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Francis
Schwarze Jeans, schwarze T-Shirts, rasierte Köpfe oder Dreadlocks. Kahl. Tätowiert. Haut. Um Francis herum floss literweise Tinte in lebendes Fleisch, so schnell, dass er die Bilder kaum erkennen konnte. Tiefschwarze, schmutzig blaue oder leuchtend bunte Zeichen. Was zum Teufel hatte er am Montag des verlängerten Wochenendes auf der Brighton Tattoo Convention verloren? Er hatte einen grummelnden Mackay zurück an den Leichenfundort geschickt, damit er die Gegend noch einmal nach Fingerabdrücken absuchen ließ und Ausschau hielt nach Fleischstücken, die womöglich aus dem Körper des Mannes geschnitten worden waren. Er wollte in der Zwischenzeit die mysteriöse Anruferin ausfindig machen, deshalb war er hier. Das Handy, von dem der Anruf getätigt worden war, gehörte einer hiesigen Tattoo-Künstlerin. Ihre Website verriet ihnen, dass sie auf der Messe war. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde sie weitere Informationen für sie haben. Francis wollte unbedingt herausfinden, warum die Frau so ausweichend gewesen war und ihren Namen für sich behalten hatte.
Er fühlte sich schmerzlich verunsichert, als er die Haupthalle des Brighton Centre, des großen Veranstaltungs- und Kongresszentrums an der Kings Road, betrat. Offenbar war er der einzige Mensch im ganzen Gebäude, der keine Tätowierung hatte – und vermutlich der einzige, der einen Anzug trug.
Er holte tief, wenngleich widerwillig Luft, dann stürzte er sich ins Gedränge.
Die Leute wimmelten um ihn herum, schoben und stießen ihn zur Seite, traten ihm auf die Zehen und verrenkten sich die Hälse, um in die Standnischen zu blicken. Und dann war da der Lärm. An jedem Messestand dröhnte laute Heavy-Metal-Musik, die jeweils die der Nachbarstände zu übertönen versuchte.
Noch lauter aber war ein unablässiges, schrilles Geräusch. Er konnte die Quelle nicht ausmachen, bis seine Augen an dem nackten Rücken eines Mannes hängen blieben. Eine Frau tätowierte ihn – der Lärm stammte von dem kollektiven elektrischen Surren der Tattoomaschinen. Blut sickerte aus den schwarzen Linien, die sie in die Haut stach. Ein unangenehmer Geruch nach Kupfer hing in der Luft.
Es war stickig in der Halle und viel zu warm. Francis drängte sich bis zum Ende des Gangs, verzweifelt darum bemüht, eine freie Fläche zu finden. Er verstand nicht, warum man sich tätowieren ließ, und die Begeisterung der Massen verstand er erst recht nicht. Mit Sicherheit hatten all diese Menschen besser ausgesehen, bevor sie ihre Körper für immer verunstaltet hatten. Das Ganze hatte etwas von einem Stammesritual an sich. Aber welcher Stamm hielt ein solches Ritual ab, und welche Bedeutung hatte es?
»Entschuldigung?«
Er tippte einem vorbeigehenden Jugendlichen auf die Schulter. Der junge Mann drehte sich zu ihm um. Auf die linke Seite seiner Stirn war ein blaues Spinnennetz tätowiert, das unter seinem Haaransatz verschwand.
»Ja?«
»Ich suche eine Tattoo-Künstlerin namens Marni Mullins.«
Der Jugendliche zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus der Gesäßtasche seiner Jeans. Darauf abgebildet war der Grundriss der Kongresshalle mit den nummerierten Messeständen. Er drehte das Blatt um und ging die Liste mit Tattoo-Künstlern durch.
Als er den Kopf senkte, konnte Francis unter seinem kurzen blonden Haar den Rest des Spinnennetzes erkennen, außerdem die dunklen Umrisse eines Wortes. Er kniff die Augen zusammen, aber er konnte nicht erkennen, was dort stand.
»Marni …?«, fragte der Blonde.
»Mullins.«
»Stand achtundzwanzig.«
»Danke«, erwiderte Francis.
»Keine Ursache, Kumpel.« Der junge Mann verschwand im Gewimmel, noch bevor Francis ihn fragen konnte, wo genau sich Stand achtundzwanzig befand. Egal. Vermutlich waren die Stände numerisch geordnet. Seufzend begab er sich erneut in die Menge.
Drei Mädchen in trägerlosen Fünfzigerjahrekleidern, die Haare frisiert wie Marilyn Monroe, trieben ihn vorwärts und hüllten ihn in eine süßliche Parfümwolke. Ihre Arme, Schultern und Dekolletés waren mit Blumen, Vögeln und Herzchen in leuchtenden Farben verziert. Er ließ sich zurückfallen, um ihrem lauten Gegacker zu entkommen, und fand sich gleich darauf inmitten einer anderen Gruppe wieder: Goths mit pechschwarzen Haaren, genauso schwarz wie ihre Tätowierungen. Er warf einen Blick auf die Standnummern und drängte sich zur nächsten Reihe durch.
Francis setzte seine Ellbogen ein, bahnte sich einen Weg durch die Mitte und schaute suchend von einer Seite zur anderen. Ein Mädchen lag so gut wie nackt auf einem Massagetisch, während zwei stark tätowierte Männer gleichzeitig an einem spektakulären chinesischen Motiv arbeiteten, das ihren ganzen Rücken bedeckte. Ein Mann saß stumm da, die Augen geschlossen, Tränen liefen über seine Wangen, während eine junge Frau geschickt die Striche eines geometrischen Musters um seinen Oberarm ausführte. Am selben Messestand tätowierte ein Mann den Schädel eines anderen Mannes. Mein Gott, das muss doch furchtbar schmerzhaft sein!,
dachte Francis,
aber der Kerl, der tätowiert wurde, zuckte nicht mit der Wimper.
Endlich kam er zu Messestand Nummer achtundzwanzig. Eine Tattoo-Künstlerin war dabei, eine Kundin zu bearbeiten, die viel zu jung aussah für eine Tätowierung. War das die Frau, deren Handy sie zurückverfolgt hatten? Klein und drahtig saß sie auf einem Hocker und konzentrierte sich auf ein riesiges Chrysanthemen-Tattoo in Lila und Pink auf dem Bein des jungen Mädchens vor ihr. Ihr unbändiges dunkles Haar war zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, aus dem sich der Großteil der Strähnen schon wieder gelöst hatte. Sie trug eine verwaschene Jeanslatzhose und ein ärmelloses weißes Rippenhemd; ihre muskulösen Arme waren der Länge nach mit blauen und grünen Wirbeln verziert.
Francis betrachtete sie einen Moment lang. Würde sie der Polizei helfen, oder hatte sie etwas zu verbergen? Ein gewisser Teil der Öffentlichkeit schien es reizvoll zu finden, an der Aufklärung eines Mordes beteiligt zu sein, aber nicht diese Frau. Sie hatte unbedingt anonym bleiben wollen.
Er hustete laut, um ihre Aufmerksamkeit zu erwecken. »Sind Sie Marni Mullins?«
Die Frau arbeitete weit oben an der Schenkelinnenseite ihrer Kundin. Das Mädchen zappelte unruhig mit dem anderen Bein, kleine Seufzer drangen über ihre Lippen, eine Mischung aus Genuss und Schmerz. Unbeirrt fuhr Marni Mullins damit fort, die Blütenblätter mit tiefrosa Tinte zu schattieren.
Francis sprach sie erneut an, und diesmal nahm sie die Tätowiermaschine von der flaumigen Haut und hob den Kopf, um zu sehen, wer sie angesprochen hatte.
»Das bin ich.«
Er stellte fest, dass sie älter war als erwartet – Mitte, Ende dreißig, kleine Krähenfüße waren in ihren Augenwinkeln zu erkennen.
»Ich bin für den Rest des Nachmittags ausgebucht«, sagte sie und senkte den Blick wieder auf ihre Arbeit.
»Ich bin nicht wegen eines Tattoos hier.«
Marni Mullins sah ihn erneut an, diesmal aufmerksamer, dann schüttelte sie den Kopf, als würde ihr soeben klar, dass sie einen Fehler gemacht hatte.
»Nein, offensichtlich nicht. Was wollen Sie?«
»Mein Name ist DI
Francis Sullivan. Ich ermittle in einem Vorfall, der sich gestern in den Pavilion Gardens zugetragen hat. Es wäre sehr freundlich von Ihnen, wenn Sie Ihre Tätowierpistole einen Moment zur Seite legen und mit mir reden könnten.«
»Maschine.«
»Wie bitte?«
»Das hier ist eine Tätowiermaschine, auch Tätowiereisen genannt. Den Begriff ›Tätowierpistole‹ verwenden wir nicht.«
»Dann eben Tätowiermaschine, wie auch immer. Auf alle Fälle muss ich mit Ihnen reden.«
»Und warum?« Ihr Ton klang feindlich.
»Ich habe Grund zu der Annahme, dass Sie die Leiche gestern entdeckt und Ihren Fund mit einem anonymen Anruf der Polizei von Brighton gemeldet haben. Ist das der Fall?«
Das Mädchen, das tätowiert wurde, richtete sich interessiert auf, um zu sehen, mit wem Marni sprach.
»Du kennst jemanden, der ermordet wurde?«, fragte es neugierig. Francis stellte fest, dass es lispelte.
»Nein«, entgegnete Marni. »Das ist eine lange Geschichte.«
»Die ich lieber persönlich mit Ihnen besprechen würde«, fügte Francis hinzu.
Marni Mullins legte die Stirn in Falten. »Geben Sie mir eine Stunde, wenn Sie unbedingt allein mit mir reden wollen. Ich kann meine Arbeit nicht mittendrin unterbrechen.«
»Sie behindern eine polizeiliche Ermittlung.«
»Und Sie kosten mich Geld und meinen Ruf. Ich bin in einer Stunde fertig, und wenn das nicht genügt, dann müssen Sie mich eben verhaften.«
Das wäre nicht unbedingt die Art und Weise, eine Zeugin zur Kooperation zu bewegen, weshalb er es mit einem versöhnlicheren Ton versuchte. »Okay. Wir reden in einer Stunde. Wo?«
»Im Büro im Erdgeschoss. Bringen Sie Kaffee mit.«
Das Mädchen grinste ihn an. »Vielleicht bleibt ja noch Zeit für ein kleines Tattoo.«
Francis ignorierte sie. »Wir treffen uns in einer Stunde unten im Büro«, sagte er zu Marni.
»Uncool«, murmelte das Mädchen und legte sich zurück auf die Massagebank.
»Polizisten«, erwiderte Marni Mullins, der es offensichtlich gleich war, dass sich Francis noch immer in Hörweite befand. »Sie kapieren es nicht. Da versucht man, ihnen zu helfen, und sie glauben, sie können einen schikanieren. Verfluchte Scheißkerle.«