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Marni
Der Anruf hatte Marnis ganzen Mut erfordert. Zu wissen, dass sie mit einem Polizisten am anderen Ende der Leitung sprach, hatte sie fast genauso aufgewühlt wie die Entdeckung der Leiche. Sie hatte es kurz gemacht und sich geweigert, ihren Namen zu nennen. Alles, was mit der Polizei zusammenhing, versetzte sie noch immer schlagartig in eine Zeit zurück, die sie am liebsten vergessen würde. Sie hatte sich geschworen, dass sie nie wieder, für den Rest ihres Lebens nicht, etwas mit den Cops zu tun haben wollte.
Als sie zur Tattoo-Messe zurückkehrte, wartete Steve bereits eine halbe Stunde auf sie, und es dauerte eine weitere halbe Stunde, bis ihre Hände aufhörten zu zittern und sie ihn weitertätowieren konnte. Er hatte nicht verärgert reagiert, als sie ihm zögernd erzählte, was passiert war. Was nicht weiter überraschte, da er sich brennend für ihre Entdeckung interessierte.
»Ich habe noch nie einen Toten gesehen. Riecht das wirklich so schlimm, wie immer behauptet wird? Ist die Polizei sofort gekommen?«
Marni bekam Kopfschmerzen, weshalb sie ihren letzten Termin an diesem Tag absagte. Als die Brighton Tattoo Convention am Abend ihre Pforten schloss, fühlte sie sich ausgepowert und aufgewühlt. Andauernd trat ihr das Bild des leblosen Körpers vor Augen, und sie hatte immer noch den Gestank in der Nase. Wäre sie doch bloß nicht in die Pavilion Gardens gegangen! Mit der Polizei zu telefonieren, hatte ihre Ängste nur bestärkt, denn dadurch drängten die Erinnerungen, gegen die sie so sehr angekämpft hatte, lediglich zurück an die Oberfläche.
Nachdem sie ihr Equipment für den nächsten Tag verstaut hatte, spazierte Marni die Promenade entlang, um ihren Kopf freizubekommen. Sie konnte nicht aufhören, an das zu denken, was sie gesehen hatte. Die Art und Weise, wie die Haut des Mannes geglänzt hatte, als das Licht darauf fiel. Und diese dunklen Flecken! Zunächst hatte sie sie für Verletzungen gehalten, bis ihr klar wurde, dass es sich um Tattoos handelte. Der Anblick war wie ein Standbild, das hinter ihren Augenlidern festklebte – und jedes Mal, wenn sie es betrachtete, wurden die Details klarer. Die Tätowierung auf der rechten Seite seines Torsos – ein Paar betende Hände. Auf einem seiner Oberschenkel eine Skizze des heiligen Sebastian in Schwarz und Grau, die Wunden der Pfeile rot hervorgehoben.
Sie versuchte, die Gedanken an den Leichnam aus ihrem Kopf zu verdrängen und sich auf den Weg zu konzentrieren. Die Promenade war voller Menschen, es herrschte dichter Verkehr. Hinter ihr wurde ein schrilles Heulen immer lauter. Sie drehte sich um und sah etwa zwanzig bis dreißig Motorroller auf der Straße, jeder mit Spiegeln, Waschbärenschwänzen, Wimpeln und Flaggen geschmückt. Die Mods kamen über das verlängerte Wochenende in die Stadt. Die Fahrer in ihren Parkas und Nadelstreifenblazern sahen genauso unverwechselbar aus wie ihre Motorroller, Hush-Puppies- und The-Who-Memorabilien. Der Lärm der vorbeifahrenden Mopeds ging ihr auf die Nerven.
Es wurde dunkel. Das natriumgelbe Licht der Straßenlaternen tauchte alles in einen wohltuenden Bernsteinton, aber Marni sehnte sich nach einem Ort, an dem es dunkler war, ruhiger. Die kühle Luft vom Meer genießend, sprang sie geräuschlos die Steinstufen zum Strand hinunter.
Es war Ebbe, und sie ging über den knirschenden Kies zum Wasser. Hier unten war es kalt und dunkel, die Kakophonie vom Pier wurde übertönt vom Tosen und Rauschen der Wellen. Das Geräusch wirkte so hypnotisierend wie das Surren der Tätowiermaschine. Sie atmete tief die salzhaltige Luft ein und massierte beim Gehen die überstrapazierten Muskeln ihres rechten Arms. Morgen lag ein weiterer langer Tätowiertag vor ihr.
Sie sah den menschenleeren Strand hinunter. Ihr Blick blieb an einem baufälligen Gusseisenkoloss hängen, der gut zweihundert Meter vom Ufer entfernt im Meer stand.
Das war alles, was vom West Pier geblieben war. Eine dunkle Silhouette vor der dunklen See, dem Verfall anheimgegeben, seit der Pavillon darauf von einem Feuer zerstört worden war. Nicht länger mit der Küste verbunden, war er nun eine Insel, heimgesucht von den Geistern lang vergessener Urlauber und unbedeutender Kleinkrimineller.
Ihre Gedanken kehrten zu dem Leichenfund zurück. Was wäre aus dem Mann im Container geworden, wenn sie ihn nicht entdeckt hätte? Wäre er irgendwo auf einer Mülldeponie gelandet, wo er langsam verrottete, bis keine Spur mehr von ihm übrig blieb, abgesehen von seinen Knochen und Zahnfüllungen? Auch seine Tattoos würden zusammen mit seinem Körper verschwinden, wenn die Ratten an ihm nagten. Ob ihnen Fleisch mit Tinte anders schmeckte? Oder den sich windenden Maden, fett und weiß, die sich in das ungeschützte rote Fleisch bohrten? Eine schauderhafte Vorstellung.
Wer immer den Mann in den Container geworfen hatte, war mit ziemlicher Sicherheit für seinen Tod verantwortlich. Sie hoffte bei Gott, dass die Polizei in der Lage war, den, der das getan hatte, ausfindig zu machen und festzunehmen. Es war ein beunruhigender Gedanke, dass ein solches Verbrechen in unmittelbarer Nähe geschehen war.
Marni fröstelte. Sie war hierherspaziert, um vor dem Schlafengehen zur Ruhe zu kommen, aber das würde ihr wohl kaum gelingen. Sie zog ihre leichte Strickjacke enger um die Schultern und kehrte um zu den Lichtern des Palace Pier, der so lebendig und geschäftig wirkte wie der West Pier tot war. Der Wind ließ nach, und für einen kurzen Augenblick konnte sie ihre eigenen Schritte auf dem Kies hören. Der Strand, an dem es bei Tage von Menschen wimmelte, war um diese Uhrzeit ein einsamer Ort.
Plötzlich schrie eine Frau.
Marni bekam eine Gänsehaut. Ihre Brust zog sich zusammen, als sie herumwirbelte und angestrengt in die Dunkelheit starrte.
Eine Sekunde später war Gelächter von derselben Frau zu hören, in das ein Mann mit einfiel. Marni holte tief Luft und versuchte, sich zu beruhigen, aber ihr Herz hämmerte. Am Strand war niemand zu sehen, als sie quer über das breite Kiesstück zu der Steintreppe an der Promenade hastete.
Sie warf einen Blick auf den Palace Pier. Schemenhafte Gestalten bewegten sich zwischen den dicken Stahlträgern, mit denen der Pier verankert war. Männerstimmen schallten durch die gischthaltige Luft zu ihr herüber.
»Bist du allein, Süße?«
Marni wandte sich ab. Zur Hölle mit dem Kerl.
»Komm schon, wir können ein bisschen Spaß haben.« Eine andere Stimme, diesmal näher.
Sie ging nicht darauf ein, sondern stieg so schnell sie konnte die Stufen zur Promenade hinauf.
Als sie durch das nächtlich stille Kemptown nach Hause ging, kehrten ihre Gedanken zu etwas zurück, was ihr schon die ganze Zeit über durch den Kopf ging: das Tattoo des heiligen Sebastian auf dem Oberschenkel des Mannes. Sie wusste, warum. Es erinnerte sie an Thierrys Arbeit, vor allem die Art und Weise, wie die roten Pfeilwunden gestochen waren. Thierry. Warum war Thierry in den Pavilion Gardens gewesen, wenn er eigentlich auf der Tattoo-Messe hätte sein sollen?
Bitte, lieber Gott, mach, dass nichts dahintersteckt.
Konnte die Tätowierung auf dem Körper des Mannes tatsächlich von Thierry stammen? Unwahrscheinlich, und wenn doch, hatte es vermutlich nichts zu bedeuten. Natürlich nicht. Sie stellte Bezüge zur Vergangenheit her, die nicht rational waren. Doch wenn es um Thierry ging, war sie niemals rational. Er hatte einen emotionalen Einfluss auf sie, der nur noch stärker zu werden schien, je mehr sie versuchte, ihn zu leugnen. Selbstverständlich bestand keinerlei Zusammenhang zwischen Thierry und der Leiche in dem Müllcontainer. Es war lediglich ihre Besessenheit, die Thierry in alles miteinbezog, was ihr widerfuhr.
Als sie in die Great College Street einbog, konnte sie im Wohnzimmer an der Vorderseite ihres Hauses Licht sehen. Alex war daheim. Ein achtzehnjähriger Junge musste seine Mutter nicht unbedingt in einem Zustand wie diesem sehen. Sie holte tief Luft, um sich zu beruhigen, und zog ihr Handy aus der Tasche. Obwohl sie die meiste Zeit über versuchte, ihm aus dem Weg zu gehen und ihre Gefühle für ihn zu unterdrücken, schien es doch immer Thierry zu sein, den sie in einem Krisenmoment brauchte. Sie wählte, wartete darauf, dass er dranging, hoffte auf seinen Zuspruch.
»Thierry?«
Sie hörte nichts als Rauschen. Dann Baulärm.
»Marni?« Sein französischer Akzent veränderte den Klang ihres Namens.
»Ja, ich bin’s.«
»Marni! Ich bin mit den Jungs in der Bar. Komm doch auch! Charlie und Noa würden sich freuen.«
Charlie und Noa waren Thierrys Kollegen beim Tatouage Gris, Brightons einzigem französischem Tätowierstudio. Sie konnte ihre Stimmen im Hintergrund hören, außerdem Frauengelächter. Zweifelsohne Tattoo-Groupies, die wegen der Messe in der Stadt waren. Thierry musste verrückt sein zu glauben, sie hätte Lust, sich ihnen anzuschließen.
»Nein, komm du her – ich muss mit dir reden.« Plötzlich sehnte sie sich verzweifelt danach, ihn zu sehen, wofür sie sich im selben Augenblick hasste. Er war eine Sucht, die sie einfach nicht loswurde.
»Worüber?«
»Ich hatte einen wirklich üblen Tag.«
Sie hörte Thierry seufzen.
»Thierry, ich habe eine Leiche gefunden.« Ihre Stimme schraubte sich eine Oktave höher. »Ich hab Angst …«
»Wow, nun mal langsam. Wovon redest du? Hast du die Polizei angerufen?«
»Selbstverständlich. Trotzdem muss ich etwas mit dir besprechen.«
»Nein. Ich bin müde, chérie, und tote Menschen gehen mich nichts an.«
»Komm schon, Thierry. Was, wenn es jemand war, den wir kannten? Was, wenn es Alex war?«
»Es war nicht Alex. Ich hab vor einer Stunde mit ihm telefoniert. Er war dabei, Pepper zu füttern. Ihr habt übrigens kein Hundefutter mehr.«
Pepper. Ihre Bulldogge.
»Bitte, Thierry.«
Thierry gab das stimmliche Äquivalent zu einem gallischen Achselzucken von sich, ein nonchalantes Grunzen, das sie einst geliebt hatte. »Wenn das ein Trick ist, um mich zu verführen …«
»Ach, Scheiße noch mal!« Sie legte auf und ging ins Haus.
»Mum!« Alex kam in den Flur und begrüßte sie mit einer Umarmung. »Wie war dein Tag?«
Marni straffte die Schultern und lächelte. »Super. Hab gute Arbeit geleistet bei einem meiner Stammkunden und mehreren Laufkunden. Und was hast du gemacht?«
Alex zog die Schultern hoch und ließ sie wieder sinken. »Ach, nichts Besonderes. Hab noch den Stoff für die letzte Prüfung wiederholt. Abi machen ist echt nervig.«
Einen Teller Pasta und ein Glas Wein später sank Marni aufs Sofa, um die Nachrichten zu sehen. Alex wollte auf Fußball umschalten, aber sie hatte die Fernbedienung. Im Nachhinein wünschte sie sich, sie hätte klein beigegeben.
… bittet die Polizei die anonyme Anruferin, die den Leichenfund in den Brightoner Pavilion Gardens gemeldet hat, sich an die nächste Dienststelle zu wenden, um bei der Aufklärung des Falles behilflich zu sein. Der Mann, der in einem Müllcontainer entdeckt wurde, konnte noch nicht identifiziert werden …
»Na schön, Alex, dann lass mal sehen, ob schon ein Tor gefallen ist.« Sie warf ihm die Fernbedienung zu und versuchte, das plötzliche Zittern ihrer Hände zu verbergen.
»Nein, warte mal – da ist jemand ermordet worden, in Brighton. Hier passiert doch nie was.«
Aber Marni wollte nichts davon hören. »Du wirst noch ein Tor verpassen«, hielt sie dagegen.
Da es nur wenige Fakten mitzuteilen gab, wandten sich die Nachrichten kurz darauf einem anderen Thema zu, und Alex zappte durch die Kanäle. Es stellte sich heraus, dass das Spiel ziemlich langweilig war; sie hatten kein Tor verpasst.
Alex wurde unruhig. »Wie lief’s heute?«
»Gut. Dein Vater hat seine Sache gut gemacht – die Tattoo-Messen in Brighton sind immer die besten.«
»Mum, denkst du, du kommst jemals wieder mit Dad zusammen?«
Marni verschluckte sich an ihrem Wein. Hustend schüttelte sie den Kopf. »Wie kommst du denn darauf?«
»Ihr hängt doch immer noch aneinander, wenn ihr zusammen seid.«
»Klar.« In seinem Alter schien das alles so einfach zu sein.
»Außerdem weiß ich, dass Dad das gern wollte.«
Tatsächlich? Hatte er als Single nicht viel mehr Spaß in einem Beruf, der jede Menge Gelegenheiten zum Flirten bot? Marni seufzte. »Das Problem mit deinem Vater ist, dass er die Vorstellung nicht mag, verheiratet zu sein. Die praktische Seite der Ehe umzusetzen, zählt nicht gerade zu seinen Stärken.«
»Niemand ist perfekt, Mum. Nicht einmal du.«
Marni Mullins träumte nicht. Sie konnte es sich nicht erlauben zu träumen – Träume waren zu schmerzhaft. Stattdessen lag sie einfach nur wach, die Augen weit offen in der schwarzen Leere. An Schlaf war schon lange nicht mehr zu denken, aber ihre Gedanken wanderten, ungebunden, unkoordiniert. Alex’ Worte hallten in ihren Ohren nach.
Hier passiert doch nie was.
Nur dass jetzt etwas passiert war und sie hineingezogen wurde. Ein Mann war tot. Ein Mann, der etwas an sich hatte, was aus irgendeinem Grund an die finsteren Untiefen ihrer Seele rührte. Etwas Vertrautes. Aber was war die Verbindung? Wenn er ein Einheimischer war, der sich hier hatte tätowieren lassen, würde sie ihn wahrscheinlich kennen. Nein, doch eher nicht. Tausende Menschen in Brighton hatten Tattoos. Und selbst wenn Thierry ihn tätowiert hatte, na und? Das bedeutete noch lange nicht, dass er etwas mit seinem Tod zu tun hatte.
Marni knipste die Nachttischlampe an. Das Licht blendete sie. Sie drückte die Augen zu und kämpfte gegen das Schluchzen an, das in ihrer Brust aufstieg. Es konnte keine Verbindung bestehen. Das war bloß ihre Fantasie, die ihr in dem Schwebezustand zwischen Wachsein und Schlaf etwas vorgaukelte. Sie setzte sich auf. Der Raum drehte sich. Galle stieg in ihrer Kehle auf.
Würgend rannte sie ins Badezimmer und beugte sich mit zusammengebissenen Zähnen über die Toilettenschüssel. Speichel flutete ihren Mund, und sie musste tief durchatmen, um ihre Gefühle endlich wieder unter Kontrolle zu bringen. Nach einer Weile sackte sie auf dem Fußboden zusammen, Tränen in den Augen. Sie blinzelte. Auf den weißen Fliesen waren Blutspritzer. In der Ferne hörte sie das kreischende Knirschen von zufallenden Metalltüren. Sah Ziegelwände in Anstaltsgrau. Ihr Bauch und ihre Brüste spannten im letzten Stadium der Schwangerschaft. Schritte auf dem Gang, ihr Blut gefror, eine Explosion aus Schmerz. Krämpfe. Sie kauerte sich zusammen, blutete, schrie um Hilfe. Bekam bloß einen weiteren Tritt in den Bauch …
Sie öffnete die Augen, und das Blut war verschwunden. Die Leiche und das Tattoo des heiligen Sebastian hatten diese Erinnerungen ausgelöst. Sie musste wissen, so oder so, ob die Tätowierung des toten Mannes von Thierry stammte. Hoffentlich nicht, denn dann könnte sie die ganze Sache vergessen.
Zurück in ihrem Schlafzimmer, suchte sie nach ihrem Smartphone und googelte die Nummer der Brighton Crimestoppers, einer gemeinnützigen Organisation zur Verbrechensbekämpfung, die eng mit der Polizei zusammenarbeitete.
Es läutete. Und läutete. Und läutete.
Marni wartete. Sie wusste nicht, warum. Es war zwanzig vor drei am Morgen, es war bestimmt niemand da, der ihren Anruf entgegennehmen würde.
Schlussendlich gab sie auf. Sie schleuderte das Handy zur Seite, warf sich rücklings aufs Bett und wartete darauf, von ihren Ängsten übermannt zu werden.