5
Rory
Der ranzige Gestank des Todes stach Rory in die Nase, noch bevor er es durch die Türen der Gerichtsmedizin geschafft hatte. Binnen Sekunden verwandelte sich der Geruch in Geschmack, der seinen Mund ausfüllte. Er fing an zu husten und strebte schnurstracks zu der Stelle, an der Rose Lewis ihr Wick VapoRub aufbewahrte. Laute Chormusik wummerte wie ein Sperrfeuer auf seine Ohren ein. Rose Lewis’ Arbeitsplatz war definitiv kein Ort für Katerstimmung – das wusste er vom letzten Mal.
»Morgen!«, rief Rose über den Lärm hinweg, dann beugte sie sich wieder über den Leichnam eines nackten Mannes, ein Skalpell in der Hand.
Rory nickte ihr zu und verteilte die durchsichtige Salbe zwischen Oberlippe und Nase, um den Gestank der Balsamierflüssigkeit, die nach fauligen Äpfeln roch, und der scharfen Essignote des Formaldehyds zu überdecken.
»Membra Jesu Nostri«,
sagte Francis, der Rory gefolgt war und nun darauf wartete, dass er die VapoRub-Dose wieder zuschraubte.
Rory hatte keinen blassen Schimmer, worüber er sich ausließ.
»Verdammt, Sie sind gut, Sullivan«, sagte Rose, ging zu ihrem Soundsystem und drehte die Lautstärke herunter. »Komponist?«
»Buxtehude.«
»Richtig. Eignet sich besonders gut zum Arbeiten. Das Libretto widmet sich den einzelnen Körperpartien des leidenden Jesus. Aber das wissen Sie ja bereits.«
Rory reichte Francis kommentarlos die VapoRub-Dose. Diese Intellektuellen, die sich voreinander wichtigmachten. Es schien ein Spiel zu sein, das sie beide gern spielten, um herauszufinden, wer von ihnen der Cleverste war. Doch so löste man keine Fälle, und wenn Sullivan glaubte, er könne Rory damit beeindrucken, dann hatte er sich geschnitten.
Wenn er ehrlich war, zählte die Gerichtsmedizin nicht gerade zu Rorys Lieblingsorten, daher versuchte er, so wenig Zeit wie möglich dort zu verbringen. Es war nicht so, dass er Rose nicht mochte – sie verhielt sich ihm gegenüber stets ausgesprochen höflich, wenn auch ein wenig herablassend –, aber ihre Selbstsicherheit im harschen Gleißlicht des polarweißen Umfelds führte dazu, dass er sich mitunter etwas klein vorkam. Natürlich war die Arbeit, die Rose leistete, wichtig, aber DNA
-Spuren und Blutspritzer waren nicht alles, sondern lediglich Teil des Gesamtbilds. Die Tendenz, bei der Lösung eines Falles die Wissenschaft für das A und O zu halten, nahm deutlich zu, doch in Wirklichkeit war sie lediglich ein Hilfsmittel, um die solide Polizeiarbeit zu unterstützen.
Rory zog ein Paar Latexhandschuhe an und folgte seinem Chef zu Roses Arbeitsplatz.
Im Augenblick war nur ein einziger Leichnam zu sehen, aber er wusste, dass in den Stahlschubladen an einer der Wände noch weitere lagen. Rose und ihr Team arbeiteten fleißig eine Leiche nach der anderen ab und setzten anhand der Geheimnisse, die Blut, Fleisch, Knochen und Zähne preisgaben, die verschiedenen Lebensgeschichten zusammen. Er fragte sich, was sie ihnen wohl über den Mann aus dem Müllcontainer erzählen würde.
Der Tote auf dem Obduktionstisch vor ihnen war zum Teil mit einem weißen Gummilaken bedeckt. Er lag auf dem Rücken, ein Schnitt erstreckte sich von seinem Sternum bis zum Schambein; Rose hatte bereits begonnen, die Organe zur weiteren Untersuchung zu entnehmen. Rory betrachtete den Leichnam, der deutliche Verwesungsspuren aufwies. Die Gesichtszüge waren unscharf. Die Ratten hatten sich an Haut und Fleisch gütlich getan – ein Teil der Lippe fehlte, die Nase war abgekaut, beide Wangen waren zerfleischt. Am restlichen Körper wirkte die Haut grau. Rory hatte über die Jahre hinweg zu viele Leichen gesehen, um entsetzt zurückzuzucken, aber er warf einen verstohlenen Seitenblick auf Francis. Es wäre nicht ganz fair zu behaupten, er sehe fassungslos aus – in Wirklichkeit blickte er nämlich eher interessiert. Trotzdem war sein Kiefer angespannt, was Rory vorher nicht aufgefallen war.
Rose hatte den Leichnam bestimmt schon fotografiert und vermessen, außerdem die Rückstände unter den Fingernägeln entfernt und sämtliche Wunden und Tätowierungen mithilfe ihres kleinen Aufnahmegeräts dokumentiert. Vermutlich hatte sie sogar auf die Musik verzichtet, um jedes Detail aufzuzeichnen. Im Augenblick untersuchte sie mit behandschuhten Fingern die Mundhöhle des Toten. Als Nächstes – die entwürdigendste Prozedur bei ungeklärter Todesursache – würde sie sich seinen Anus vornehmen und nach Hinweisen auf kürzlich erfolgten Sex oder sexuellen Missbrauch suchen.
Die beiden Polizisten sahen ihr schweigend zu, bis sie schließlich ihr Diktiergerät zückte und zu ihnen aufsah.
»Irgendwelche Erkenntnisse, Rose?«, fragte Francis.
Sie stellte die Musik ab. Gott sei Dank. Der Lärm ging ihm allmählich auf die Nerven.
»Erkenntnis Nummer eins: Ich werde Probleme mit Mike bekommen, weil ich am Montag des verlängerten Wochenendes arbeite.«
Francis zuckte die Achseln. »Wenn es nach mir ginge, würden Mörder ausschließlich montags bis freitags zwischen neun und siebzehn Uhr zuschlagen.«
Rose lachte.
»Apropos Überstunden«, sagte Rory. »Wie geht es Laurie?«
»Die Frage ist durchaus berechtigt. Pluspunkt für dich, weil du daran gedacht hast, Rory. Es geht ihm gut. Er hat mit der Oberschule begonnen, und er fühlt sich dort wohl.«
»Und was ist mit dem hier?« Francis deutete mit dem Kinn auf den Toten, um aufs Thema zurückzukommen.
Binnen einer Sekunde war Rose wieder durch und durch professionell.
»Richtig. Also, was haben wir bisher? Ich schätze, der Tod trat vor vierundzwanzig bis achtundvierzig Stunden ein, aber ich kann euch nicht genau sagen, ob er tot oder lebendig war, als er in den Müllcontainer geworfen wurde. Euer Team wird bestimmt in Erfahrung bringen, wann der Container zuletzt geleert wurde.«
»Hollins checkt das«, bestätigte Rory.
»Was ist mit der Überwachungskamera in der New Road?«
»Da ist Hitchins dran«, antwortete Francis.
»Die Tweedles«, sagte Rose. »Ihr solltet besser dranbleiben – die zwei können mitunter ein bisschen langsam sein.«
»Als ob ich das nicht wüsste«, murmelte Rory.
Tweedledum und Tweedledee, wie Hitchins und Hollins im Präsidium genannt wurden. Die beiden sahen einander verblüffend ähnlich; beide hatten widerspenstiges braunes Haar und eine Figur, die verriet, dass sie gern einen Donut zu viel aßen.
Rose sah Francis an, dann Rory.
»Sie haben Glück, einen solchen Stellvertreter zu haben, Francis.«
Francis nickte, aber er sagte nichts.
Schafft er es nicht mal, ihr beizupflichten?,
fragte sich Rory.
»Rory ist einer unserer erfahrensten Männer«, fuhr Rose fort. »Er weiß, was er tut, also nutzen Sie seine Fähigkeiten.«
Der Chef runzelte die Stirn. Rory unterdrückte ein Grinsen – das war nicht gerade ein Vertrauensbeweis, Roses Einschätzungsvermögen betreffend.
»Ich bin mir sicher, Rory wird es mich wissen lassen, wenn ich etwas falsch mache«, sagte Francis. In seiner Stimme klang Schärfe mit.
Rory schnaubte. Plötzlich fühlte er sich genauso unbehaglich wie der Chef wegen des Verlaufs, den das Gespräch nahm. Rose stichelte, und Rory fragte sich, warum. Was bezweckte sie damit?
»Der Schlag auf den Kopf hat ihn nicht gleich getötet«, sagte sie nun und wandte ihre Aufmerksamkeit glücklicherweise wieder der Leiche zu.
»Sind Sie sicher?«, fragte Francis und betrachtete die teilweise rasierte Schädeldecke. Rose drehte den Kopf leicht zur Seite, damit sie die blutige Delle im Schädel sehen konnten.
»Absolut. Die Wunde war nicht ausschlaggebend für seinen Tod; der Schlag hat ihn bewusstlos gemacht und hätte schlimmstenfalls einen bleibenden Gehirnschaden verursacht.«
»Also, was hat ihn dann umgebracht?«, wollte Rory wissen.
»Das war eine Kombination aus mehreren Faktoren«, antwortete Rose. Ihre Stimme triefte vor Zufriedenheit über das, was sie herausgefunden hatte. »Nach dem Schlag auf den Kopf war er bewusstlos. Ich nehme an, dass er noch lebte, als er entsorgt wurde. Er hat viel Blut verloren, was ihn, zusammen mit einer starken Unterkühlung, umgebracht hat.«
»Blutverlust wegen der Kopfwunde? Die sieht gar nicht so groß aus«, wunderte sich Francis.
»Zum Teil deswegen, doch hauptsächlich wegen dieser Wunde hier.« Sie deutete auf die große blutige Fläche auf der Schulter und im Brustbereich des Mannes, wo die Haut fehlte.
»Ich dachte, das wären die Ratten gewesen, post mortem«, sagte Rory.
»Nicht ganz. Und hier wird es interessant, deshalb hab ich euch auch so schnell herbestellt.«
Rory betrachtete die blutige Masse.
»Sehen Sie ruhig genauer hin«, drängte Rose. Sie drehte sich zu der Ablage hinter ihr und nahm eine Lupe zur Hand, die sie Francis reichte. »Sehen Sie? Dort sind Schnittspuren, die meiner Meinung nach von einer kurzen, extrem scharfen Klinge stammen.«
Francis beugte sich vor und untersuchte die Stelle, auf die sie deutete, mit behandschuhter Hand. »Ich sehe, was Sie meinen.«
Er reichte Rory die Lupe und trat einen Schritt zurück. Rory betrachtete die Wunde. Rose hatte recht. Es waren unverkennbar Schnitte im Fleisch zu sehen, und die konnten unmöglich von Tieren stammen.
»Jesus!«
Er sah, wie sein Chef bei seiner Wortwahl zusammenzuckte. Ausgerechnet er musste mit diesem religiösen Fanatiker zusammengespannt werden!
»Glauben Sie, die Schnitte wurden vor oder nach dem Schlag auf den Kopf ausgeführt?«, wandte er sich an Rose.
»Was das betrifft, kann ich nur Vermutungen anstellen, aber ich würde sagen, danach«, antwortete die Gerichtsmedizinerin. »Die präzisen Schnitte legen nahe, dass sich das Opfer zum Zeitpunkt der Ausführung nicht gewehrt hat. Aber die Schnitte sind nicht tief. Sie sollten den Mann nicht umbringen. Es sieht eher danach aus, als habe jemand wohlüberlegt Haut und Fleisch vom Körper gelöst. Doch das lässt sich nur schwer mit Sicherheit sagen. Es gibt genauso viele Bissspuren wie Schnitte.«
Rory untersuchte weiter das freiliegende Fleisch. »Die Schnitte scheinen um die Wunde herumzuführen.«
»Die perpendikularen Schnitte, ja«, sagte Rose. »Aber hier und auch hier im Zentrum sind einige horizontale Schnitte in der Dermis zu erkennen.«
Rory kniff die Augen zusammen und blinzelte konzentriert. Er konnte lediglich ein paar kleine, gerade Linien in der schmutzigen breiigen Masse erkennen. Sein Magen zog sich zusammen, und für einen kurzen Moment musste er die Kiefer fest zusammenpressen, bis das Übelkeitsgefühl nachließ.
»Lassen Sie mal sehen«, sagte Francis.
Erleichtert reichte Rory ihm die Lupe.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte der DI
und schaute angestrengt durch das Vergrößerungsglas.
»Das bedeutet, Francis, dass Ihr Opfer gehäutet wurde. Wahrscheinlich während es noch lebte, dem hohen Blutverlust nach zu urteilen.«