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Francis
Francis Sullivan schloss die Augen. Mit unter dem Gaumen klebender Hostie versuchte er, sich auf das Gemurmel der Zelebranten und der Gemeinde um ihn herum zu konzentrieren, wenngleich er in Gedanken ganz woanders war.
Detective Inspector Francis Sullivan.
Er ließ sich die Worte stumm auf der Zunge zergehen. Das würde er sein, morgen, an seinem ersten Tag im Job. Die Blitzbeförderung hatte ihn im Alter von neunundzwanzig Jahren zum jüngsten DI der Polizei von Sussex gemacht, und er war nervöser als an seinem ersten Tag auf der weiterführenden Schule. Es war eine gute Sache, wenngleich ziemlich Furcht einflößend, weil es zeigte, was für ein gewaltiges Vertrauen seine Vorgesetzten ihm entgegenbrachten. Sicher, er hatte die erforderlichen Prüfungen mit Bravour bestanden, hatte sich hervorragend vor dem Einstellungsgremium geschlagen. Aber warum beförderte man ihn so früh, zumal er noch relativ wenig praktische Erfahrung sammeln konnte? Weil sein Vater ein gefeierter Kronanwalt war? Er verabscheute diese Vorstellung.
Sein neuer Chef, Detective Chief Inspector Martin Bradshaw, hatte wenig begeistert gewirkt, als er Francis über die Beförderung informierte. Er hatte ihm auch nicht gratuliert. Francis fragte sich, ob DCI Bradshaw vollkommen hinter der Entscheidung gestanden hatte oder ob seine Beförderung von den anderen Mitgliedern des Einstellungsgremiums durchgedrückt worden war.
Ihm drehte sich der Magen um, als seine Gedanken zu Rory Mackay schweiften. Detective Sergeant Rory Mackay. Bei der Beförderung übergangen und nun sein Stellvertreter. Francis hatte Mackay letzte Woche kennengelernt. Eine formelle Vorstellung im Büro des Chefs, in deren Verlauf der weitaus erfahrenere DS klargestellt hatte, dass er nicht beeindruckt war. Er hatte den Gesichtsausdruck eines Mannes zur Schau getragen, der soeben die verbliebene Hälfte einer Made in dem Apfel gefunden hatte, den er gerade aß. Francis hatte die Ruhe bewahrt und war ihm mit höflicher Reserviertheit begegnet – er war sich der Risiken bewusst, die ein allzu kumpelhafter Umgang mit seinem Team mit sich brachte –, aber er konnte spüren, dass dies eine heikle Beziehung werden würde.
Der Mann wünschte sich, dass er versagte. Und Francis wusste, dass er damit nicht der Einzige war.
»Das Blut Christi.«
Francis schlug die Augen auf und hob den Kopf, um einen kleinen Schluck Wein aus dem Abendmahlkelch zu nehmen.
»Amen«, murmelte er.
So sei es.
Aber war es zu früh? Während des Auswahlverfahrens hatte er sich ruhig und zuversichtlich gefühlt. Prüfungen waren nie ein Problem für ihn gewesen. Hatte sein Erfolg auf dem Papier Erwartungen geschaffen, die er im Job nur schwer erfüllen konnte? Die Gefahren einer so zeitigen Beförderung waren bei der Einheit nahezu mythisch. Er hatte in der Cafeteria jede Menge Geschichten darüber gehört – ob belegt oder nicht, blieb dahingestellt. Den zweiten Schritt vor dem ersten tun. Keine Erfolge vorweisen können. Es würde keines katastrophalen Fehlers bedürfen, um an diesem Punkt aus dem Rennen geworfen zu werden, nur ein, zwei schwierige Fälle, die ungelöst blieben. Kalte Fälle.
Furcht trübte die Freude über das, was er erreicht hatte. Detective Inspector Francis Sullivan. Er hatte nicht mehr geschlafen, seit man ihm die Nachricht übermittelt hatte. Die mentale Fokussiertheit, die er so dringend benötigte, war verpufft. Verdammt. Er mochte zwar ein Grünschnabel sein, aber er war nicht dumm. Das Team, dessen Leitung er übernahm, traute ihm den Job nicht zu. Sie glaubten nicht, dass er bereit dafür war. Er müsste sie gleich am allerersten Tag, beim allerersten Fall auf seine Seite ziehen, ansonsten würden alle sich bestätigt sehen, dass er seinem neuen Posten nicht gewachsen war. Bestimmt würde man ihm Steine in den Weg legen. Bradshaw und Mackay würden ihn beobachten und abwarten. Und Wege finden, ihn zu Fall zu bringen, davon war er überzeugt.
Er schaute zu der geschnitzten Jesus-Figur an ihrem Kreuz über der Kanzel auf. Der Sohn Gottes warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu, und Francis senkte rasch wieder den Kopf. Er murmelte ein kurzes Gebet und bekreuzigte sich, dann stand er auf, um in seine Bankreihe zurückzukehren, wobei er sich selbst für seine Zerstreutheit tadelte.
Wie auf Autopilot sang er das letzte Lied, ohne sich der Bedeutung der Worte bewusst zu sein, bevor er niederkniete, um zu beten. Für ein paar Minuten konzentrierte er sich wieder auf den Grund, aus dem er hier war – ein Gebet für seine Mutter, eine Fürbitte für seine Schwester. Einen Segen für ihre Pfleger. Nichts für seinen Vater.
Das Handy in seiner Hose vibrierte, doch er war nicht schnell genug, um dem Piepston, der den Eingang einer Nachricht ankündigte, zuvorzukommen. In der stillen Kirche kam er ihm länger und lauter vor als sonst. Köpfe drehten sich zu ihm um, eine Frau zischte missbilligend. Francis warf Pater William einen verstohlenen Blick zu und beeilte sich, das Telefon leise zu stellen, dann senkte er reuevoll den Kopf und las eilig die eingegangene Textnachricht.
Sie war von DS Mackay.
Arbeitsbeginn einen Tag früher. Leichenfund gemeldet. Pavilion Gardens.
Francis wartete voller Ungeduld, dass der Gottesdienst endete. Sobald die Besucher sich anschickten aufzustehen, verließ Francis die Bankreihe und strebte auf das offene Portal an der Rückseite der Kirche zu. Pater William, der bereits unter das Vordach getreten war, schürzte die Lippen.
»Francis.«
»Ich kann mich gar nicht genug entschuldigen, Pater. Ich dachte, ich hätte mein Handy ausgeschaltet.«
»Darum geht es mir gar nicht. Du wirktest aufgewühlt während des Gottesdienstes. Möchtest du darüber reden?«
»Das würde ich gern«, erwiderte Francis, und das meinte er ernst. »Aber ich muss los. Eine Leiche wurde gefunden.«
Pater William bekreuzigte sich mit einem stummen Gebet, dann legte er eine Hand auf Francis’ Unterarm. »Die Welt ist reich an Bösem. Ich mache mir Sorgen wegen deiner Arbeit, Francis. Du wandelst stets am Rande der Verzweiflung.«
»Aber auf der Seite der Gerechtigkeit.«
»Gott ist der oberste Richter, denke daran.«
Eine Frau mittleren Alters rempelte Francis mit dem Ellbogen an. Er nahm den Vikar ungebührlich lange in Anspruch.
Der oberste Richter. Francis dachte über diese Formulierung nach. Im Himmel mochte das vielleicht zutreffen, hier unten auf der Erde dagegen fiel es Leuten wie ihm zu, das Böse zu verfolgen. Es war sein Job, Mörder zu stellen und vor Gericht zu bringen. Gerade hatte man ihm die erste Aufgabe übertragen, und er war fest entschlossen, sie zu lösen, so wahr ihm Gott helfe.
Und wenn von oben keine Hilfe käme, dann würde er es eben allein schaffen.