz wiederum hat es auf Malte abgesehen, hastet mit rotem Kopf und geballten Fäusten in seine Richtung. Die Kraft, ihn zu verprügeln, hätte der alte Mann noch immer, seine Arme sind dick wie Maltes Oberschenkel, und anders als er weiß Heinz sicher bestens, wie man zuschlägt, alle Hemmungen ablegt, Schmerzen erträgt. Doch was Heinz an Kraft hat, fehlt ihm an Wendigkeit. Malte macht einen Satz zur Seite und lässt ihn müheloser, als er gedacht hätte, ins Leere schlagen. Sofort fasst sich Heinz mit schmerzerfülltem Gesicht an die kaputte Hüfte, kann sich nur keuchend und mühsam wieder aufrichten.

Anstatt erneut einen Angriff auf Malte zu riskieren, humpelt er zur Laube und stellt sich mit ausgebreiteten Armen vor die Schaufeln, zu denen Sabine und zwei weitere aus der Gruppe der Jüngeren wollen. »Nicht einen Grashalm krümmt ihr in meinem Garten«, warnt er sie scharf und schnappt sich zur Verteidigung selbst eine der Schaufeln. »Er lügt wie gedruckt! Los, sag’s ihnen! Sag ihnen, dass du Arschloch dabei warst! Du hast mitgemacht, darum liegt die Scheißtöle ja auch hier begraben, gleich hinter der Laube.«

Malte stellt sich hinter Sabine und die beiden anderen und zuckt mit den Achseln. »Warum sollte ich all den Menschen hier so eine dreiste Lüge auftischen und mich am Ende damit selbst belasten?«

»Das versteh ich ja selbst nicht!«, schreit Heinz ratlos und mit sich überschlagender Stimme, stochert dann wie wild mit der Schaufel in der Luft herum.

»Siehst du? Das macht überhaupt keinen Sinn«, sagt Malte ruhig und muss sich beherrschen, nicht zu lachen, als er den später der Lüge überführten Fußballtrainer Christoph Daum mit seinem wohl berühmtesten Zitat channelt: »Ich tue das, weil ich ein absolut reines Gewissen habe.«

»Deshalb warst du Schwein also die ganze Zeit hier«, zischt Heinz. »Du hast das Scheißvieh heimlich verschwinden lassen.«

Malte schüttelt lachend den Kopf. »Als hättest du mich auch nur eine Sekunde lang aus den Augen gelassen, Heinz. Sieh doch selbst nach.«

»Und ob ich das tue«, brummt Heinz mit drohendem Unterton und verschwindet samt Schaufel hinter der Laube, dicht gefolgt von Sabine und ihren Freunden, die dabei nicht mit Beschimpfungen sparen.

Malte schließt die Augen und nimmt einen tiefen, erlösenden Atemzug, hört zu, wie die anderen Gäste hinter seinem Rücken aufgeregt diskutieren und alles eskaliert. Manche tragen wohl ihren schon lange gärenden Streit endlich offen aus, werden sogar laut; weiter hinten zerspringt ein Glas auf den Fliesen, und irgendjemand wird Wichser, ein anderer Nazisau genannt.

Als er seinen Namen hört, ignoriert Malte den Ruf und hält sich lieber raus. Stattdessen schenkt er sich am Büfett einen Becher Kaffee ein und zieht sich alleine in die Laube zurück. Die Tür lässt er offen stehen. Die Stimmen von draußen sind jetzt leiser, auch das permanente Summen scheint plötzlich weg zu sein. Klar und deutlich hört er nur die Geräusche von der Rückseite der Laube, Schaufeln, die scharf und kraftvoll in die Erde gerammt werden und schon bald die unerträgliche Wahrheit zutage befördern. Eine Wahrheit, die sowohl Heinz als auch ihn im Weichenherz für immer als Mitglieder oder gar Vorsitzende unmöglich macht. Damit hat Heinz nicht rechnen können, niemals.

Malte betrachtet noch einmal das Bild im Schrank, das er als Kind gemalt hat, ein Hepi Ent für Luke Skywalker und seinen bösen Vater. Irgendwie passend, stellt er plötzlich fest: Genau wie sein früherer Held hat er am Ende allen etwas vorgemacht.

Er setzt sich mit seiner Kaffeetasse an den Klapptisch und holt sein Handy heraus, schickt Nathalie kommentarlos ein Bild, das die Situation viel besser auf den Punkt bringt als alles, was er ihr schreiben könnte. This is fine, heißt es in dem auf Twitter so beliebten Meme, im Bild ein Hund, der mit einer Kaffeetasse auf dem Tisch vor sich in einem brennenden Haus sitzt und lächelt.

Darüber, was als Nächstes passiert, denkt Malte nicht nach; sicher wird es furchtbar. Viel lieber denkt er daran, was gleich danach passieren wird, was am nächsten Morgen, was im nächsten Jahr. Er wird das Weite suchen und nie wieder hierherkommen. Er wird seinen Vater auf keinen Fall bei sich zu Hause pflegen, aber er wird ihn wenigstens einmal pro Woche besuchen. Er wird ihm den ganzen Auster vorlesen, sämtliche tausendzweihundertvierundsechzig Seiten, alle vier Leben. Vielleicht wird er manchmal Jonas mitnehmen und sich mit ihm abwechseln, ihm ein gutes Vorbild sein. Er wird die Hand seines Vaters halten, wenn es so weit ist, und er wird auch ein zweites Mal der Versuchung widerstehen, ihm den Finger brechen. Er wird weiter einsamen Trinkern am Tresen zuhören. Er wird weniger trinken und nie wieder eine Zigarette anfassen. Er wird sich öfter an die eigene Nase fassen. Er wird nie wieder einen schwarzen Hund begraben, und wenn, dann seinen eigenen. Er wird sich seinen Depressionen stellen und sich Hilfe suchen, wird alles tun, was nötig ist, um wieder zu funktionieren. Er wird den Teil mit dem Funktionieren streichen und ihn durch Gesundwerden ersetzen. Er wird schon wieder – und wird er es nicht, wird er damit nicht alleine sein. Er wird gebraucht. Er wird sich nicht das Leben nehmen. Er wird das Leben nehmen, wie es eben kommt. Er wird unter dem Hashtag #notjustsad twittern und in Zukunft zweimal nachdenken, bevor er einen Tweet abschickt. Er wird lernen, geduldiger zu sein, und wird dabei geduldig sein müssen. Er wird wieder Sport machen, um Stress abzubauen. Er wird stundenlang Testberichte lesen, sich daraufhin überteuerte Laufschuhe kaufen und die dann nur dreimal tragen. Er wird es wenigstens versucht haben. Er wird lernen, Nein zu sagen, wenn ihm etwas zu viel wird, und öfter um Hilfe bitten. Er wird die Finger von fadenscheinigen PR-Aufträgen lassen, die seine Ideale verraten, und weniger arbeiten, sich vielleicht sogar auf die Teilzeitstelle beim StadtPalais bewerben. Er wird sich mal wieder bei Felix und seinen anderen Freunden melden. Er wird sich endlich die Zeit nehmen, zu lesen oder einfach nur die Wand anzuschauen. Er wird sich an seinen Makel gewöhnen. Er wird ehrlich sein. Er wird Nathalie öfter nach ihrem Tag fragen und ihr dann zuhören. Er wird sie mehr entlasten und sie bitten, ihn öfter in den Arm zu nehmen. Er wird mit ihr zu einem Konzert von The National gehen und sich nicht schämen, vor ihr bei About Today zu weinen. Er wird sich bei Terrible Love und Mr. November die Seele aus dem Leib schreien und sich beim Songtext von Conversation 16 ertappt fühlen. Er wird »Ich liebe dich« zu Nathalie sagen, selbst wenn er Angst hat, dass sie seine Worte nicht erwidert. Vielleicht wird er sich mit ihr auch endlich gemeinsam Marriage Story auf Netflix ansehen, ihr aber ganz sicher niemals von seiner Tantramassage erzählen. Er wird mit Nora zum Stadtacker gehen, um die Meerschweinchen zu füttern, und mit ihr unter der Trauerweide picknicken. Er wird ihr wahrscheinlich irgendwann doch ein Haustier kaufen und sich am Ende dann mehr darum kümmern als sie. Das ist okay. Er wird sich neue Corona-Verordnungen ausdenken, sollte es irgendwann zu einem weiteren Lockdown kommen, aber ansonsten für nichts garantieren können. Er wird eine miese Google-Bewertung für den Kleingartenverein Weichenherz schreiben und zusammen mit Jonas Telefonstreiche bei Heinz machen. Er wird ihm sein altes Führerscheinfoto zeigen, um ihn davon zu überzeugen, besser zum Friseur zu gehen. Er wird sich das verkneifen und Jonas seine eigenen Fehler machen lassen. Er wird ihm von seinem Vater erzählen und davon, wie es war, sein Sohn gewesen zu sein. Er wird Jonas davon erzählen, wie es ist, sein Vater zu sein. Er wird ein besserer Vater sein als sein eigener und ein schlechterer als eines Tages Jonas. Er wird die Welt nicht retten, sich aber bemühen, sie wenigstens nicht schlechter zu machen. Er wird nicht alles anders, aber vieles besser machen. Er wird sich damit abfinden müssen, dass er alt wird, wenn ein Wahlkampfslogan von 1998 ein geflügeltes Wort für ihn ist. Er wird bei der nächsten Bundestagswahl die Grünen wählen und deshalb nicht automatisch ein reines Gewissen haben. Er wird das mit dem Hybridauto vielleicht noch einmal überdenken, aber ganz sicher niemals Lastenrad fahren. Er wird gendern, wenn es andere von ihm erwarten, und noch lieber dann, wenn es sein Gegenüber triggert. Er wird kein Fleisch mehr essen, und wenn, dann nur noch heimlich und niemals Lamm. Er wird sich trotz allem, was moralisch dafürspricht, niemals ein Fairphone kaufen. Er wird der Verlockung widerstehen, in Bitcoins zu investieren. Er wird nichts mehr bei Amazon bestellen, und wenn, dann wenigstens keine Bücher oder nur zur Weihnachtszeit. Er wird mehr Bücher von Frauen, Non-Binären und BIPoC lesen und sich trotzdem auf den nächsten Franzen freuen. Er wird sich nicht mehr als weißer Retter aufspielen, und er wird seine Privilegien hinterfragen. Er wird zuhören. Er wird dennoch lieber weißen, weinerlichen Dadrock hören als Black Music. Er wird aufhören, Widersprüche zu sehen, wo keine sind. Er wird Selma einen langen Brief schreiben und sich bei ihr entschuldigen. Er wird Sabine alles erklären. Er wird deutlich mehr tun müssen, um sich angemessen seiner Schuld gegenüber der Mutter zu stellen, die ihr ungeborenes Kind verloren hat. Er wird Fehler machen und andere enttäuschen. Er wird sich dafür entschuldigen und Verantwortung übernehmen. Er wird versuchen, es in Zukunft besser zu machen. Er wird alle seine Vorsätze mindestens einmal brechen – und vielleicht auch keinen. Er wird öfter ins Weite, vor allem endlich wieder nach vorne schauen. Er wird aufhören, in Futur eins zu denken, und jetzt einfach nach Hause gehen, selbst wenn das noch lange nicht bedeutet, dass dann auch alles wieder gut wird.