8
Francis
Zurück in seinem Büro fragte sich Francis, ob er es wagen sollte, sich selbst zu diesem vielversprechenden Anfang zu gratulieren. Die schnelle Identifizierung des Leichnams war oftmals entscheidend für die Lösung eines Mordfalls – die meisten Mörder standen auf irgendeine Art und Weise mit ihrem Opfer in Verbindung.
»Rory!«, rief er, als er sich setzte.
Der Detective Sergeant erschien an seiner Bürotür.
»Ist schon bestätigt, dass es sich bei unserer Leiche tatsächlich um die Person handelt, die Mullins uns genannt hat?«
»Ja«, antwortete Rory und streckte seinem Chef einen Stapel Fotos entgegen. »Die hab ich auf Evan Armstrongs Facebook-Seite gefunden. Er ist zweifelsohne unser Mann – die geposteten Tattoos stimmen mit denen an der Leiche überein.«
Francis betrachtete die Fotos, mehrere Urlaubsschnappschüsse von Evan Armstrong in Shorts und T-Shirt.
»Sie brauchen noch eine offizielle Identifizierung des Opfers durch einen Angehörigen«, erinnerte ihn der Sergeant.
»Ja, vielen Dank, Rory. Daran hab ich schon gedacht.«
Das war die Schattenseite, der schlimmste Teil des Jobs, wenn man eine Leiche identifiziert hatte. Eine Aufgabe, die Francis nicht an ein Mitglied seines Teams delegieren konnte – es war seine Pflicht, der Familie die Nachricht zu überbringen. Eine solche Aufgabe durfte man nicht einfach abwälzen, denn es war in der Tat grauenvoll, trauernde Eltern oder Partner zu bitten, sich den Toten anzusehen, um zu bestätigen, dass es sich tatsächlich um den geliebten Menschen handelte.
Francis hatte die Höllenqualen einer Frau miterlebt, die man gebeten hatte, ein junges Mädchen zu identifizieren, das vergewaltigt und umgebracht worden war und das man für ihre Tochter hielt. Sie war zusammengebrochen, als sie dem Mädchen ins Gesicht geblickt und festgestellt hatte, dass eine Fremde vor ihr lag. Sie war darauf vorbereitet gewesen, ihre Tochter zu sehen, doch der schale Trost, dass sie nicht das Opfer war, zählte nur wenig, da sie mit einem Schlag in den Mahlstrom der Ungewissheit zurückgerissen wurde. So etwas wollte er nicht noch einmal erleben.
Und diesmal würde es auch nicht passieren. Evan Armstrong war tot, daran bestand kein Zweifel, und seine Angehörigen hatten ein Recht darauf, dies zu erfahren.
Als Francis im Wagen saß und zu seiner Familie nach Worthing fuhr, hatte er das Gefühl, eine schwarze Wolke hinter sich herzuziehen. Einen schweren Schleier aus Schmerz, der sie in naher Zukunft umhüllen würde. Der einzige Trost würde es sein, Evans Killer seiner gerechten Strafe zuzuführen.
»Wissen sie schon etwas?«, fragte Angie Burton, die ihn in ihrer Rolle als Opferschutzbeamtin begleitete.
»Es gibt keine Vermisstenanzeige, daher ist es schwer zu sagen, ob sie überhaupt bemerkt haben, dass er nicht mehr unter den Lebenden ist.«
Angie schwieg, aber sie zeigte keinerlei Anzeichen von Nervosität. Sie hatte ein attraktives, offenes Gesicht und war ein lockerer, umgänglicher Mensch. Ihre Aufgabe war es, sich im Augenblick der Verzweiflung um die Angehörigen zu kümmern, die nicht bemerken sollten, dass sie ihnen in Wirklichkeit Informationen über das Opfer und sein Leben entlocken sollte.
»Wir sind da«, sagte Francis und hielt am Bordstein vor einer im Tudorstil erbauten Doppelhaushälfte aus den 1930er Jahren mit imitierten Kassettenfenstern an.
Angie schüttelte traurig den Kopf, als sie die Stufen vor der Eingangstür hinaufstieg und auf die Klingel drückte.
»Er heißt Evan, richtig?«, flüsterte sie, an Francis gewandt.
Francis nickte. Von drinnen näherten sich Schritte.
Als sie mit einer Tasse starkem Tee mit ziemlich viel Milch Platz genommen hatten, konnte Francis es nicht länger vor sich her schieben. Evans Eltern – Rentner – waren beide zu Hause und sahen ihn mit besorgter Erwartung an. Evans Mutter sah aus, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen, obwohl er noch gar nichts gesagt hatte. Das Schweigen im Raum dehnte sich.
»Du sagst, sie sind von der Polizei?«, fragte Evans Vater seine Frau.
»Das sind wir«, antwortete Francis an Miss Armstrongs Stelle. »Ich bin Detective Inspector Francis Sullivan, und das ist Detective Constable Angela Burton.«
»Angie«, fügte sie hinzu.
Francis zögerte und blickte aus dem Fenster auf die Schrebergärten, die an den Garten der Armstrongs angrenzten. Eine ältere Frau grub kraftlos mit einer Spatengabel die Erde um. Einen Augenblick starrte er sie wie hypnotisiert an.
Lass sie nicht länger warten. Nein, gib ihnen noch ein paar Sekunden, bevor du ihr Leben torpedierst …
Er schluckte, dann fing er an zu sprechen. »Mr. und Mrs. Armstrong, wann haben Sie Evan das letzte Mal gesehen oder von ihm gehört?«
Das genügte. Evans Mutter krampfte die Hand um die Knopfleiste ihrer Bluse und stieß einen erstickten Schrei aus, dann sackte sie auf dem Sofa zusammen wie ein Ballon, dem die Luft entwich.
»Er hat am Wochenende nicht angerufen. Ich hab gleich gesagt, da stimmt was nicht«, sagte sie zu ihrem Mann, der haltgebend den Arm um sie legte.
»Warte, Sharon. Lass den Mann ausreden.« Sein Gesicht war aschfahl geworden, und Francis hörte ein Zittern in seiner Stimme.
»Am Sonntagmorgen wurde ein männlicher Leichnam in den Pavilion Gardens in Brighton gefunden. Wir haben Grund zu der Annahme, dass es sich um Evan handelt.« Er verschwieg die Tatsache, dass man den toten Mann in einem Müllcontainer entdeckt hatte.
»Deshalb hat er nicht angerufen«, stammelte Sharon Armstrong. »Er muss schon tot gewesen sein, als ich versucht habe, ihn zu erreichen.« Ihre Stimme war hysterisch schrill geworden, ihre Blicke schossen durchs Zimmer, doch Francis bezweifelte, dass sie irgendwen oder irgendetwas wahrnahm.
Angie ging zu ihr, kniete sich neben sie und legte ihre Hand auf Sharons zitternde Hände.
»Sind Sie sicher, dass er es ist?«, fragte Evans Vater mit brechender Stimme.
Jetzt kam das Schwierigste. Francis erklärte so behutsam er konnte, dass Evans Gesichtszüge kaum noch zu erkennen waren. Die Ratten erwähnte er nicht. Dafür teilte er den beiden mit, dass es dem Mörder womöglich um die Tätowierungen ihres Sohnes gegangen sein könnte, und erkundigte sich nach dem fehlenden Tattoo auf Schulter und Oberkörper.
Hinterher konnte sich Francis an kein einziges Wort erinnern, nur die Fakten, die ihm die Armstrongs nannten, waren ihm im Gedächtnis geblieben. Eine Tasse Tee wurde umgestoßen, und Angie holte ein Glas Wasser für Sharon, als diese in Ohnmacht zu fallen drohte, während Dave Armstrong mit versteinertem Gesicht schwieg, nachdem er sich die Fotos der verbliebenen Tattoos angesehen hatte.
»Ich wusste, dass es ein Fehler war, sich diese Tätowierungen stechen zu lassen«, sagte Sharon, die das Glas Wasser so fest umklammerte, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. »Man hat ihn umgebracht, oder?«
»Das kannst du doch gar nicht wissen«, widersprach ihr Mann. »Oder wissen Sie es schon?«, wandte er sich an Francis.
»Im gegenwärtigen Stadium der Ermittlungen können wir nur spekulieren. Wir kennen weder das Motiv noch können wir Genaueres über den Tathergang sagen. Sie wissen, dass er eine Tätowierung auf der linken Schulter hatte?«
Dave nickte. »Irgendein Stammesmotiv. Zog sich von der Schulter über Brust und Rücken. Das hatte er sich zuletzt stechen lassen – soweit ich weiß, erst vor ein paar Monaten. Er hat uns ein Foto davon geschickt.«
Francis’ Herz setzte einen Schlag aus, als er das Bild betrachtete. Es zeigte Evan Armstrong mit freiem Oberkörper und war schräg von hinten aufgenommen worden. Das komplizierte geometrische Muster erstreckte sich von seiner linken Schulter über die hinteren Rippen. Dieses Tattoo hatten sie nicht in seiner Facebook-Galerie gefunden. Francis konnte auf einen Blick erkennen, dass der Umriss mit der Wunde auf dem Leichnam übereinstimmte. Er musste die Aufnahme unbedingt Rose Lewis zeigen, und dann würde er herausfinden müssen, welches Monster das getan hatte und warum. Was in Evan Armstrongs Leben hatte dazu geführt, dass er ermordet und in den Müll geworfen worden war? In den sozialen Medien fand sich kein Hinweis darauf, dass er in eine kriminelle Sache verstrickt gewesen war, allerdings musste das nicht zwangsläufig den Tatsachen entsprechen. Hoffentlich würden die Armstrongs ein wenig Trost finden, ganz gleich, wer ihn spendete – Angie, Gott oder welche Reserven auch immer, die sie in sich selbst mobilisieren konnten.
Er verabschiedete sich von Evans Eltern und verließ das Haus. Draußen warf er einen Blick auf sein Handy. Mehrere Anrufe in Abwesenheit und eine Sprachnachricht von einer unbekannten Nummer auf seinem Anrufbeantworter. Er rief die Nachricht auf und lauschte.
Hallo, DI Sullivan. Mein Name ist Tom Fitz, ich arbeite für den Argus. Darf ich Sie kurz sprechen wegen des Leichenfunds hinter dem Pavilion Gardens Café? Soweit ich weiß, sind Sie in dem Fall der leitende Ermittler. Wir möchten morgen einen Artikel darüber bringen, und ich würde gern wissen, um wen es sich bei dem Opfer handelt und was ihm Ihrer Meinung nach zugestoßen ist. Sie können mich unter folgender Nummer erreichen …
Francis löschte die Nachricht. Keine Chance.
In gedrückter Stimmung fuhr er zurück ins Büro, die uralte Frage im Kopf: Warum hatte Gott eine Welt mit so viel Bösem darin erschaffen? Warum schnitt jemand eine Tätowierung vom Körper eines Mannes und überließ ihn anschließend dem Tod? Handelte es sich um eine Strafe oder einen Racheakt? Oder hatte das Ganze womöglich etwas mit einem Kult, einem Ritus zu tun? Vielleicht hatte das Tattoo eine geheime Bedeutung … Francis war ratlos. Als er seinen Wagen hinter dem Präsidium abstellte, stellte er die ersten Ansichten eines veränderten Gesichtsfelds fest, die eine Migräne ankündigten. Wo zum Teufel würde er die Antworten auf seine Fragen finden?