10
Rory
Rory Mackay war in seinem Element. Er freute sich darüber, dass der Chef bei der Einsatzbesprechung ins Schwitzen geraten war. Sein verspätetes Erscheinen hätte ihm bei Bradshaw erste Negativpunkte eingetragen, und seine Antworten hatten weitere hinzugefügt. Rory dagegen hatte dafür gesorgt, dass jedem seiner Schritte, und sei er auch noch so klein, die gebührende Aufmerksamkeit zuteilwurde, und mit ein bisschen Glück würde Sullivan seinen ersten Fall nicht überdauern.
Doch erst einmal musste das Team seinen Job machen, und wenigstens handelte es sich – ausnahmsweise – bei dem Opfer weder um ein Kind noch um eine sexuell ausgebeutete junge Frau. Dieser Fall dürfte nicht allzu schwer aufzuklären sein. Wenn es sich nicht um einen Raubmord handelte, dann vielleicht um ein Zerwürfnis unter Gaunern, und Rory kannte die meisten Ganoven, die sich in Brighton herumtrieben, ganz genau. Er würde sogar Geld darauf wetten, dass der Mord mit Bandenkriminalität in Verbindung stand, aber der neue Chef war ja noch grün hinter den Ohren und würde diesen Zusammenhang vermutlich nicht erkennen. Wenn Sullivan die Ermittlung vollends in den Sand setzte, würde Rory übernehmen und selbst zum DI befördert werden, daran bestand kein Zweifel.
Trotz Bradshaws Nörgeleien war es gar nicht so schlecht, was sie binnen sechsunddreißig Stunden zusammengetragen hatten. Am Whiteboard in der Einsatzzentrale hingen Fotos von der Leiche, dem Leichenfundort sowie dem Tatort, und mittlerweile war das Opfer sogar identifiziert. Sobald sie ein bisschen in Evan Armstrongs Vergangenheit stocherten, würden sie sicher auch eine Liste mit Verdächtigen erstellen können.
»Mackay. Auf ein Wort.«
Rory, der an seinem Schreibtisch saß, schaute auf und sah DI Sullivan an der Tür stehen.
»Chef«, sagte er und stand auf.
Er folgte dem DI in den besseren Taubenschlag, den dieser seit seiner Beförderung sein Eigen nannte. Der abgenutzte Teppich hatte jede Menge Brandlöcher aus den Zeiten, in denen es noch erlaubt gewesen war, bei der Arbeit zu rauchen, aber der jüngste DI bei der Polizei von Brighton würde kaum ein Eckbüro mit Aussicht zugeteilt bekommen.
Das hätte mein Büro sein sollen.
Francis nahm hinter dem Schreibtisch Platz, Rory ihm gegenüber. Der Sergeant sagte nichts, stattdessen sah er zu, wie der Inspector seinen Stuhl zurechtrückte und die Kante einer Aktenmappe aus Manila-Karton in seinem Posteingangskorb befingerte. Er sah aus wie ein Schuljunge, dem man die Leviten gelesen hatte. Auf seinen Wangen waren rote Flecken.
»Also, wir bestellen Marni und Thierry Mullins offiziell zur Vernehmung ein. Setzen Sie gleich das Team daran. Ich möchte die beiden noch heute Abend hier sehen, bevor sie Zeit haben, ihre Alibis abzusprechen.«
Ihre Alibis? Meinte der das ernst?
»Klar, Chef. Glauben Sie, die zwei haben etwas mit der Sache zu tun? Beide? Ich dachte, sie seien geschieden.«
»Das sind sie auch. Allem Anschein nach.« Im Büro des Kongresszentrums hatte er definitiv eine Verbindung zwischen Marni und Thierry Mullins gespürt, eine enge Verbindung.
Rory warf ihm einen fragenden Blick zu.
»Es ist ziemlich unwahrscheinlich, dass einer von ihnen in den Fall involviert ist«, räumte Francis ein. »Allerdings sollten wir sämtliche Möglichkeiten ausschließen. Evan Armstrong wurde eine Tätowierung vom Körper geschnitten, weshalb dieser Fall für höllisch viel Pressewirbel sorgen wird. Wir können es uns nicht leisten, irgendetwas zu übersehen.«
Für Rory klangen Francis’ Worte wie ein Echo von Bradshaw.
»Mit anderen Worten: Wir ermitteln ins Blaue hinein.«
Der DI legte seufzend den Kopf schräg.
»Bekommen wir dafür Überstunden, Chef?«, fragte Rory, der ganz genau wusste, dass das nicht der Fall wäre.
»Legen Sie einfach los. Ich werde mit Bradshaw reden, sollte es ein Problem wegen der Überstunden geben.«
Interessant. Der Junge war ein Hitzkopf, und es sah ganz danach aus, als scheue er nicht davor zurück, sich mit dem Chief Detective Inspector anzulegen.
»Und behalten Sie die Information für sich – ich möchte sie nicht morgen im Argus lesen können.«
Seine Worte klangen wie ein Vorwurf. So viel zu seinem Vorsatz, sich die Presse warmzuhalten.
Es war nach zweiundzwanzig Uhr, als Rory einen Blick durch das rechteckige Fenster in der Tür des Vernehmungsraums warf, in dem die Zeugin saß. Das war eine wohlüberlegte Taktik – man befragte die Zeugen, wenn sie müde und dadurch verletzlicher waren. Eine kleine dunkelhaarige Frau saß am Tisch und zwirbelte nervös an den Ärmeln ihrer Strickjacke. Ihr Gesicht hatte den schuldbewussten Ausdruck eines Menschen, der nur unschuldig sein konnte.
Er öffnete die Tür und betrat den Raum.
»Marni Mullins, richtig?«
Sie funkelte ihn an, ohne etwas zu sagen.
»Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen zu den Ereignissen am Sonntag in den Pavilion Gardens stellen.«
»Ich habe bereits mit Ihrem DI gesprochen und dem nichts weiter hinzuzufügen.«
»Das mag ja sein, aber ich brauche trotzdem Ihre offizielle Aussage.«
Er zog ein Notizbuch aus der Tasche und leckte die Bleistiftmine an. »So, Miss Mullins, erzählen Sie mir bitte ganz genau, was passiert ist, als Sie am Sonntag in die Pavilion Gardens gegangen sind.«
»Haben Sie nicht etwas vergessen?«
»Hab ich?«
»Sie haben mir nicht meine Rechte vorgelesen.«
»Weil ich nicht vorhabe, Sie zu verhaften. Sie sind hier, um eine Zeugenaussage zu machen.«
Die Frau stand auf und schob ihren Stuhl zurück. »Dann steht es mir ja frei zu gehen.«
Eine Feststellung, keine Frage.
Rory stand ebenfalls auf. »Miss Mullins, es wird uns allen das Leben erleichtern, wenn Sie einfach eine Aussage machen und freiwillig ein paar Fragen beantworten. Wir müssen Sie dringend darum bitten, und sollten Sie sich weigern, werden wir uns eine richterliche Anordnung besorgen.«
»Sagen Sie mir nur eine Sache, Sergeant. Stehe ich unter Verdacht oder nicht?«
Sie mochte zwar keine Verdächtige sein, aber sie überschlug sich auch nicht gerade vor Hilfsbereitschaft. Dabei war es schließlich nicht so, als hätte sie ihm nichts Nützliches zu erzählen.
»Sie stehen nicht unter Verdacht. Allerdings ist ein Mann ermordet worden, und Sie haben den Leichnam gefunden. Alles, was Sie uns diesbezüglich mitteilen, könnte Licht auf die Sache werfen und uns helfen, den Täter zu fassen, auch wenn es Ihnen womöglich unwichtig erscheint. Bitte setzen Sie sich wieder, damit wir das Ganze so schnell wie möglich hinter uns bringen können.«
Zögernd nahm Marni Mullins Platz. Irgendetwas verriet Rory, dass sie sich mit polizeilichen Befragungen auskannte, was gar nicht so ungewöhnlich war in der Welt, in der sie sich bewegte.
»Erzählen Sie mir, was am Sonntag passiert ist«, forderte er sie auf.
»Ich bin auf einen Kaffee in die Pavilion Gardens gegangen. Dort habe ich eine Leiche in einem Müllcontainer gefunden und anschließend die Polizei gerufen.«
Die erste Runde ging definitiv an Marni Mullins.
Rory setzte sich auf seinem Stuhl zurecht. »Die Kurzversion. Nett. Und nun erzählen Sie mir bitte bis ins kleinste Detail, wie Ihr Sonntagmorgen verlaufen ist.«
Er brauchte sechs Anläufe, dann hatte er das Gefühl, ihr alles entlockt zu haben, was für die Ermittlungen von Bedeutung sein könnte. Sie sah erschöpft aus, als sie endlich fertig waren.
»Danke für Ihre Kooperation, Miss Mullins. Sie können gehen.«
Sie stand auf, ohne ihm in die Augen zu blicken.
Rory erhob sich ebenfalls und ging ihr voran zur Tür, um sie hinauszulassen. Die Hand auf der Klinke, zögerte er und drehte sich zu ihr um.
»Eine letzte Sache noch«, sagte er. »Wo waren Sie am Sonntagmorgen zwischen ein und fünf Uhr?«
Marni trat einen Schritt zurück und stützte sich mit der Hand am Tisch ab. »Das dürfen Sie mich nicht fragen.«
»Doch, sicher darf ich das. Wo waren Sie am Sonntagmorgen zwischen ein und fünf Uhr?«
»Ich bin keine Verdächtige.«
Rory blieb an der Tür stehen. Er konnte sie atmen hören, flach und schnell. Sie hatte Angst.
»Ich war in meinem Bett und habe geschlafen. Zu Hause.«
»Mit Ihrem Ehemann?«
»Ex-Ehemann. Und nein, ich wäre die Letzte, mit der er das Bett teilen wollte.«
Ihre Stimme brach, und sie griff nach dem Pappbecher mit Wasser, der auf dem Tisch stand. Als sie ihn an die Lippen hob, zitterte ihre Hand so sehr, dass der Großteil des Wassers auf den Resopaltisch spritzte.
Rory war zufrieden mit sich. Hoffentlich würde sich Sullivan, der nebenan via Video zugeschaltet war, etwas von seinen Befragungsmethoden abschauen. Als er Marni Mullins aus dem Vernehmungszimmer und zum Ausgang führte, begegneten sie auf dem Gang ihrem Ex-Mann, der zu seiner Befragung eskortiert wurde. Inzwischen war es nach eins, und vermutlich hatte das stundenlange Warten nicht gerade dazu beigetragen, seine Laune zu verbessern.
»Merde«, knurrte Thierry und warf Marni einen finsteren Blick zu.
Sie wandte sich ab, ohne ein Wort zu sagen.
»Nette Art und Weise, seine Frau zu begrüßen«, stellte Rory fest. »Kein Wunder, dass Sie ihn abserviert haben.«
Der Blick, den sie ihm zuwarf, war genauso feindlich wie der Blick, mit dem Thierry seine Ex bedacht hatte. Die beiden hatten definitiv etwas gegen die Polizei, zumindest das hatten sie gemeinsam. Rory führte Marni Mullins durch den Empfangsbereich zum Haupteingang und fragte sich, wie die Beziehung der beiden wohl aussehen mochte.
»Kann ich jetzt gehen?«, fragte sie.
»Ja. Allerdings könnte es sein, dass wir noch einmal mit Ihnen reden müssen.« Das hing natürlich davon ab, was Thierry Mullins ihnen bei der Befragung erzählen würde, aber das musste er Marni ja nicht auf die Nase binden.
Rory nahm Sullivans Platz als Beobachter ein, während der DI das Vernehmungszimmer betrat, um sich Thierry vorzuknöpfen.
»Wo waren Sie am Sonntagmorgen zwischen eins und fünf?«, fragte Sullivan ohne Vorrede.
Bam! Gleich mittenrein, ohne jedes Feingefühl. Ohne den Verdächtigen in falscher Sicherheit zu wiegen. Idiot.
»Da hab ich fast die ganze Zeit geschlafen.«
Sullivan starrte ihn an, bis er den Blick abwandte. Mullins war berechtigterweise empört gewesen, weil sie ihn einbestellt hatten, nachdem er sie bei der Identifizierung des Opfers unterstützt hatte, aber das schien den Chef nicht zu interessieren.
»Sie haben also ›die meiste Zeit geschlafen‹. Und was haben Sie gemacht, wenn Sie nicht geschlafen haben?«
»Da hab ich im Bett gelegen.« Thierry Mullins wollte offenbar nicht auf Sullivans Frage eingehen.
»Wo?«
Langes Schweigen. Zumindest wusste der Knabe, dass er seinen Verdächtigen nicht bedrängen durfte.
»Ich hab ein Mädchen aufgerissen. Bin mit zu ihr gegangen. Keine Ahnung, wo genau sie wohnte.«
»Wo haben Sie sie kennengelernt?«
»Im Heart & Hand.«
Ein schäbiges Pub in der North Road. Rory kannte es zur Genüge, obwohl er dort nicht hinging, um etwas zu trinken. Der Ort zählte nicht unbedingt zu denen, an denen Polizisten gern gesehen waren.
»Wie hieß das Mädchen?«
Mullins schaute ihn verwirrt an und zuckte die Achseln. »Linny? Lizzy? Irgendetwas in der Art.«
»Mr. Mullins, würden Sie sie erkennen, wenn Sie sie wiedersehen?«
»Selbstverständlich. Sie hatte eine Meerjungfrauen-Arschvignette. Keine große Sache. Ich war betrunken, deshalb erinnere ich mich nicht an die Details.«
»Es tut mir leid, aber wir werden das näher überprüfen müssen.«
»Warum? Glauben Sie, ich habe etwas mit dem Tod von Evan Armstrong zu tun? Verdächtigen Sie mich etwa?« Mullins spuckte die Worte förmlich aus.
»Er hat Ihnen Geld geschuldet, oder nicht?«
Der Tätowierer stöhnte und setzte sich seitlich, um den DI nicht ansehen zu müssen. Mit anderen Worten: Francis hatte es vermasselt. Er hatte Thierry Mullins’ ohnehin geringe Kooperationsbereitschaft verspielt und würde nichts Nützliches mehr aus ihm rausbringen.
»Ohne meinen Anwalt beantworte ich keine weiteren Fragen.«
Das hier führte zu nichts mehr. Als Rorys Handy klingelte, nahm er das Gespräch ohne Bedenken an.
Ein Kollege war am anderen Ende der Leitung. Er klang, als sei er ziemlich außer Atem.
»Mackay? Wir haben hier eine Leiche. Ist gerade gemeldet worden. Unten am Strand, unter dem Palace Pier.«