12
Thierry
Er hatte genug von der Polizei, und zwar für den Rest seines Lebens! Thierry Mullins fluchte leise vor sich hin, als er die John Street entlangging, weg vom Präsidium. Merde!
Er bog in die Edward Street ein und wäre beinahe mit einer alten Frau zusammengestoßen, die einen Einkaufswagen vor sich her schob, aber er war viel zu aufgebracht, um stehen zu bleiben und sich zu entschuldigen. Er war auf einer Mission, und wenn es irgendeiner Entschuldigung bedurfte, dann in umgekehrter Richtung. Seine verfluchte Ex-Frau! Putain!
Irgendwie holten einen die alten Fehler immer wieder ein.
Knapp elf Stunden in einer Zelle. Er warf einen Blick auf seine Uhr, die ihm der diensthabende Polizist gerade erst zurückgegeben hatte. Kein Anruf, keine Chance, mit einem Anwalt zu sprechen. Sie sind nicht verhaftet, weshalb brauchen Sie einen Anwalt?,
hatten sie ihn gefragt. Aber er kannte seine Rechte, verdammt noch mal, und seine Rechte waren soeben verletzt worden. Verfluchte flics.
Aus einem Take-away schlug ihm der Duft von heißem Gebäck entgegen. Thierry blieb stehen. Sie hatten ihn förmlich ausgehungert. Die trockenen Weißbrot-Sandwiches mit stinkendem Thunfisch, die sie ihm während der Nacht mehrfach angeboten hatten, waren ungenießbar gewesen, sodass er den Pappteller jedes Mal weit von sich geschoben hatte. Seit gestern Abend hatte er nichts als ihren beschissenen Kaffee zu sich genommen.
Dann, als klar war, dass sie ihn entweder freilassen oder unter Anklage stellen mussten, hatte dieser dämliche Sergeant den Vernehmungsraum betreten und ihm mitgeteilt, dass es ihnen gelungen war, sein Alibi zu verifizieren. Sie hatten eine junge Frau namens Lisa mit einer Meerjungfrauentätowierung ausfindig gemacht, die nach einigem Druck zugab, in der Nacht von Samstag auf Sonntag einen Mann mit in ihre Wohnung genommen zu haben, der bis gegen neun Uhr am Sonntag bei ihr gewesen war. Der Sergeant schien es ausgesprochen ulkig zu finden, dass sie sich nicht an seinen Namen erinnern konnte, genauso wenig wie er sich an ihren.
Thierry verließ den Laden, ein Wurstbrötchen in der Hand. Es war beinahe Mittag, und er hatte den ganzen Morgen verschwendet. Zwei seiner Termine im Atelier waren geplatzt – ihm war Geld durch die Lappen gegangen, Geld, das zu verlieren er sich kaum leisten konnte. Hoffentlich hatten Charlie oder Noa die Kunden übernommen, aber das half ihm im Grunde auch nicht.
Die Edward Street ging über in die Eastern Road. Als er am Brighton College, einer Privatschule mit exzellentem Ruf, vorbeikam, fragte er sich, ob dieser schwachköpfige Emporkömmling von DI
seine prägenden Jahre in diesen roten Backsteingebäuden verbracht hatte. Er überquerte die Straße und bog auf den College Place ein, dann ging er weiter über die Great College Street. Marnis Haus – genauer gesagt: sein
Haus –, lag auf halber Straßenhöhe auf der rechten Seite. Er klopfte an die Tür und widerstand dem Drang, einen Blick durchs Fenster zu werfen. Er hätte seine Hausschlüssel nie abgeben sollen, obwohl es ihm damals als das Richtige erschienen war. Jetzt hatte Marni das Haus und
Alex, während er allein in einer armseligen Einzimmerwohnung mit Schimmel im Bad wohnte.
Er betrachtete wütend die Haustür, die einst seine eigene gewesen war, und sein Zorn loderte immer stärker auf, während er darauf wartete, dass sie geöffnet wurde. Doch erst, als er laut rief und mit dem Fuß gegen die Tür trat, machte Marni endlich auf.
Sie sah ihn mit halb zugekniffenen Augen an, in ihrem Gesicht stand Panik. Verwirrt trat sie einen Schritt zurück.
»Marni?« Sein Ärger verpuffte, der alte Beschützerinstinkt übernahm, zumal er so viele Jahre genau darauf gepolt gewesen war.
»Thierry.« Sie versuchte, ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen, aber er hatte schon den Fuß darin.
»Augenblick mal.«
»Du hast mir Angst gemacht.«
»Und du hast mich da reingezogen.« Er konnte sich denken, wovor sie sich fürchtete. Wann würde sie die Vergangenheit hinter sich lassen?
»Sag mir, was dir Angst gemacht hat, Marni.«
»Nichts. Ich war bloß nervös. Das Ganze … wühlt die Vergangenheit wieder auf.«
Er hatte recht gehabt. Sie schaute ihm direkt ins Gesicht, und er stellte fest, dass sie müde aussah. Er wusste, was das bedeutete – sie konnte nicht schlafen, und vermutlich aß sie auch nicht richtig. Allein kam sie gar nicht gut klar. Aber bedeutete das zwangsläufig, dass sie ihn in ihrer Nähe brauchte? Und wäre er bereit, sich noch einmal darauf einzulassen?
»Du weißt, dass Paul noch immer im Gefängnis ist. Es gibt nichts, weswegen du dir Sorgen machen müsstest.« Sein Ton wurde sanfter.
»Er mag vielleicht hinter Gittern sitzen, trotzdem hat er Möglichkeiten, an mich ranzukommen.«
Das war nicht der Grund, warum er zu ihr gekommen war, und er hatte keine Lust, mit ihr in Dingen zu wühlen, die am besten in Vergessenheit blieben. »Du hättest dich nicht an die Polizei wenden dürfen, Marni. Ich kann mir weitere Zusammenstöße mit den Cops einfach nicht leisten.«
Sie seufzte. »Ich weiß. Tut mir leid.«
»Sie haben mich die ganze Nacht über festgehalten.«
Sie starrte ihn schockiert an. »Willst du einen Kaffee?«
Er schüttelte den Kopf. »Davon hatte ich schon genug. Eher was zum Runterkommen.«
»Vielleicht einen Wein?«
Das war das Mindeste, was sie für ihn tun konnte. »Hast du einen offen?«, fragte er.
»Einen Côtes de Blaye.«
Thierry rümpfte die Nase. Der Côtes de Blaye zählte nicht gerade zu seinen Lieblingsweinen.
»Okay, sobald du dich bei mir entschuldigt hast.« Er sah sie mit schräggelegtem Kopf an.
»Wofür?«
»Merde!
Ich habe deinetwegen geschlagene elf Stunden im Präsidium verbracht!«
»Sie haben dich gerade erst gehen lassen?«
»Oui.
Vielen Dank für deine Anteilnahme.«
Marni zuckte die Achseln. »Woher hätte ich wissen sollen, dass sie dich so lange festhalten?«
»Sie scheinen davon auszugehen, dass ich ihn umgebracht habe, weil er mir Geld schuldete.« Er seufzte. »Warum musstest du ihnen auch sagen, dass das Tattoo auf seinem Bein von mir ist?«
»Ach komm schon, Thierry.« Marni schüttelte trotzig den Kopf, aber sie trat zur Seite, um ihn einzulassen. »Ich hab die Polizei anonym angerufen. Herrgott, ich hatte einen Toten entdeckt! Hätte ich das einfach ignorieren sollen?«
»Klar. Der wäre früher oder später sowieso gefunden worden.«
Er folgte ihr in die Küche. In ihre gemeinsame
Küche, die er geplant und zusammen mit Charlie gebaut hatte. Das waren die schönsten Zeiten in ihrer Ehe gewesen. Sie hatten ihre Probleme in Frankreich zurückgelassen und in Brighton ein neues Leben begonnen. Marnis Wunden hatten langsam zu heilen begonnen, sie hatte sich um ihren kleinen Sohn gekümmert, und für eine kurze Zeit hatte Thierry geglaubt, sie hätten eine unbeschwerte Zukunft vor sich.
Marni zog den Korken von einer halb vollen Flasche Rotwein und schenkte zwei Gläser ein.
»Denk dran«, sagte sie und reichte ihm ein Glas. »Ich muss unserem Sohn ein Vorbild sein. Für dich ist es vielleicht in Ordnung, vor deiner Verantwortung davonzulaufen, aber einer von uns beiden muss schließlich die Erwachsenenrolle übernehmen.«
»Was für eine Verantwortung?«
Marni verdrehte die Augen. »Zum Beispiel deinen Sohn zu versorgen.«
Thierry stöhnte. Dieselbe alte Leier. Das hatte er sich schon viel zu oft anhören müssen, und es gab nichts weiter dazu zu sagen.
»Trink deinen Wein und hau ab, Thierry. Ich bin zu müde für diesen Scheiß.«
Er steckte seine Nase ins Glas.
»Der Wein ist gekippt«, stellte er achselzuckend fest. »Und hör auf, dich in die Sache mit Paul hineinzusteigern. Du brauchst etwas Schlaf.«
Marnis Blick war so scharf wie die Sabatier-Messer, die er in der Küchenschublade zurückgelassen hatte.
»Er hat mir einen Brief geschickt.«
»Wann?«
»Vor ein paar Monaten.«
Damals hatte sie ihm nichts davon erzählt, was ihm einen Stich versetzte.
»Was stand drin?«
»Ich hab ihn nicht aufgemacht.«
Erneut trat ein Ausdruck von Furcht auf ihr Gesicht, und plötzlich wünschte er sich nichts mehr, als die Dinge für sie ins Reine zu bringen. »Du weißt, dass das nichts zu bedeuten hat, Kleines. Er spielt mit dir. Paul sitzt im Knast und kommt nicht an dich ran.«
»Aber der Brief «, entgegnete sie.
Er hob beschwichtigend die Hand.
»Hast du ihn noch? Kann ich ihn sehen?«
»Ich hab ihn weggeworfen.«
Er wusste, dass sie log, aber er war zu erschöpft, um mit ihr zu streiten.
»Okay. Dann gehe ich jetzt.«
Als er durch den Flur zur Haustür ging, erschien Alex auf der Treppe, noch immer im Pyjama. Schlaftrunken starrte er Thierry an.
Merde.
»Dad? Was machst du denn hier?«
»Dein Vater will gerade gehen«, sagte Marni.
Sie trat auf Thierry zu und drängte ihn zur Haustür.
»Lass mich in Ruhe, Thierry. Komm nicht wieder. Du erinnerst mich zu sehr an Paul.«
Wenn es Worte in ihrem Arsenal gab, die ihn wirklich verletzten, dann diese. Wenn sie so von ihm dachte, würden die Dinge zwischen ihnen niemals in Ordnung kommen. Er spürte, wie sich ein Kloß in seiner Kehle bildete, und wandte das Gesicht ab.
Marni öffnete die Tür und schob ihn auf die oberste Stufe.
»Wer ist Paul?«, hörte er Alex von der Treppe aus fragen.
Die Tür schlug zu, und er war allein.