II
Francis
Die Chancen, in jener Nacht noch etwas zu schlafen, gingen gegen null, dachte Francis, als sie mit hoher Geschwindigkeit die Old Steine entlangrasten. Rory fuhr in einem illegalen Manöver mitten über das leere Rondell und hielt auf der großen asphaltierten Fläche vor dem Eingang zum Palace Pier an. Es waren bereits zwei Streifenwagen vor Ort, ein Krankenwagen stand mit laufendem Motor auf dem Fußgängerüberweg auf dem Madeira Drive.
»Die Truppe kann sich genauso gut verziehen«, sagte Rory, als sie zu den Steinstufen joggten, die von der Promenade zum Strand führten.
Francis war ganz seiner Meinung. Eine Ambulanz war hier definitiv fehl am Platz. Den Ort zu sichern und auf Spuren zu untersuchen, würde mehrere Stunden dauern, anschließend würde der Leichnam direkt in die Gerichtsmedizin gebracht.
»Es sei denn, Hitchins muss medizinisch versorgt werden, nachdem er sich die Seele aus dem Leib gekotzt hat«, fügte Rory mit einem schiefen Grinsen hinzu.
Sie gingen über den Kies Richtung Pier.
»Setzen Sie uns ins Bild, Sergeant«, bat Francis, als ihnen ein Riese von Mann in Polizeiuniform den Weg verstellte, zückte dann seinen Ausweis und stellte DS
Mackay vor.
»Leiche unter dem Pier, vor einer Stunde hat ein junges Paar angerufen«, sagte der Riese.
»Definitiv tot, als ihr ihn gefunden habt? Oder ist es eine Sie?«
»Ein Er. Sein Kopf fehlt.«
Ja, definitiv tot.
»Dann werfen wir mal einen Blick darauf.«
Der Sergeant schaltete seine Taschenlampe an und führte Francis und Rory in die tintenschwarze Dunkelheit unter dem Pier. Mehrere Polizeibeamte in Uniform, ebenfalls mit Taschenlampen in den Händen, waren damit beschäftigt, blau-weißes Absperrband um die gigantischen Pfeiler zu wickeln, die die Eisen-Stahl-Konstruktion über ihren Köpfen trugen.
»Was hatte das Pärchen hier zu suchen?«, fragte Francis.
Rory lachte laut auf.
»Sie waren auf dem Heimweg von einem Nachtclub«, erwiderte der Sergeant, ohne die Miene zu verziehen.
Der Groschen fiel, und Francis spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss.
Sein Kollege sagte nichts. Das war auch gar nicht nötig. Er nahm eine schwarze E-Zigarette aus der Tasche und zog daran, als er dem Riesen zusammen mit Francis folgte.
Der Tote lag in der Nähe der Wasserkante, mit der Körpervorderseite nach unten. Sein Hals war ein blutiger Stumpf, der im Schein der Taschenlampe schwarz wirkte. Der Mann war von der Taille aufwärts nackt, doch er trug noch immer seine blutbefleckte Jeans und Turnschuhe. Seine Gesäßtasche war ausgebeult, als stecke eine Brieftasche darin. Einer seiner Füße wurde von den Wellen umspült.
»Haben wir Ebbe oder Flut?«, erkundigte sich Francis.
Rory betrachtete für einen Augenblick den dunklen Strand.
»Flut, Chef, allerdings sieht es so aus, als hätten wir bald den höchsten Stand erreicht.«
»Wenn das Wasser noch höher steigt, könnte es die Arbeit der Spurensicherung beeinträchtigen. Wir müssen schnell sein.« Francis sah sich um. »Okay, niemand darf hinter die Absperrung, es sei denn, er gehört zum Team. Rory, wir brauchen Schutzanzüge. Sergeant, finden Sie bitte heraus, wie lange die Kriminaltechniker brauchen, um vor Ort zu sein, und sorgen Sie dafür, dass endlich Scheinwerfer aufgestellt werden!«
Rory machte sich auf den Weg zurück zum Wagen.
»Und leiten Sie die Suche nach dem Kopf in die Wege«, fügte Francis an den Sergeant gewandt hinzu.
Als Rose Lewis zehn Minuten später auftauchte, trug Francis seinen Schutzanzug und hatte die Situation unter Kontrolle. Das Team der Spurensicherung stellte riesige LED
-Strahler auf, sodass Francis und Rose den Leichnam genauer inspizieren konnten. In dem gleißenden Licht nahm die Haut des Mannes einen grünlichen Ton an, die Farbe des Halsstumpfes wechselte von schwarz zu einem dunklen, glänzenden Rot. Wabbelige Blutklumpen klebten an dem zerfleischten Gewebe wie dicke Brocken aus Wackelpudding. Die Haut am Rand war zerfetzt, vermutlich von dem Werkzeug, mit dem der Hals abgetrennt worden war. Der Torso des Toten war stark tätowiert, genau wie die Arme – dunkle Umrisse, die für Francis aus seinem Blickwinkel keinen Sinn ergaben. Rose wies einen der Techniker an, Fotos zu machen, während sie die Körpertemperatur maß und anschließend die Boden- und Lufttemperatur, was ihr dabei half, den Todeszeitpunkt einzugrenzen.
Mit einer Einwegpinzette aus Roses Equipment zog Francis dem Toten das Portemonnaie aus der Gesäßtasche. Das braune Leder war durchweicht und schwer. Mit behandschuhten Händen suchte Francis nach dem Personalausweis. Im Portemonnaie war Geld, außerdem ein Haufen Quittungen, aber nichts, was irgendeinen Hinweis auf die Identität des Besitzers lieferte.
Er verwahrte die Brieftasche in einem Beweismittelbeutel. Wenn die Quittungen nicht allzu aufgeweicht waren, würden sie ihnen vielleicht weiterhelfen.
Nachdenklich betrachteten Rory und Francis den Leichnam.
»Tätowierungen«, sagte Rory. »Jede Menge.«
»Die hier sind intakt«, stellte Rose fest, die seinem Gedankengang folgte.
»Ja, und das bedeutet, dass wir ihn vermutlich in unseren Datenbanken haben. Manche davon sehen aus, als wäre er Mitglied einer Gang gewesen.«
Für Rory waren Tattoos gleichzusetzen mit kriminellen Verbindungen. Francis ertappte sich dabei, dass bis vor Kurzem für ihn das Gleiche gegolten hatte – doch nun war er sich nicht mehr so sicher. Die Überprüfung von Evan Armstrong hatte keinerlei Hinweise auf kriminelle Aktivitäten ergeben.
»Ich lasse ihn in die Gerichtsmedizin bringen. Es ist besser, wenn ich dort seine Fingerabdrücke nehme«, sagte Rose. »Ich möchte ihn so schnell wie möglich von hier weghaben – wer weiß, welche Schäden das Wasser anrichtet. Der Fundort ist absolut instabil.«
»Wurde er hier umgebracht oder bloß abgelegt?«, erkundigte sich Francis.
»Das kann ich noch nicht sagen. Bei einer Enthauptung fließt jede Menge Blut, es sei denn, der Kopf wurde post mortem abgetrennt.«
»Und, wurde er das?«
Rose beugte sich konzentriert über den Stumpf und leuchtete ihn mit einer kleinen Taschenlampe an. Einen Moment lang sagte sie kein Wort. Plötzlich wurde sich Francis des Geräuschs der Wellen bewusst, die im Kies unter seinen Füßen ausrollten. Er musste einen halben Schritt zurück machen, wenn er keine nassen Schuhe bekommen wollte. Ja, der Fundort war in der Tat instabil. Alles war instabil. Da dachte man, man habe sein Leben im Griff, und doch wurde es immer wieder unterspült …
»Nein. Der Bursche hier wurde bei lebendigem Leibe enthauptet – es ist deutlich zu erkennen, dass er sehr viel Blut verloren hat, und das hätte er nicht, wäre er schon tot gewesen.«