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Francis
Detective Chief Inspector Martin Bradshaw rief das gesamte Team im zur Einsatzzentrale umfunktionierten Besprechungsraum zusammen, um die Fortschritte zu erörtern, die sie in dem Fall bislang gemacht hatten. Francis kam zu spät. Das war etwas, was er bei anderen nur schwer ertragen konnte, deshalb ärgerte es ihn umso mehr, dass ihm das nun selbst passierte, vor allem, weil sein neuer Chef das Treffen einberufen hatte. Er gab sein Bestes, um geräuschlos und möglichst unbemerkt in den Raum zu schlüpfen.
»Gut, dass Sie kommen, DI Sullivan.« DCI Bradshaws Stimme hallte von den Wänden des Besprechungsraums wider und klang in Francis’ Brust nach. »Ich nehme an, es gibt einen Grund für Ihr Zuspätkommen?«
Jemand gab einen übertriebenen Seufzer von sich, und Francis hörte, wie einer der DC s einem Kollegen zuflüsterte: »Damit würden wir niemals durchkommen.« Es wäre ein langer, steiniger Weg, bis er sich den Respekt des Teams verdient hätte, so viel stand fest.
»Ich habe der Familie des Opfers die Nachricht überbracht, Sir.« Es war, als würde er wieder die Schulbank drücken.
»Nun, ich hoffe, Sie haben uns nützliche Informationen mitgebracht.« Ein schiefes Grinsen trat auf Bradshaws Gesicht, das seine Züge noch hässlicher machte, als sie es ohnehin waren.
»Ich denke ja, Sir.« Es fiel ihm ausgesprochen schwer, den Sarkasmus aus seiner Stimme herauszuhalten. »Jetzt habe ich tatsächlich Informationen, das Opfer betreffend.«
»Gleich, Sullivan. Fahren Sie fort, Rory.«
Aha. Seine Verspätung bedeutete also, dass Francis seine Position vorübergehend an seinen Untergebenen abgetreten hatte. Das durfte er nicht zulassen.
»Soll ich …«, meldete er sich zu Wort und trat hinter DC Hitchins hervor, damit der Chief Inspector ihn richtig sehen konnte.
»Wissen Sie denn, wo Rory stehen geblieben ist?«
Francis schüttelte den Kopf.
Bradshaw zog die Augenbrauen hoch und nickte Rory auffordernd zu.
»Rose Lewis hat die Obduktion durchgeführt und sollte uns morgen Nachmittag die Testergebnisse zukommen lassen«, teilte der Sergeant den Anwesenden mit. »Die Untersuchung der Spurensicherung hat ergeben, dass das Opfer in der Nähe des Cafés überwältigt und außer Sichtweite hinter die Sträucher gezerrt wurde. Damit kennen wir nun auch den Tatort.«
»Was ist mit dem ungefähren Todeszeitpunkt?«
»Irgendwann zwischen Mitternacht und sechs Uhr am Sonntagmorgen. Die Obduktionsergebnisse sollten Rose helfen, den Zeitpunkt weiter einzugrenzen.«
»Ich habe auf dem Rückweg mit Rose telefoniert«, ließ sich Francis vernehmen.
Bradshaw bedeutete ihm mit einem Nicken, fortzufahren.
»Sie legt den Todeszeitpunkt auf 2.15 bis 2.45 Uhr fest, wobei sie sich auf die Körperkerntemperatur sowie das Ende der Leichenstarre bezieht. Die Hitze in dem Plastikcontainer hat die Leichenstarre verkürzt und den Körper längere Zeit warmgehalten. Sie hat erste Anzeichen von Verwesung entdeckt, ebenfalls beschleunigt durch die hohe Temperatur.«
»Sonst noch etwas?«
»Es war ein ausgeprägtes Muster aus Totenflecken zu erkennen, als wir die Leiche vom Fundort entfernt haben. Sie passen zu der Position, in der der Tote gefunden wurde, was wiederum bedeutet, dass er entweder kurz vor oder binnen einer Stunde nach seinem Tod in den Container geworfen wurde.«
Francis sah sich in dem großen Raum um, aber niemand aus dem Team begegnete seinem Blick.
»Na schön, dann lassen Sie uns jetzt über das Opfer sprechen«, schlug Bradshaw vor. »Rory?«
»Der Name des Opfers ist Evan Armstrong.«
»Ja, das wissen wir inzwischen alle. Warum wurde er umgebracht, und wer könnte eine solche Tat begangen haben?«
Francis nutzte die Gelegenheit. Immerhin war das seine Ermittlung.
»Die Form der Schulterwunde legt nahe, dass man ihm ein Tattoo vom Körper geschnitten hat. Ich habe gerade ein Foto von seinen Eltern bekommen, das diese Annahme bestätigt.«
»Gibt es irgendeine Vermutung, warum jemand so etwas tun sollte?«
Francis schüttelte den Kopf. »Bislang nicht.«
»Diese Frau, die Tattoo-Künstlerin, konnte Ihnen auch nichts dazu sagen?«
»Die Theorie ist noch ganz frisch, Sir. Ich würde gern das Team daransetzen.«
»Nun, dann tun Sie das doch endlich! Auf geht’s! Wir müssen alles über diesen Armstrong in Erfahrung bringen – Adresse, Job, wer seine Freunde waren, was er in seiner Freizeit gemacht hat. Kommen Sie, Sullivan, Sie wissen doch, wie so was läuft.«
Und ob er das wusste – außerdem wäre er längst dabei, müsste er nicht seine Zeit mit Besprechungen wie dieser verschwenden.
»Ja, Sir. Burton ist bei den Eltern. Sie versucht, den beiden so viele Informationen wie möglich zu entlocken.«
»Und was ist mit den Überwachungskameras an der New Road und in der Nähe des Pavilion Garden Cafés? Haben die Aufnahmen etwas Interessantes ergeben?«
»Hollins?«, fragte Francis den DC , entschlossen, Bradshaw zu zeigen, dass sein Team längst an der Sache dran war.
»Hitchins«, sagte Hollins.
DC Hitchins sah von Francis zu Bradshaw.
»Nichts, was auf den ersten Blick mit dem Verbrechen in Verbindung stehen könnte«, antwortete er dann. »Samstagabend war viel los. Ganze Pulks von Leuten, die zur Tattoo-Messe angereist waren. In den Clubs muss es hoch hergegangen sein – jede Menge Betrunkene auf der Straße, jede Menge Typen in Kapuzenjacken …«
»Das genügt nicht«, sagte Francis. »Fragen Sie Armstrongs Freunde, was er an jenem Abend vorhatte, wo er unterwegs war, dann nehmen Sie sich die Aufnahmen noch einmal vor.«
»Wurde er als vermisst gemeldet?«, erkundigte sich Bradshaw.
»Bislang nicht, Sir«, antwortete Rory.
»Warum überrascht mich das nicht?«, knurrte Bradshaw. »Na schön, bleiben Sie dran. Bis morgen Mittag will ich Verdächtige an dieser Tafel hängen haben.« Er klopfte mit den Knöcheln aufs Whiteboard. »Eine Sache noch: Wer hat mit der Presse gesprochen? Der Argus hat heute Morgen einen Artikel gebracht – alles reine Spekulation. Da sollte man schnellstmöglich einen Deckel draufsetzen.«
Er stieß den Zeigefinger in Francis’ Richtung. »Und Sie, Sullivan, kommen in mein Büro. Jetzt gleich.«
»Jawohl, Sir.«
Francis folgte Bradshaw durch den Korridor und die Treppe hinauf, bis sie zu seinem Büro im ersten Stock gelangten. Er fürchtete, noch weiter heruntergeputzt zu werden, als hätte die Abkanzelung in der Einsatzzentrale nicht genügt. Der DCI winkte ihn ungeduldig herein und bot ihm keinen Sitzplatz an, obwohl er sich mit einem hörbaren Seufzer auf seinen eigenen Stuhl fallen ließ. Francis blieb in Habachtstellung vor dem Schreibtisch stehen und wartete auf das Unvermeidliche.
»Hör mal zu, Junge, ich will dich nicht vor deinem Team bloßstellen, aber du solltest es eigentlich besser wissen. Ich habe dich für diese Beförderung vorgeschlagen, weil ich dachte, du würdest das packen. Es war ein Risiko.«
»Ich weiß, Sir, und ich bin ausgesprochen dankbar …«
»Ich scheiß auf deine Dankbarkeit! Ich habe dir mein Vertrauen geschenkt, und bislang hab ich dafür nichts zurückbekommen. Es gibt zu viele unbeantwortete Fragen. Was ist das Motiv? Ein misslungener Raubüberfall? Anscheinend habt ihr keine Brieftasche bei der Leiche gefunden, sonst hättet ihr sie schneller identifiziert. Hast du mit den uniformierten Kollegen gesprochen, die am Sonntag vor Ort waren? Schnapp dir den zuständigen Polizisten, der in jener Nacht Dienst hatte, und bitte ihn um eine Liste mit den gemeldeten Zwischenfällen.«
Bradshaw war ein Mann, der sich selber gerne reden hörte, und Francis wusste aus Erfahrung, dass es das Beste war, ihn so lange palavern zu lassen, bis ihm nichts mehr einfiel.
»Was haben Sie sonst noch von der Frau erfahren, die den Leichnam gefunden hat?« Er war also wieder beim Sie. »Konnte sie Ihnen nähere Details nennen? Raus mit der Sprache – was haben Sie für mich?«
»Nein, Sir, sie war ausgesprochen wortkarg. Bei der Leiche wurde tatsächlich keine Brieftasche gefunden. Allerdings hatte das Opfer eine beträchtliche Menge Bargeld in seiner Jeanstasche, daher glaube ich nicht, dass Raubmord das Motiv war. Hitchins spricht mit den Uniformierten, und Angie Burton befragt die nächsten Angehörigen.«
»Was ist das Problem mit Ihrer Zeugin? Warum hat sie keinen Namen genannt?«
»Sie scheint der Polizei eher feindlich gesinnt zu sein.«
Bradshaw verdrehte die Augen.
»Dann finden Sie heraus, warum. Vielleicht ist es wichtig für den Fall. Für gewöhnlich sind die Leute nicht ohne Grund schlecht auf uns zu sprechen.«
Francis fragte sich, ob er noch einmal auf seine Vermutung, jemand habe dem Opfer das Tattoo vom Körper geschnitten, zu sprechen kommen sollte. Allerdings hatte Bradshaw ohnehin schon einen roten Kopf, und Francis war sich nicht sicher, ob sein Blutdruck dann nicht in einen gefährlichen Bereich anstieg.
»Der Ehemann. Hatte wenigstens er etwas Sinnvolles zu sagen?«
»Nicht unbedingt, allerdings hat er erwähnt, dass das Opfer ihn um die Bezahlung für die Oberschenkeltätowierung geprellt hat. Obwohl das schon länger zurückliegt.«
Während er sprach, runzelte Bradshaw die Stirn und richtete sich auf seinem Stuhl auf.
»Das Opfer schuldet diesem Mann Geld und wird dann tot aufgefunden? Verdammt, das ist unser erster Verdächtiger auf dem Whiteboard! Schaffen Sie ihn her und befragen Sie ihn! Und verschwenden Sie nicht noch mehr von meiner kostbaren Zeit – ich bin schließlich nicht dafür da, Ihren verfluchten Job zu machen. Wenn Sie das nicht packen, übernimmt Rory, und Sie werden für den Rest Ihrer Karriere Streife fahren!«