14
Rory
Rory konnte Whisky im Atem des Mannes riechen, und zwar auf Anhieb. Er umklammerte den To-go-Kaffee, den Rory ihm anbot, mit seiner runzeligen Klaue. Die langen Nägel waren grau vor Schmutz, die Haut so gelb wie seine Augäpfel.
»Danke«, stieß er hervor. Seine Stimme war wenig mehr als ein heiseres Krächzen.
Rory ließ sich neben ihn auf die schmale Bank an der Bushaltestelle fallen. Es war nach zwei Uhr morgens, und es fuhren nur vereinzelte Nachtbusse. Unwahrscheinlich, dass sich jemand an der Bushaltestelle zu ihnen gesellte.
»Wie ist es dir so ergangen, Pete?«
»Comme ci, comme ça«, antwortete der Mann mit einem durchdringenden Lachen. »Sie wissen doch, wie’s ist.«
Rory nickte. Die Geschichte von Männern wie Pete war immer dieselbe. Ein Kampf um Arbeit, ein Kampf um Geld, ein Kampf um Schnaps.
»Hältst du die Ohren weiterhin aufgesperrt?«, fragte Rory.
Pete sah sich argwöhnisch um, obwohl weit und breit keine Menschenseele in Sicht war.
»Die Sache ist die …«
»Du weißt, dass ich bezahle, wenn du etwas für mich hast.«
Pete schwieg, aber seine Augen hellten sich auf, als Rory Geld erwähnte.
»Hör zu«, sagte Rory, »vielleicht kannst du mir helfen. Gestern Morgen wurde eine Leiche gefunden. Kleinerer Mann, ziemlich jung, Knast-Tattoos. Hast du was darüber gehört?«
»Wo hat man ihn gefunden?«
»In der Nähe der Promenade.« Rory wollte ihm nicht zu viele Details nennen. Pete war so löchrig wie ein Sieb und würde sich nichts dabei denken, Informationen an die Gegenseite zu verkaufen, sobald sich eine Gelegenheit dazu ergäbe.
»Ich hab gehört, dass letztes Wochenende ein paar Deals über die Bühne gehen sollten. Angeblich ist dabei irgendwas schiefgelaufen. Kommt der Zeitpunkt hin?«
Rory zuckte die Achseln.
»Zwischen wem sollten die Deals über die Bühne gehen?«
Pete rieb Zeigefinger und Daumen aneinander und warf Rory einen vielsagenden Blick zu.
Rory hatte geahnt, dass das kommen würde, fischte eine kleine Rolle Banknoten aus seiner Hosentasche und zog einen Zwanziger heraus. Pete sah ihn ungläubig an – für zwanzig würde er nicht den Mund aufmachen.
Rory schüttelte den Kopf und steckte das Geld wieder ein. »Ich brauche Namen, Pete.«
Pete seufzte theatralisch. »Dann sorgen Sie dafür, dass es sich für mich lohnt.«
Vierzig Pfund wechselten den Besitzer, und Pete spulte eine Litanei ortsansässiger Dealer herunter. Rory kannte sie alle, und er wusste, dass ein paar von ihnen im Gefängnis saßen.
»Komm schon, Pete. Das ist Bullshit. Gib mir was Besseres, oder ich verlange mein Geld zurück.«
Pete hob defensiv die klauenartigen Hände. »Okay, jetzt mal im Ernst: die Collins-Brüder. Da braut sich seit einiger Zeit Ärger zusammen.«
»Zwischen den Collins-Brüdern und wem?«
»Eine Bande von Rumänen versucht, in ihrem Revier zu wildern.«
Das war zwar keine bahnbrechende Neuigkeit, aber sie könnte den Leichnam unter dem Pier erklären.
Auf dem Heimweg freundete er sich mehr und mehr mit dieser Theorie an. Revierkriege zwischen hiesigen Drogengangs waren nichts Neues und machten einen großen Teil der Gewaltverbrechen in der Stadt aus. Die Information war bei Weitem keine vierzig Pfund wert, aber so konnte er sich Pete warmhalten. Ab und an brachte das nämlich doch etwas.
Als er am nächsten Morgen Francis seine Theorie im Präsidium darlegte, blieb der Chef skeptisch, so viel war klar.
»Handelt es sich um eine Vermutung Ihres Informanten, oder konnte er Ihnen etwas Handfestes liefern?«
»Er hält sich nicht gerade an die Beweisregeln«, sagte Rory, »aber immerhin gibt er uns etwas, dem wir nachgehen können. Schließlich ist der Typ voller Knast-Tattoos – daher ist es nur folgerichtig, wenn wir davon ausgehen, dass er einer der Gangs angehört und dass dieser Mord – wenn nicht gar sogar beide – auf einen Bandenkrieg zurückgeht.«
»Wir gehen von gar nichts aus.« Der Ton des Chefs klang scharf. Die Tatsache, dass Rory eine Spur gefunden hatte, passte ihm gar nicht.
»Dann lassen Sie uns herausfinden, ob Ihre Tätowiererin Licht auf die Frage werfen kann, wo sonst er seine Tattoos hat machen lassen.«
Rorys selbstgefällige Zufriedenheit darüber, seinem Boss zuvorgekommen zu sein, sollte von kurzer Dauer sein. Die Tür zur Einsatzzentrale wurde geöffnet, und Hollins begleitete Marni Mullins in den Raum.
»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte Francis und ging zu ihr, um sie zu begrüßen.
»Blieb mir eine Wahl?«, fragte sie unwirsch. »Dabei habe ich Ihnen wirklich alles gesagt, was ich weiß.«
»Das ist mir klar, und dafür sind wir Ihnen dankbar. Ich würde Ihnen lediglich gern ein paar Fotos von Tätowierungen zeigen in der Hoffnung, dass Sie mir etwas dazu erzählen können.«
Sie zuckte die Achseln. »Sicher.«
Francis führte sie zu einem unbenutzten Schreibtisch am hinteren Ende des Raums und breitete eine Auswahl von Fotos darauf aus, Nahaufnahmen von Tattoos auf blasser, blutleerer Haut. Am Hintergrund konnte Rory erkennen, dass sie in der Gerichtsmedizin aufgenommen worden waren.
»Dieser Mann wurde am Dienstagmorgen tot aufgefunden. Wir vermuten, dass einige der Tätowierungen Gangsymbole sind.«
Marni beugte sich über die Fotos. Nachdem sie sie etwa eine Minute lang konzentriert betrachtet hatte, schob sie sie so zusammen, dass der Körper erkennbar wurde: Torso, Arme und Beine, die überzogen waren mit schlecht ausgeführten, an den Konturen unscharfen schwarzen Tattoos – Symbole, Nummern, Schädel.
»Wurde er ermordet?«, fragte Marni.
Francis nickte. »Enthauptet.«
Marni Mullins fasste die Tätowierungen erneut ins Auge, dann deutete sie auf eines der Fotos.
»Manche von denen sind ausgesprochen interessant.« Sie klang nicht länger nervös.
»Es ist ziemlich offensichtlich, dass er in einer Gang ist«, schaltete sich Rory ein. »Wir vermuten, dass ein Drogendeal schiefgelaufen ist. Das ist doch alles reine Zeitverschwendung. Seine Fingerabdrücke dürften uns sehr viel mehr erzählen als ein paar Tattoos.«
Der Chef funkelte ihn an, dann richtete er seine nächste Frage an Marni, die ein Bild herauspickte.
»Miss Mullins, haben einige dieser Tätowierungen eine spezielle Bedeutung, die wir kennen sollten?«
Marni deutete auf das Foto vor ihr.
»Das«, sagte sie. »Das ist ein klassisches Gang-Symbol.«
Das Tattoo, auf das sie zeigte, war eine fünfzackige Krone.
»Was hab ich gesagt?«, fragte Rory.
Marnis Kopf fuhr zu ihm herum. »Sie kennen es?«
»Eine Gang ist eine Gang – und in Brighton hat man da nicht allzu viel Auswahl.«
Marni seufzte. »Das ist kein Tattoo aus einem der hiesigen Gefängnisse. Die Krone steht für die Latin Kings, eine Bande, die von Chicago aus operiert. Die fünf Zacken zeigen den Zusammenschluss mit der People Nation Gang an. Soweit ich weiß, hat keine dieser Banden Verbindungen nach Brighton. Noch etwas: Die Krone wurde mit einem elektrischen Tätowiereisen gestochen. Knast-Tattoos macht man für gewöhnlich mit spitz gefeilten Kugelschreiberminen und Schuhcreme.«
Francis Sullivan verkniff sich ein hämisches Grinsen. Arroganter Bastard, dachte Rory.
»Ein paar von denen sind selbst gemacht«, fuhr Marni fort und deutete auf zwei, die gröber ausgeführt waren, »aber das heißt nicht, dass sie im Gefängnis gestochen wurden. Die Punkte und die Nummer vierzehn – das ist alles amerikanischer Gang-Kram. Drei Punkte bedeuten mi vida loca – ›mein verrücktes Leben‹. Fünf Punkte besagen, dass jemand im Gefängnis gesessen hat; sie symbolisieren die vier Ecken der Zelle mit dem Insassen darin. Und die Nummer vierzehn zeigt an, dass jemand Mitglied der Nuestra-Familia-Bande in Nordkalifornien ist.« Sie wandte sich Francis zu. »Ich denke, Sie haben hier einen ausgesprochen verwirrten Möchtegern vor sich. Wahrscheinlich ist er genauso weit davon entfernt, Mitglied einer Gang zu sein, wie ich.« Ihr Blick schweifte zu Rory. »Mit anderen Worten: Wenn Sie denken, dass es sich hierbei um einen Mord im Untergrundmilieu handelt, Sergeant, dann liegen Sie falsch.«
Wieso kennt sie sich so gut aus?, fragte sich Rory gereizt.
»Und was ist damit?« Sullivan zeigte auf die Tätowierung eines zähnefletschenden Wolfs an der Außenseite der rechten Wade des Opfers.
Marni betrachtete sie ein paar Minuten lang, wobei sie die Konturen mit dem Zeigefinger nachfuhr.
»Ah, das ist eine schöne Arbeit. Er dürfte ordentlich was dafür hingeblättert haben. Das Tattoo hat nichts mit Gefängnissen oder Gangs zu tun. Es ist außerdem noch ziemlich neu. Er entwickelt Geschmack. Nein, er entwickelte.«
»Woran erkennen Sie, ob eine Tätowierung von Hand oder mit der Maschine gestochen wurde?«, erkundigte sich Francis.
»Amateur-Tattoos aus dem Gefängnis oder von zu Hause sind leicht auszumachen«, erklärte Marni. »Die Linien sind dicker, die Ausführung ist recht grob. Zudem neigen sie dazu, an den Rändern zu verschwimmen. Sehen Sie hier …« Sie deutete auf die Krone auf dem Oberkörper des Mannes und anschließend auf das Wort HASS , das zwischen die Fingerknöchel seiner linken Hand gestochen war. »Hier erkennt man den Unterschied sehr gut. Knast-Tattoos sind immer schwarz, weil die Häftlinge keinen Zugang zu farbiger Tinte haben.«
Rory täuschte Desinteresse vor, was ihm einen ungehaltenen Blick von seinem Chef eintrug.
»Das ist durchaus wissenswert, Sergeant«, sagte er. »Tätowierungen kommen inzwischen immer häufiger bei Fällen vor.«
»Ja, Chef«, erwiderte Rory mit zusammengebissenen Zähnen.
»Danke, dass Sie ins Präsidium gekommen sind«, sagte Sullivan zu Marni. »Ich bin mir sicher, dass uns diese Informationen weiterhelfen werden.«
Rory bezweifelte das. Die Aussagen der Tätowiererin brachten sie nicht weiter, während eine Gang-Hinrichtung eine absolut annehmbare Theorie war.
Marni sah zu, wie Francis die Fotos zusammenschob.
»Auf Wiedersehen, Miss Mullins«, sagte er und brachte sie zur Tür.
»Marni«, sagte sie. »Ich bin schon seit fünfzehn Jahren nicht mehr Miss Mullins.«
»Okay, dann nenne ich Sie von jetzt an Marni«, erwiderte Francis.
Ekelhaft. Allerdings sah es gut aus, wie sich die Wangen seines Chefs verfärbten, dachte Rory und heftete die Fotos ans Whiteboard.