13
Francis
Francis wusste, dass er richtig war, als er das Schild oben auf der Ladenfront entdeckte. »Celestical Tattoo« stand in schwarzer Kursivschrift auf einer Explosion von roten und knallrosa Chrysanthemen, ganz ähnlich der, die Marni Mullins ihrer Kundin ins Bein tätowiert hatte. Hier arbeitete sie also, wenn sie nicht auf der Messe tätig war. Er starrte durch die Fenster in das dunkle Studio und konnte einen kleinen Ladentisch mit einer Reihe zusammengewürfelter Stühle davor erkennen. Die Wände waren wie erwartet voller Tattoo-Designs. Hinter dem Ladentisch stand ein Regal mit mehreren Reihen von Kerzen, ein paar Büchern und einer Vielzahl anderer Objekte, die er im Halbdunkel nicht richtig erkennen konnte.
Obwohl innen an der Tür ein »Geöffnet«-Schild hing, hatte es den Anschein, als sei das Studio geschlossen. Francis klemmte seine ramponierte Dokumententasche unter den Arm, drückte die Nase ans Glas und schirmte mit den Händen das Gesicht ab, um besser sehen zu können. Im hinteren Teil des Studios befand sich eine Tür, durch die Ritzen fiel Licht. Vielleicht war sie dort.
Er klopfte an die Glastür, dann drückte er probehalber die Klinke. Die Tür schwang mit einem lauten Quietschen auf.
»Hallo?«
Er trat ein. Ein knurrendes Etwas aus Fell und gefletschten Zähnen stürzte durch die Tür an der Rückseite des Studios und warf sich auf ihn. Er taumelte zurück gegen das Glas, das unter seinem Gewicht zerbarst, roch den heißen, stinkenden Atem eines Raubtiers und spürte gierige Kiefer, die sich um seinen Arm schlossen. Die Zähne der Bestie zerrissen den Stoff seines Anzugärmels. Sullivan schnappte nach Luft und versuchte mit rudernden Armen, sich loszureißen.
»Wer ist da?«
Über ihm ging eine Lampe an.
»Wer ist da?« Marni Mullins’ Stimme klang panisch.
»Francis Sullivan.«
»Wer?«
»DI Sullivan!«
»Herrgott! Pepper! Komm her!«
Die geifernde Bulldogge ignorierte sein Frauchen und fuhr fort, Francis’ Ärmel zu zerreißen.
Noch immer außer Atem, sah Francis auf und erblickte Marnis Silhouette vor der hell erleuchteten Tür an der Rückseite des Studios.
»Haben Sie den Köter nicht unter Kontrolle?«, blaffte er, darum bemüht, seinen Ärmel zu befreien.
»Pepper!«
Francis kämpfte sich in eine sitzende Position und drückte Pepper die freie Handfläche auf die Schnauze. Dann beugte er sich vor, bis sein Gesicht direkt an Peppers Ohr war. Der Hund gab ein tiefes Knurren von sich und grub die Zähne nur noch fester in den Stoff. Francis warf Marni einen wütenden Blick zu, dann biss er entschlossen in die dünne Haut von Peppers Ohrmuschel.
Die Bulldogge jaulte überrascht auf und ließ Francis’ Ärmel los. Das kräftige Tier versuchte, den Kopf zu schütteln, aber Francis hielt das Ohr nach wie vor mit den Zähnen gepackt.
»Um Himmels willen, was machen Sie da?« Marni fasste Peppers Halsband. Francis ließ los, dann schnitt er eine Grimasse und wischte sich den Mund ab.
»Sie sollten den Hund in die Hundeschule bringen, Miss Mullins.«
Francis rappelte sich hoch, wobei er darauf achtete, nicht in die Glasscherben um ihn herum zu fassen, und hob die Dokumententasche auf. Marni schleifte die Bestie durchs Studio und schob sie durch die offene Tür an der Rückseite, die sie mit einem lauten Knall schloss. Erst dann schien sie den Schaden an der Eingangstür zu bemerken. Erschrocken schlug sie die Hand vor den Mund.
»Es tut mir leid«, stieß sie kopfschüttelnd hervor. »Sind Sie verletzt?«
Francis tastete seinen Hinterkopf ab, der gegen die Glastür geprallt war. Er fühlte eine Beule und etwas Feuchtes. Als er die Hand zurückzog und seine Finger betrachtete, war Blut dran.
»Natürlich«, sagte er und drehte die Hand so, dass sie das Blut sehen konnte. »Sie können von Glück sagen, dass nichts Schlimmeres passiert ist. Was den Anzug betrifft – der ist hin.«
»Ich werde ihn ersetzen«, versicherte Marni eilig. Ihre Stimme zitterte.
»Allerdings! Sie müssen Ihrem Hund einen Maulkorb besorgen. Oder noch besser: Sehen Sie zu, dass Sie ihn loswerden!«
Marni bückte sich und fing an, die größten Scherben vom Boden aufzuheben.
»Er ist ein Wachhund.«
»Was, wenn ein Kind durch die Tür gekommen wäre?«
Er spürte, wie ihr unbehaglich wurde.
»Unwahrscheinlich. Das hier ist ein Tattoo-Studio.«
»Könnte ich ein Glas Wasser haben, bitte? Ich schmecke immer noch Hund.«
Sie ging zur hinteren Tür. Francis folgte ihr. Marni wirkte belustigt, als er zögernd davor stehen blieb.
»Oh, machen Sie sich keine Gedanken wegen Pepper. Wenn ich Sie hereinbitte, ist er ganz brav.«
Francis setzte vorsichtig einen Fuß in den angrenzenden Raum. Als er sicher war, dass die Bulldogge keine Anstalten machte, sich erneut auf ihn zu stürzen, trat er ein und sah sich um. Marnis Atelier. Es sah fast genauso aus wie der vordere Raum: Die Wände hingen voller Bilder, die ihre Werke zeigten – manche davon waren Skizzen oder Aquarelle, andere Nahaufnahmen fertiger Tätowierungen. Der Raum war völlig überladen – genau wie ihr Schreibtisch in der Ecke. Francis sah eine Massagebank und einen großen, altmodischen Frisierstuhl. In einer Eckvitrine stand eine Sammlung von Kristallschädeln, auch einige echte menschliche Schädel waren darunter, manche bemalt wie die Zuckerschädel am Dia de los Muertos in Mexiko.
»Setzen Sie sich«, sagte sie und deutete auf den Frisierstuhl. »Whisky?«
Francis schüttelte den Kopf. »Ich trinke nicht im Dienst.« Er trank ohnehin so gut wie keinen Alkohol, aber das ging sie nichts an.
Während Marni die Tür ausmaß und telefonierte, um jemanden herzubestellen, der die kaputte Tür mit Brettern vernagelte, trank Francis sein Wasser und betrachtete nachdenklich den Hund. Die Bulldogge beäugte ihn ihrerseits misstrauisch, doch sie blieb ausgestreckt auf einem schmuddeligen Kissen unter dem Schreibtisch liegen. Ab und an strich sie sich mit der Pfote über das Ohr, in das Francis gebissen hatte. Nach einer Weile stand sie auf und beschnupperte Francis’ Hosenbein mit ihrer platten Nase.
Als Marni ins Hinterzimmer zurückkehrte, lag der Hund auf dem Rücken und hatte den Kopf auf Francis’ Füßen platziert.
Sie musterte ihn argwöhnisch. »Sie mögen Hunde?«
»Nein.«
Er öffnete seine Ledertasche und zog ein großes Hochglanzfoto heraus.
»Was können Sie mir darüber erzählen?«, fragte er und hielt ihr das Bild hin.
Die Aufnahme war eine Vergrößerung der Tätowierung, die man aus Evan Armstrongs Oberkörper herausgeschnitten hatte. Marni nahm das Bild und betrachtete es prüfend.
»Das ist von dem Kerl aus dem Müllcontainer, stimmt’s?«, fragte sie.
Francis nickte.
»Polynesisches Motiv, was nicht bedeutet, dass es dort gestochen wurde. Das hätte er sich überall tätowieren lassen können. Gute Arbeit. Wissen Sie, wer es gemacht hat?«
Jetzt, da sie sich auf die Tätowierung konzentrierte, schien sie ruhiger zu werden.
»Ich hatte gehofft, Sie könnten mir diese Frage beantworten. Seine Eltern haben uns das Foto gegeben, aber sie wissen nichts über seine Tattoos. Genauso wenig wie über sein Privatleben.«
Marni runzelte die Stirn. »Man kann nicht einfach einen Blick auf eine Tätowierung werfen und sagen, wer sie gemacht hat. Wissen Sie nicht, dass es auf der Welt Zehntausende von Tattoo-Künstlern gibt, wenn nicht gar mehr?«
»Das ist mir durchaus bewusst, trotzdem …«
»Außerdem ist es nicht so, dass wir unsere Werke signieren.«
»Nicht einmal mit Initialen?«
»Es gibt vielleicht ein, zwei Künstler, die das tun – aber das sind bloß die Selbstverliebten. Egomanen gibt es überall.« Sie reichte ihm das Foto zurück. »Nein, die meisten Tätowierer verspüren keinerlei Bedürfnis, ihren Namen auf der Haut eines Fremden zu hinterlassen. Es ist schon Privileg genug, die Leute zu tätowieren.«
»Aber Sie haben erkannt, dass der heilige Sebastian eine von Thierrys Arbeiten war?«
Marni stemmte sich hoch und setzte sich mit baumelnden Beinen auf die Massagebank. »Ich kenne Thierrys Stil ganz genau.«
»Aber den Stil dieses Tätowierers kennen Sie nicht?« Er tippte auf die Vergrößerung. »Dann ist der Künstler womöglich gar nicht von hier.«
»Vermutlich nicht. Allerdings bin ich nicht so bewandert, was Tribal- oder indigene Designs anbetrifft.«
Sie schwiegen.
»Warum ist das wichtig?«, fragte Marni nach einer Weile.
»Was?«
»Wer das Tattoo gemacht hat? Könnte das zur Aufklärung des Falles beitragen?«
Könnte es? Francis hatte keinen blassen Schimmer. Er griff nach jedem Strohhalm, um einen Anhaltspunkt zu finden.
»Zum jetzigen Zeitpunkt der Ermittlungen kann ich das nicht ausschließen.«
»Verdächtigen Sie Thierry?«
»Darüber darf ich nicht sprechen.«
Das konnte er auch gar nicht, denn er hätte nicht gewusst, was er ihr hätte antworten sollen. Francis warf einen Blick auf seine Uhr. Wenn sie ihm nicht helfen konnte, war es ohnehin Zeit zu gehen.
Er stand auf und stellte sein Wasserglas auf den Schreibtisch.
»Wenn Sie mir das Foto dalassen, werde ich mich für Sie umhören.« Sie sprang von der Massagebank und nahm ihm die Vergrößerung aus der Hand. »Wird der Künstler unter Verdacht gestellt?«
»Fällt Ihnen irgendein Grund ein, warum jemand dem Opfer die Tätowierung vom Leib geschnitten hat?«, fragte Francis, ohne Marnis Frage zu beantworten. »Gibt es so was tatsächlich?«
Er musste verstehen, was dahintersteckte.
»›So was‹?« Marnis Augenbrauen schossen in die Höhe. »Was meinen Sie damit?«
»Einen Vergeltungsakt in der Tattoo-Welt oder irgendein seltsames Sektenritual? Keine Ahnung, was euresgleichen so treibt.«
»Unseresgleichen?« Marni schüttelte empört den Kopf. »Sie halten uns für eine Sekte ? Zum Teufel, nein, Menschen ihre Tätowierungen aus dem Fleisch zu schneiden, ist nicht gerade unser Ding.«
Pepper stellte die Ohren auf, als er mitbekam, wie die Stimme seines Frauchens in die Höhe schnellte.
»Jetzt hören Sie mir mal zu: Sie möchten vielleicht kein Tattoo haben und stehen auch nicht darauf, das ist okay.« Sie funkelte ihn wütend an. »Aber ganz ehrlich, Sie haben ein ordentliches Problem mit Ihrer Einstellung. Menschen mit Tätowierungen sind nicht gleichzusetzen mit Mitgliedern einer Sekte. Es sind einfach nur Menschen – die auf Tattoos stehen. Das ist alles, was uns verbindet. Zwanzig Prozent der Erwachsenen in diesem Land, um genau zu sein.«
Francis hob beinahe flehend die Hände. »Tut mir leid. Das war nicht so gemeint. Ich versuche nur, mich langsam vorzutasten …«
Er hatte einen Nerv getroffen. Irgendetwas oder irgendjemand hatte Marni Mullins verletzt.
»Oh, das haben Sie durchaus so gemeint, sonst hätten Sie es nicht gesagt.«
Die Mauer stand zwischen ihnen. Francis sah sich auf der Suche nach einer Eingebung im Raum um, aber er fand nichts, womit er die Mauer wieder einreißen konnte.
»Es tut mir leid. Ehrlich.«
Marni lehnte sich gegen die Massagebank. »Was für ein Problem haben Sie mit Tattoos?«
»Ich habe kein Problem mit Tattoos«, entgegnete er bedächtig. Das stimmte nicht ganz, aber er brauchte ihre Hilfe. »Auch wenn ich mir keins machen lassen möchte. Ich meine, warum sollte jemand meinen Körper für die Ewigkeit zeichnen? Das ergibt für mich keinen Sinn.«
»Selbstdarstellung«, erwiderte sie schlicht.
Francis verstand nicht wirklich, was sie damit meinte.
»Meine Mutter hat immer gesagt, Tätowierungen sind der äußere Ausdruck von innerem Schaden«, stieß er hervor.
Marni sah ihn wütend an. Offensichtlich hatte er nicht die richtigen Worte gewählt.
»Das glauben Sie doch nicht ernsthaft.«
»Nein … Aber warum lässt man sich dann tätowieren?«
»Tattoos können tatsächlich ein Zeichen für seelische Verletzungen sein – aber für gewöhnlich sind sie Ausdruck von etwas Positivem … Sie geben Kraft, drücken Hoffnung aus, Entschlossenheit, stark zu sein.« Sie senkte für einen kurzen Moment den Blick, dann sah sie ihn direkt an. »Ich habe ein Kind verloren. Die Tätowierung auf meinem Rücken ist eine Erinnerung an dieses Kind, meine Art, den Kleinen für immer bei mir zu haben.«
»Es tut mir leid«, sagte Francis, der sich vorkam wie ein Schnüffler, der seine Nase in Dinge steckte, die ihn nichts angingen.
»Noch häufiger allerdings lassen sich die Leute aus schlichten ästhetischen Gründen tätowieren«, fuhr sie fort, »oder weil all ihre Freunde Tattoos haben, manchmal auch als Ausdruck ihrer Liebe oder ihres Respekts. Wir sind nicht alle gleich, daher haben wir auch nicht alle aus den gleichen Gründen ein Tattoo.«
»Ja, das kann ich nachvollziehen. Im Grunde ist es mir schon auf der Messe klar geworden.« Er sah sie verlegen an. »Also, werden Sie mir helfen?«
Ihr Blick blieb kühl. »Ich werde tun, was ich kann, und mich für Sie umhören. Aber erwarten Sie nicht zu viel, Frank.«
»Francis«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen.
Anscheinend war sie eine Frau, die ihre eigenen Vermutungen anstellte. Wie dem auch sei – sie war sein einziger Zugang zur Welt der Tätowierungen. Er brauchte sie, sollte das Motiv tatsächlich in dem fehlenden Tattoo zu suchen sein, was der gehäutete Schulterbereich von Evan Armstrong durchaus nahelegte. Und nun hatten sie einen zweiten Toten gefunden, der genauso stark tätowiert war.
Er brauchte sie, wenn er den Fall lösen wollte, bevor es ein weiteres Opfer gab.