3
Francis
Francis kämpfte sich mit seinem Wagen Zentimeter für Zentimeter über die New Road. Am Feiertagswochenende war sogar mit Blaulicht kein Durchkommen durch die Menschenmengen. Verdammte Mischverkehrsfläche – das bedeutete doch nur, dass niemand wusste, welches Stück Straße ihm gehörte, und jeder nahm an, dass er Vorrang hatte. Er stellte kurz die Sirene an, um eine langsam dahinschlendernde Familie dazu zu bewegen, den Weg freizumachen, doch die starrte ihn nur mit hochgezogenen Augenbrauen an.
Bei einer Reihe von Bänken vor den Pavilion Gardens hielt er am Bordstein an. Eine Frau, die ihren Kindern ein Eis gekauft hatte, warf ihm finstere Blicke zu, weil er mit dem Wagen dorthin fuhr, wo sie spazieren ging, doch die meisten Schaulustigen der kleinen Menschenmenge waren viel zu sehr damit beschäftigt, sich die Hälse zu verrenken und die Polizeiarbeiten auf der anderen Seite der Absperrung zu verfolgen, als dass sie Notiz von seiner Ankunft genommen hätten. Erleichtert stellte er fest, dass das Gebiet weiträumig abgesperrt war und mehrere uniformierte Polizisten die Absperrung bewachten.
Er zeigte seinen Dienstausweis und wurde eilig durchgewinkt. Rory Mackay sah ihn auf Anhieb und kam auf ihn zu. Sein beleibter Körper war in einen weißen Papieranzug gehüllt.
»Sergeant Mackay«, sagte Francis mit einem Nicken. »Geben Sie mir doch bitte einen kurzen Überblick über das, was wir haben.«
»Sie müssen erst einen Anzug überziehen, Chef«, entgegnete der Detective Sergeant und warf ihm einen vernichtenden Blick zu. »Ich habe einen Ersatzanzug im Kofferraum.«
Francis folgte Mackay zu einem silbernen Mitsubishi, der gleich auf der gegenüberliegenden Seite der Parkanlage neben anderen Fahrzeugen stand. Insgeheim verfluchte er sich dafür, dass er nicht daran gedacht hatte, einen entsprechenden Anzug einzupacken, um den Tatort nicht zu kontaminieren. Genauso wenig wie er daran gedacht hatte, von dieser Seite zu kommen, wo man viel besser parken konnte.
»Ich hatte angenommen, Sie würden schneller hier sein, vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass das hier Ihr erster Fall ist.«
Francis spürte, wie sich seine Schultern verspannten. »Ich war in der Kirche, Mackay. Ich hätte die Nachricht eigentlich gar nicht bekommen dürfen oder zumindest erst nach dem Gottesdienst.«
»Da haben Sie recht.«
Ein kurzes Grinsen huschte über das Gesicht des Sergeants, was Francis nicht entging.
Mackay öffnete den Kofferraum seines Wagens und reichte Francis einen Anzug. Während Francis ihn überstreifte, warf er einen Blick auf den Inhalt des Kofferraums. Drei Kästen Stella und zwei Paletten Heineken-Dosen. Grillkohle. Es war nicht schwer zu erraten, wie Mackay seinen Sonntag verbringen wollte.
»Dürfte Ihre Größe sein, aber ziehen Sie ihn vorsichtig an – die Dinger reißen schnell.«
»Ich hab schon mal so einen angehabt«, entgegnete Francis ruhig.
Der Anzug war eine Nummer zu klein, die Hosenbeine zu kurz. Rory lehnte sich an den Wagen und vertrieb sich das Warten mit einer E-Zigarette.
»Dann mal los«, sagte Francis und zog die Ärmel zurecht.
Mackay knallte die Kofferraumklappe zu, dann machten sie sich auf den Weg zurück zum Café.
»Der diensthabende Polizist hat um 11.47 Uhr einen Anruf bekommen, bei dem eine Leiche in einem Müllcontainer hinter dem Pavilion Gardens Café gemeldet wurde. Keine weiteren Details.«
»Wissen Sie schon, von wem der Anruf kam?«
»Nein, nur dass es sich um eine weibliche Stimme handelte. Die Frau hat aufgelegt, bevor der Kollege sie nach ihrem Namen fragen konnte.«
»Aber wir haben die Nummer?«
»Sie hat mit einem Prepaid-Handy angerufen.«
Das war das Erste, was sie verfolgen mussten.
»Der Leichnam?«, fuhr Francis fort.
»Männlich, nackt. Der Mann hat offensichtlich einen Schlag auf den Kopf bekommen und außerdem eine große Wunde an der linken Schulter und am Oberkörper. Wir konnten ihn noch nicht identifizieren, aber er hat eine Reihe von Tätowierungen, die uns dabei helfen dürften.«
»Haben Sie sonst noch etwas gefunden?«
»Wir durchsuchen den Container, sobald die Leiche abtransportiert ist – wir warten noch auf Rose.«
Rose Lewis, die forensische Pathologin. Eine zuverlässige Person – Francis hatte während seiner Zeit als Detective Constable bei mehreren Fällen mit ihr zusammengearbeitet.
»Gut.« Francis nickte. »Dann sehe ich mir das Ganze jetzt mal an.«
Kurz vor dem Café klingelte Rorys Handy. Er nahm den Anruf entgegen. »Ja, Sir, er ist jetzt da, Sir … Ich habe das Gebiet abgesperrt und die Spurensicherung bestellt. Die Gerichtsmedizinerin ist informiert, ja …«
Rory schwieg einen Augenblick, dann nickte er. »Ja, ich denke, er hat das Telefon jetzt eingeschaltet. Er war in der Kirche.«
An Rorys Tonfall konnte Francis hören, was dieser davon hielt. Er beschleunigte seinen Schritt – das war nicht gerade der Start, den er sich für seinen ersten Fall als Detective Inspector gewünscht hatte.
Rory führte ihn über den Rasen und um das Café herum zur Rückseite, wo ein grüner Plastikcontainer stand. Als sie näher kamen, stieg Francis der Gestank in die Nase. Sofort fing er an, durch den Mund zu atmen. In seiner Mundhöhle sammelte sich Speichel. Unauffällig kämpfte er gegen einen Würgereiz an. Die Techniker der Spurensicherung, ebenfalls in weißen Papieranzügen, suchten den Boden ab, maßen Distanzen aus und machten Fotos.
»Macht mal auf«, sagte Rory.
Detective Constable Tony Hitchins stand neben dem Container Wache. Als Francis und Rory davor stehen blieben, trat er auf das Fußpedal, um den Deckel zu heben, den Blick abgewandt. Francis zog ein Paar Latexhandschuhe an und trat an den Container.
Hitchins wich merklich die Farbe aus dem Gesicht. Francis sah, wie der DC die Lippen zu einer schmalen Linie verkniff.
»Sehen Sie zu, dass Sie den Tatort verlassen, bevor Sie sich übergeben, Hitchins.«
Francis fing den Deckel des Containers auf, den Hitchins abrupt losließ und sich eiligen Schrittes über den Rasen entfernte. Er schaffte es gerade noch, sich unter dem blau-weißen Polizeiband hindurchzuducken, dann krümmte er sich zusammen und erbrach das, was von seinem Sonntagsfrühstück übrig geblieben war, ins Gras.
»Um Himmels willen«, sagte Francis, und Rory schüttelte den Kopf, doch sie sahen einander nicht an. Es gab keinen Polizisten bei der Einheit, der sich bei der Sichtung einer Leiche nicht irgendwann übergeben hatte, auch wenn das keiner zugeben wollte.
Francis wandte sich wieder dem Container zu und wappnete sich gegen den Anblick, der ihn erwartete. Hoffentlich würde ihm nicht der gleiche Fauxpas passieren wie Hitchins. Nicht heute.
Und da war sie. Seine Leiche. Sein erstes Opfer als leitender Ermittler. Seine erste Begegnung mit einem Individuum, das er während der kommenden Wochen und Monate extrem gut kennenlernen würde, sozusagen ein Blind Date. Vermutlich erführe er mehr über das Opfer, als er über die Mitglieder seiner eigenen Familie wusste – zudem würde er aller Wahrscheinlichkeit nach auf Geheimnisse stoßen, die die Familie des Opfers bis ins Mark erschütterten. Doch im Augenblick war der Mann vor ihm ein Fremder. Grau, gekonnt gehäutet und teils verwest, vergammelte er wie der Müll um ihn herum. Mithilfe seines Teams würde Francis sein Inneres nach außen kehren, um herauszufinden, wie er getickt hatte und warum man ihn lieber tot sehen wollte als lebendig.
Francis prägte sich das schockierende Bild ein. Verdrehte Gliedmaßen, Haut wie Spachtelmasse, rot-schwarzes Fleisch, wo Gesicht und Torso als Rattenfutter gedient hatten. Selbst die eigene Mutter würde den Mann nicht erkennen. Der Anblick entfachte Francis’ Wut und würde dafür sorgen, dass er sich voll und ganz auf den Fall konzentrierte.
»Sergeant Mackay? Sergeant Mackay?«, fragte eine Stimme hinter Francis.
Er drehte sich um. Rory ging bereits zur Absperrung, wo ein Mann mit einer Kamera um den Hals stand. Presse.
»Tom«, sagte Rory mit einem Nicken. »Ich dachte mir schon, dass Sie früher oder später hier aufschlagen.«
»Ja ja, ich weiß, ich habe Ihnen gerade noch gefehlt«, erwiderte der Mann grinsend. »Was haben Sie für mich, Mackay?«
»Für Sie gar nichts«, gab Rory zurück. »Wir geben erst Informationen an die Presse, wenn wir es für richtig halten, vorher nicht. Und jetzt ziehen Sie Leine.«
Er drehte sich um und kehrte zu Francis zurück. »Nehmen Sie sich vor dem in Acht. Tom Fitz vom Argus. Der ist immer zuerst am Tatort.«
»Wie kriegt er so schnell raus, wohin er muss?«, wollte Francis wissen.
Rory zuckte die Achseln. »Hört den Polizeifunk ab, gibt den Polizisten Drinks aus.« Er wirkte ganz und gar nicht beeindruckt.
»Nun, halten Sie ihn sich warm«, riet Francis. »Man kann nie wissen, wann einem die Presse von Nutzen ist.«
»Rose ist da«, unterbrach Rory abrupt. Offensichtlich hatte er kein Interesse daran, Zugeständnisse an Reporter zu machen.
»Detective Inspector Sullivan«, rief eine freundliche Stimme.
Francis drehte sich um und sah sich Rose Lewis gegenüber, die einen halbwegs wiederhergestellten Hitchins anwies, mehrere Taschen mit ihrer Ausrüstung in der Nähe abzustellen. Sie war so klein und zierlich, dass selbst der kleinste Papieranzug an ihr schlackerte und sie sich auf die Zehenspitzen stellen musste, um über den Containerrand zu spähen.
»Igitt, ekelig«, sagte sie und wandte sich zu Hitchins um. »Können Sie eine Leiter holen, damit ich Fotos machen kann?«
»Jawohl, Ma’am.«
»Ich nehme an, ich darf gratulieren?«, fragte Rose, als der DC loszog, um seine Aufgabe zu erledigen.
»Ja, danke«, antwortete Francis. »Genießen Sie das lange Wochenende?«
»Jetzt ja. Ihre erste Leiche als leitender Ermittler?«
Er nickte.
»Dann sollten Sie den Fall besser schnell lösen, nicht wahr?«
Das war ihm bewusst, und zwar mehr als deutlich.
Genau wie er sich der Konsequenzen bewusst war, falls er versagte.