7
Marni
Zwei Stunden später stieß Marni die Tür zu dem winzigen Messebüro auf und fragte sich, ob es wirklich richtig gewesen war, die Polizei zu rufen. Der Auftritt des schlaksigen jungen Inspectors von der Mordkommission an ihrem Messestand hatte sie nervös gemacht, und sie war gar nicht glücklich über die Aussicht, das Ganze noch einmal durchzukauen, von Angesicht zu Angesicht. Sie trat ein und stellte fest, dass das Büro noch kleiner wirkte als sonst, jetzt, da Francis Sullivan seine langen Beine unter Thierrys Schreibtisch zusammenfaltete.
Prall gefüllte Aktenordner, stapelweise Unterlagen, schwankende Kistenstapel mit Messeprogrammen, halb leere Kaffeebecher und ein überquellender Mülleimer – das alles war ihr nur allzu vertraut. Marni beäugte Francis misstrauisch, nahm einen Stapel Papiere von dem Stuhl ihm gegenüber und setzte sich. Er sah jung aus für einen Detective Inspector – und vollkommen deplatziert. Niemand trug auf einer Tattoo-Messe einen Anzug. So etwas kam einfach nicht vor. In ihrer Welt bedeuteten Männer in Anzügen für gewöhnlich nichts Gutes.
Und dennoch – er hatte einen gewissen jungenhaften Charme an sich. Er sah interessant aus: rotblonder Igelschnitt, ein leicht schiefer Mund, die Nase gebogen, was sie ein bisschen an einen Habicht erinnerte. Er hatte lange auf sie warten müssen, was seine Laune nicht gerade verbessert hatte. Mit finsterem Blick sah er sie über den Schreibtisch hinweg an.
»Tut mir leid, dass es länger gedauert hat«, sagte sie, wenngleich sie bezweifelte, dass ihre Worte überzeugend klangen.
Er nickte knapp, dann deutete er auf einen von zwei To-go-Kaffeebechern.
»Sie haben die Leiche entdeckt, ist das richtig?« Sein Ton stellte klar, dass es sich nicht wirklich um eine Frage handelte.
Marni trank etwas von dem Kaffee. Er war kalt.
»Ich hab den Fund gemeldet.«
»Sie haben Ihren Namen nicht genannt.«
»Was anscheinend keinen Unterschied macht. Sie wissen ohnehin, wer ich bin. Woher?«
DI Sullivan blickte sie mit gefurchter Stirn an.
»Ich könnte Sie unter Anklage stellen, weil Sie die Polizei Zeit und Geld gekostet haben. Es hat mich einen halben Tag gekostet, Sie anhand Ihrer Handynummer aufzuspüren.«
Das war typisch. Natürlich war er nicht hergekommen, um sich bei ihr zu bedanken, dass sie ihre bürgerliche Pflicht erfüllt hatte. Es war der übliche Mist – sie hatte etwas falsch gemacht, und es war sein Job, sie deshalb zurechtzuweisen. Sie verschwendete hier nur ihre Zeit, während draußen ihre Kunden warteten.
»Tut mir leid«, sagte sie, schob ihren Stuhl zurück und stand auf, um zu gehen.
Sullivan war schneller als sie, sprang auf und verstellte ihr die Tür.
»Ich war noch nicht fertig«, sagte er. »Ich möchte ganz genau erfahren, wie Sie auf den Leichnam gestoßen sind. Wir können das hier hinter uns bringen, oder ich kann Sie ins Präsidium vorladen.«
Marni setzte sich wieder. Verdammt! Sie würde es nicht über sich bringen, eine Polizeistation zu betreten. Warum war sie gestern bloß in den Park gegangen?
»Was wollen Sie wissen?«
Auch Sullivan nahm wieder Platz.
»Alles«, sagte er, »von Anfang an, und lassen Sie bitte nichts aus.« Er nahm sein Smartphone aus der Brusttasche und einen Touchpen, bereit zu schreiben.
Marni nahm einen Schluck von ihrem kalten Kaffee, schnitt eine Grimasse, weil kein Zucker darin war, dann berichtete sie detailliert, wie sie den toten Mann entdeckt hatte. Es dauerte bloß drei Minuten – sie hatte sich einen Kaffee geholt, eine Zigarette geraucht, den Müllcontainer geöffnet –, doch er schrieb jedes Wort mit. Dass sie sich im hinteren Bereich des Gartencafés herumgedrückt hatte, um Thierry aus dem Weg zu gehen, verschwieg sie ihm.
»Haben Sie irgendwelche Tätowierungen an der Leiche bemerkt?«, fragte er.
»Ja … vage. Aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie sie aussahen.«
Der Inspector legte die Hand auf einen braunen Umschlag auf dem Schreibtisch.
»Er hatte ziemlich viele Tattoos, und ich muss wissen, wer sie gemacht hat.«
»Warum?« Ihr Herz fing an zu hämmern.
Sullivan nahm den Umschlag zur Hand, zog mehrere 20x25-Zentimeter-Fotos heraus und breitete sie auf dem vollgepackten Schreibtisch aus. Es handelte sich um Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Tätowierungen – dem heiligen Sebastian, einem Paar betender Hände, einem Adler auf einem Totenkopf. Um den Oberarm des Mannes wand sich ein tätowierter Stacheldraht. Marni beugte sich vor, um die Bilder genauer zu betrachten.
»Sieht aus, als sei der Kerl ein Sammler gewesen«, sagte sie.
»Ein Sammler?«
»Ein Tattoo-Sammler«, erklärte sie. »Sehen Sie, die stammen alle von verschiedenen Künstlern.«
»Und das können Sie erkennen?«
Nun war es an ihr, ihm einen verwunderten Blick zuzuwerfen. »Jedes einzelne hat einen völlig anderen Stil. Überwiegend gute Arbeit, aber es ist ein ziemliches Sammelsurium.«
Marni nahm sich Zeit, die einzelnen Motive eingehend zu betrachten. Die betenden Hände waren gut, sehr gut. Er musste einen ordentlichen Preis dafür bezahlt haben. Sie ließ das Foto sinken und griff zum nächsten. Der Anblick traf sie wie ein Vorschlaghammer zwischen die Augen. Marni war sich beinahe sicher, dass sie ein Tattoo betrachtete, das von ihrem Ex-Mann stammte. Der heilige Sebastian trug eindeutig Thierrys Handschrift – genau wie sie vermutet hatte.
»Sie kennen die Tätowierung?«
Eilig schüttelte Marni den Kopf. Zu eilig.
»Bitte, Miss Mullins. Es könnte wichtig für den Fall sein.«
Marni spürte, wie Angst in ihrer Brust aufstieg. Sie wollte nichts mit der Polizei zu tun haben, nicht wieder, und das könnte nur zu leicht passieren, wenn Thierry tatsächlich auf irgendeine Art und Weise involviert war. Sie schüttelte den Kopf und schwieg, wobei sie sich inständig wünschte, Sullivan würde sie in Ruhe lassen.
»Wenn Sie mir etwas verschweigen, was für meinen Fall relevant ist, werde ich Sie wegen Behinderung der Polizeiarbeit festnehmen«, drohte er noch einmal. »Also: Sollten Sie wissen, wer die Tätowierung gemacht hat, wäre es in Ihrem eigenen Interesse, mir dies mitzuteilen.«
Marni schloss die Augen und schürzte die Lippen. Konnte das Tattoo tatsächlich etwas mit dem Tod des Mannes zu tun haben?
»Sieht nach der Arbeit meines Ex-Manns aus.« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
»Was haben Sie gesagt?«
Marni schluckte. Ihr Mund war trocken.
»Mein Ex-Mann. Das Tattoo könnte von ihm stammen.« Diesmal sprach sie laut genug.
»Name?«
»Thierry Mullins. Aber Sie glauben doch nicht, dass er deshalb etwas mit der Sache zu tun hat? Der Mann hatte viele Tätowierungen von verschiedenen Künstlern.«
Er ignorierte ihre Frage.
»Können Sie mir sagen, wo ich Thierry finden kann? Ich muss ihn dringend sprechen – vielleicht kann er bei der Identifizierung des Mannes behilflich sein.«
»Wir sitzen in seinem Büro«, antwortete Marni tonlos.
Ein paar Minuten später wurde die Tür von außen mit dem Fuß aufgestoßen, und Thierry Mullins trat ein, augenscheinlich wenig erfreut darüber, in sein eigenes Büro beordert worden zu sein. Er blickte finster von Marni zu DI Sullivan und verschränkte abwehrend die Arme vor der Brust.
»Egal worum es geht – ich habe keine Zeit dafür.«
Es war das erste Mal seit mehreren Monaten, dass Marni persönlich mit ihm redete. Obwohl sie sich das Sorgerecht für einen Teenager teilten und eine gemeinsame Vergangenheit hatten, versuchte sie für gewöhnlich, direkten Kontakt zu vermeiden – der Sonntagabend stellte eine absolute Ausnahme dar. Doch jetzt war er hier, und sie nahm seinen Anblick begierig in sich auf. Sie konnte seinen Schweiß riechen, vermischt mit dem Duft seines Eau de Cologne. Er sah müde aus, in seinen Haaren war mehr Grau als damals, als sie noch zusammen gewesen waren. Ihre Augen glitten über die dunklen Tattoos auf seinen muskulösen Armen, dann riss sie ihren Blick los.
Zumindest für kurze Zeit war er ein ausgezeichneter Ehemann gewesen, hatte ihr während ihrer turbulenten Anfangszeit unerschütterlich zur Seite gestanden, hatte sie geheiratet, als sie feststellten, dass sie schwanger war, hatte ihr über das Trauma hinweggeholfen, das sie erlitten hatte, hatte sich um Alex gekümmert, als sie dazu nicht in der Lage gewesen war … Aber das war lange her. Sie waren gerade mal sieben Jahre verheiratet gewesen, als er anfing, sich nach anderen Frauen umzusehen.
Natürlich war er Alex nach wie vor ein großartiger Vater – das würde sie niemals leugnen. Und er hatte auch seine guten Seiten, war ein Bonvivant, der Schwung in jede Party brachte, war humorvoll, gutherzig, großzügig mit Lob, auch wenn er mitunter zu schnell aufbrauste. Außerdem war er ein brillanter Tätowierer, der sich auf religiöse Ikonografie spezialisiert hatte, und die große Tattoo-Messe, die er organisatorisch zu verantworten hatte, war ein Erfolg. Trotzdem hasste sie ihn. Zumindest redete sie sich das ein – und zwar zu ihrem eigenen Schutz. Es gab zu viel Dunkles in ihrer gemeinsamen Vergangenheit. Sie musste nur seinen französischen Akzent hören, und schon dachte sie an Dinge, die ihr unanständig erschienen, selbst wenn sie in die Zeit fielen, in der sie noch verheiratet gewesen waren.
»Marni?« Thierry sah sie besorgt an.
Francis Sullivan ergriff das Wort und hielt Thierry das Foto mit dem Tattoo des heiligen Sebastian entgegen.
»Stammt diese Tätowierung von Ihnen?«
Thierry warf einen Blick auf die Aufnahme, dann wanderten seine Augen zurück zu Marni.
»Was soll das?« Die Frage war unmissverständlich an sie gerichtet.
»Mr. Mullins …«
»Sie sind von der Polizei, hab ich recht?«
»Ja.«
Er machte Anstalten, das Büro zu verlassen, dann drehte er sich noch einmal um. »Wenn Sie hier sind, um meine Frau zu schikanieren, würde ich mir das an Ihrer Stelle sehr gut überlegen.«
»Thierry.« Marni streckte die Hand aus und berührte ihn am Arm. »Warte.«
»Komm, Marni, lass uns gehen.«
»Wenn Sie das tun, Mr. Mullins, komme ich Ihnen mit einer richterlichen Anordnung. Und jetzt beantworten Sie bitte meine Fragen. Haben Sie diese Tätowierung gemacht?« Der DI hielt immer noch das Foto in der Hand.
Thierry trat einen Schritt nach vorn. Er war mehrere Zentimeter größer als der Inspector und muskelbepackt.
»Und was, wenn?« Seine Stimme erinnerte an ein Knurren.
»Wir versuchen, eine Leiche zu identifizieren. Können Sie uns dabei helfen?« Francis’ Stimme hatte einen überdrüssigen Ton angenommen.
Thierry sah Marni an.
»Irgendwer muss doch wissen, was mit diesem Mann passiert ist«, sagte sie, erneut gepackt von Entsetzen wegen dem, was sie gesehen hatte, und nickte Thierry zu, damit er das Foto in die Hand nahm.
Er betrachtete es ausgiebig.
»Das könnte sein«, antwortete er schließlich.
Marni streckte die Hand nach Thierrys Laptop aus, der am Rand des Schreibtischs stand.
»Warum siehst du nicht nach? Wenn du das Tattoo gemacht hast, müsste sich ein Bild in deinem Archiv finden.«
Thierry beugte sich über den Schreibtisch und fuhr seinen Computer hoch. Schweigend warteten Francis und Marni, während er die Dateien durchsuchte. Endlich klickte er einen Dateiordner an, der »Tattoos, nach Themen geordnet« benannt war. Der Ordner enthielt eine Liste von alphabetisch sortierten Dateien, darunter J wie »Jungfrau Maria«, L wie »Luzifer« oder R wie »Racheengel«. Jetzt öffnete er eine Datei, die mit S wie »St. Sebastian« überschrieben war. Eine Reihe von Tattoos mit Motiven des heiligen Sebastian erschien auf dem Bildschirm. Thierry scrollte mehrere durch, aber jedes wies deutliche Unterschiede zu der Tätowierung auf dem Foto auf – mal waren die Pfeile im Torso des Heiligen anders platziert, mal neigte er den Kopf zur anderen Seite.
»Warte mal«, sagte Marni plötzlich. »Das ist es. Geh mal zurück.«
Thierry scrollte weiter hinauf.
»Du hast recht«, sagte er. »Die beiden sind identisch.«
»Wie hieß der Klient?«, fragte Sullivan.
»Ich erinnere mich nicht an den Namen jedes Kunden, den ich tätowiert habe. Das müssen Hunderte sein.«
»Was ist mit dem Datum?«, fragte Marni. »Die Archivbilder sind datiert – dann könntest du den entsprechenden Tag in deinem Auftragsbuch nachschlagen.«
Thierry klickte durchs Dateiverzeichnis.
»4. Mai 2010.«
Marni und Francis warteten schweigend, während er seinen Terminkalender aufrief. Das einzige Geräusch in dem kleinen Büro war das Klackern der Tastatur.
»Evan Armstrong. Jetzt erinnere ich mich. Ein großer Kerl. Der Bastard ist abgehauen, ohne zu bezahlen.«
»Ja«, bestätigte Francis, »der Tote war fast eins neunzig.«
»Er hatte bereits ein paar Tattoos, als ich an ihm gearbeitet habe«, fuhr Thierry fort.
Francis nutzte die Gelegenheit, ihm den Rest der Fotos hinzuschieben. »Das sind die anderen Tätowierungen. Haben Sie eine davon gemacht?«
Marni schüttelte den Kopf, aber Thierry nahm sich die Zeit, eine Aufnahme nach der anderen gründlich zu betrachten.
»Nein. Den Stacheldraht hatte er bereits. Beschissene Arbeit.« Er kam zu den betenden Händen. »Das hier ist sehr viel besser …«
Er blätterte die Fotos weiter durch. Marni warf ebenfalls einen Blick darauf.
Als sie zum letzten Bild kamen, schnappte sie nach Luft. Thierry fluchte leise auf Französisch. Sie starrten auf eine Farbaufnahme des Oberkörpers. Die gesamte linke Schulter war eine blutige Sauerei. Die Wunde erstreckte sich über den Rücken des Mannes und um seine Brust herum. Francis riss Thierry das Foto aus der Hand.
»Entschuldigung. Das war nicht für Ihre Augen bestimmt.«
»Ratten?«, fragte Thierry.
»Ja, aber …« Francis holte tief Luft. »Wir glauben, dass jemand ein Stück Haut herausgeschnitten hat.«
Marnis Kopf schnellte hoch. Sie starrte den DI fassungslos an. »Lassen Sie mich noch mal sehen.«
Er reichte ihr die Aufnahme, und diesmal sah sie genauer hin. Alle Farbe wich ihr aus dem Gesicht. Sie fuhr den Umriss der Wunde mit einem Finger nach, dann wischte sie sich mit der Hand über die Augen, als versuche sie, das Bild auszuradieren.
»Ich weiß, was das ist«, sagte sie bedächtig und tippte auf die Wunde. »Seht euch mal die Form an – sie ist symmetrisch. Jemand hat ein Tattoo von seinem Körper entfernt.«