15
Francis
Francis folgte Marni, die sich direkt vor ihm durch die Menge schlängelte. Sie konnten nicht nebeneinander gehen – der Gehsteig war voller Menschen, die es eilig hatten, aus dem kräftigen Regenguss herauszukommen, der gerade auf sie herabprasselte. Sie brachte ihn zu einem anderen Tätowierer, einem Mann namens Ishikawa Iwao, der Tattoo-Historiker und obendrein ihr Mentor war. Vielleicht wusste er Näheres über die Tätowierung auf Evan Armstrongs Schulter. Weiß Gott, ob er ihm helfen könnte, aber Francis gingen langsam die Ideen aus. Bradshaw hatte die Mittagspause dazu genutzt, ihm Druck zu machen, und nun musste er zusehen, wie er dem nach Tabak stinkenden Atem seines Vorgesetzten entkommen konnte. Sobald er wieder in seinem Büro war, hatte er Marni angerufen und sie erneut um Hilfe gebeten.
»Hier ist es«, sagte Marni über die Schulter.
Sie huschte aus dem Regen in einen Hauseingang, drückte die Tür auf und betrat ein Treppenhaus, dessen Wände und Decken schwarz gestrichen waren. Der Teppich auf den Stufen war so alt und abgetreten, dass Francis unmöglich seine ursprüngliche Farbe erraten konnte. Er stieg hinter Marni die Treppe hinauf, die nach der Hälfte eine abrupte Kehrtwende machte. Ein dünnes Mädchen in einem schwarzen Minikleid drückte sich an die Wand, um ihnen Platz zu machen.
»Bulle«, zischte sie in Francis’ Ohr, als er an ihr vorbeiging.
Woher in Gottes Namen wussten die Leute das bloß? Sie wussten es immer. Verströmte er einen bestimmten Geruch oder lag es am Schnitt seines Anzugs? Oder hatte er einen speziellen Schimmer in den Augen, der ihn verriet?
»Ich bin nicht deinetwegen da, Süße«, murmelte er, als sie die Stufen hinabsprang.
Marni drehte sich fragend zu ihm um. Er zog die Augenbrauen hoch.
Die Treppe führte zu einem schmalen Korridor mit Türen zu beiden Seiten. Die Luft war stickig und roch schwer nach Weihrauch und Patschuli, das einzige Licht kam von einer roten Glühbirne über ihren Köpfen. Musik spielte, und hinter einer der Türen sang eine Frau mit hoher, schriller Stimme eine orientalische Melodie. Bordell oder Opiumhöhle? Francis konnte förmlich Sherlock Holmes vor sich sehen, der sich in einer goldenen Wolke verlor.
Marni klopfte an eine der Türen. Ohne auf eine Antwort zu warten, schob sie sie auf und trat ein, wobei sie Francis bedeutete, ihr zu folgen. Er wusste nicht, was ihn erwartete – auch wenn ihm unweigerlich eine finstere, heruntergekommene Schreckenskammer vor Augen trat. Doch stattdessen betrat er ein geräumiges, helles, tadellos aufgeräumtes Studio, durchflutet von Tageslicht. An der gegenüberliegenden Wand befand sich eine lange Reihe hoher Fenster, die auf einen bunten Streifen ungepflegter Gärten hinausging. Im Gegensatz dazu war im Studio alles gepflegt und modern – die Tätowierstühle und -liegen waren teure Konstruktionen aus Stahl, Leder und Holz, Einrichtung und Beleuchtung erinnerten ihn an eine luxuriöse medizinische Einrichtung.
Aber das war es nicht, was Francis’ Aufmerksamkeit erregte. Etwas saß auf einem der Tätowierstühle aus weichem Leder und starrte ihn aus grünen Augen feindselig an. Auf den ersten Blick meinte er, ein abgemagertes, verletztes, nacktes Baby zu sehen – ein Schock, der ihm einen Schauder über den Rücken jagte. Doch die Kreatur war eine Katze, völlig ohne Haare und so dürr, dass man jeden Knochen sah. Das Verstörendste allerdings war, dass es sich bei den dunklen Stellen, die er für Verletzungen gehalten hatte, in Wirklichkeit um Tätowierungen handelte. Rücken, Hals, Brust und Beine der Nacktkatze waren mit dunkelblauen japanischen Piktogrammen bedeckt. Das Tier zeigte ihm fauchend die Zähne.
Francis sah Marni an, als erwarte er eine Erklärung, dann streckte er die Hand nach der Katze aus. Die machte einen Buckel, bevor sie mit einer Pfote nach seiner Hand schlug und ihre Krallen über die Seite seines Daumens zog.
»Was zum Teufel – «
Das Geräusch einer sich öffnenden Tür hinter ihm ließ Francis verstummen. Er steckte den blutenden Daumen in den Mund und drehte sich um. Ein gertenschlanker Japaner betrat das Studio. Er trug einen dunkelblauen Leinenkimono. Sein extrem kurz geschnittenes Haar war schneeweiß, aber sein Gesicht war faltenfrei, was es schwer machte, sein Alter zu schätzen. Er wirkte nicht erfreut darüber, dass er Besuch hatte.
Der Mann nickte, als er Marni erkannte, aber sein Blick verfinsterte sich, als er Francis musterte. Er machte eine tiefe Verbeugung, und Marni tat es ihm nach, dann schnipste sie mit den Fingern, um Francis zu bedeuten, das Gleiche zu tun.
»Konnichiwa«, stieß der Mann mit hoher Stimme hervor.
»Konnichiwa, sensei«, antwortete Marni.
Er richtete sich auf und wandte sich Francis zu.
»Konnichiwa«, sagte er dann und verbeugte sich erneut.
Francis erwiderte seine Verbeugung, unsicher, was er antworten sollte.
Als sie beide wieder aufrecht standen, wandte sich der Mann direkt an Marni und sagte etwas auf Japanisch zu ihr. Für Francis hörte es sich so an, als sei er verärgert, und was immer er sagte, ließ Marni die Stirn runzeln.
»Ja, ich habe einen Fremden hergebracht«, erwiderte sie auf Englisch. »Bitte verzeih mir, Meister. Wir benötigen deine Hilfe.«
»Ich sehe dich ein ganzes Jahr nicht, und dann kommst du bloß, weil du etwas von mir willst.«
Francis wusste nicht, ob er es ernst meinte oder nur Spaß machte.
»Entschuldige, Iwao«, sagte Marni mit einer weiteren angedeuteten Verbeugung. »Es tut mir leid – ich weiß, dass ich öfter kommen sollte.«
»Das solltest du in der Tat. Du bist meine Lieblingsleinwand, und du hast noch freie Hautstellen. Außerdem musst du noch sehr viel lernen.« Dann entspannte sich sein Gesicht und verzog sich zu einem Lächeln. »Wie geht es Thierry?«
Marni erwiderte sein Lächeln. »Es geht ihm gut. Vollbringt momentan ein paar großartige Werke.«
»Sag ihm, er soll bald mal vorbeikommen. Er ist genauso schlimm wie du, wenn es darum geht, seine Freunde zu ignorieren.« Er blickte zu Francis. »Wie ich sehe, hast du einen Besucher mitgebracht. Wer ist er?«
Marni drehte sich zu Francis um. »Iwao, das ist Francis Sullivan.« Sie wechselte ins Japanische, und die beiden tauschten ein paar schnelle Worte aus. Als sie wieder schwiegen, musterte Iwao Francis. Die Katze fauchte, sprang vom Stuhl und stolzierte durch den Raum und zu der Tür hinaus, durch die Iwao eingetreten war.
»Sie sind von der Polizei?«, fragte Iwao.
Francis nickte.
»Raus.«
Marni trat einen Schritt vor und legte dem Mann eine Hand auf den Arm. »Nein, bitte, Iwao. Es ist wichtig.«
Er schüttelte ihre Hand ab. »Das bringt Pech. Bitte gehen Sie.«
Francis sah Marni an, die verlegen wirkte, also wandte er sich an Iwao. »Mr. Ishikawa, wir ermitteln in einem Mordfall und benötigen Ihre Fachkenntnis, Tätowierungen betreffend. Wenn ich Ihnen ein paar Fotos zeigen darf, sind wir gleich wieder verschwunden.«
Iwao schnitt eine Grimasse. Er flüsterte Marni etwas auf Japanisch zu. Sie nickte langsam, aber ihre Wangen wurden flammend rot.
»Geben Sie mir die Fotos«, forderte er Francis auf.
Francis öffnete seine Dokumententasche und zog die Aufnahme von Evan Armstrongs Schulter heraus.
»Wir versuchen herauszufinden, wer diese Tätowierung gestochen hat.«
Iwao nahm ihm das Bild aus der Hand und ging quer durchs Zimmer zu einem makellos aufgeräumten Arbeitstisch. Dort hielt er das Foto ins Licht einer starken Schreibtischlampe und gab ein leises, klickendes Geräusch von sich, als er es durch eine Lupe ins Auge fasste.
Francis betrachtete die Bilder an der Wand. Sie waren alle im japanischen Stil gehalten, was wenig überraschend war, und selbst aus Laiensicht war klar, dass sie etwas Besonderes waren.
»Sind die alle von Iwao?«, fragte er Marni mit leiser Stimme.
Sie nickte. »Er hat meinen Rücken tätowiert«, sagte sie.
»Ich weiß, von wem das ist«, ließ sich Iwao vernehmen.
Er legte das Foto auf seinen Arbeitstisch und zog einen Ausstellungskatalog aus einem in der Nähe stehenden Bücherregal, dann blätterte er durch die Seiten, bis er fand, wonach er suchte.
Francis ertappte sich dabei, dass er den Atem anhielt, und als er zu Marni hinüberschaute, stellte er fest, dass sie das Gleiche tat.
»Ja, hier ist es.« Iwao legte den aufgeschlagenen Katalog neben das Foto, damit Francis und Marni etwas sehen konnten. »Diese beiden sind sich sehr ähnlich, vermutlich stammen sie von ein und demselben Künstler. Die Dreiecke hier zeigen alle leicht in eine Richtung. Die Linien sind gleich dick. Die Muster sind in einem ähnlichen Maßstab ausgeführt und ähnlich komplex …«
Francis sah genauer hin und konnte die Ähnlichkeit in den von Iwao benannten Details erkennen.
»Und?«, drängte Marni.
»Diese Arbeit stammt von Jonah Mason. Ich habe ihn in meine Ausstellung aufgenommen – was eine große Ehre für ihn ist. Allerdings sticht seine Arbeit wirklich hervor.«
»Ich dachte mir schon, dass es Jonah gewesen sein könnte«, sagte Marni, »aber ich war mir nicht sicher. Ich wollte wissen, ob du derselben Ansicht bist.«
»Ist er noch als Tätowierer tätig?«, wollte Francis wissen.
Iwao zuckte die Achseln. »Er hat die letzten fünfzehn Jahre über in Kalifornien gelebt – dort habe ich ihn auch kennengelernt –, und ja, er ist noch aktiv.«
Iwao schloss den Katalog und stellte ihn zurück ins Regal. Als er den Arm ausstreckte, rutschte der Ärmel seines Kimonos bis zum Ellbogen zurück, und Francis konnte einen flüchtigen Blick auf dunkle, verschlungene Tinte auf seinem Unterarm werfen.
»Du sagst, das Tattoo sei einem Mann vom Körper geschnitten worden?«, fragte Iwao an Marni gewandt.
»Kannst du dir irgendeinen Grund vorstellen, warum jemand so etwas tun sollte?«, wollte Marni wissen.
Iwao holte tief Luft und wartete einen kurzen Moment, bevor er ausatmete und sich mit seinen feingliedrigen Fingern übers Kinn strich.
»So etwas kommt in Japan vor«, sagte er, »aber nicht so. Leute mit irezumi, für gewöhnlich Yakuza …«
»Irezumi? «, fragte Francis dazwischen.
»Ganzkörpertätowierungen. Wenn ein Yakuza stirbt, hinterlässt er mitunter die Anweisung, dass sein Tattoo von seinem Körper entfernt und präpariert werden soll. Einige Beispiele sind im Bunshin Tattoo Museum in Yokohama ausgestellt. Soweit ich weiß, hat auch die Universität von Tokio eine Sammlung.«
»Aber es werden keine Menschen wegen ihrer Tätowierungen umgebracht, oder?«
Iwao schüttelte den Kopf. »Davon hab ich noch nie gehört – weder in Japan noch sonst wo. Und nun ist es Zeit, dass Sie gehen.«
Er machte auf dem Absatz kehrt und verließ den Raum, ohne sich zu verabschieden. Francis und Marni verließen das Studio und gingen durch das schwarze Treppenhaus zurück auf die Straße. Als sich die Haustür hinter ihnen geschlossen hatte, sah Francis Marni an.
»Was hat er gesagt, als Sie ihn gebeten haben, sich die Fotos anzuschauen?«
Marni wandte den Blick ab, und wieder verfärbten sich ihre Wangen.
»Ach, nichts. Er wollte mich nur an etwas erinnern.«
Francis fragte sich, worum es dabei wohl gehen mochte, doch ihr Benehmen ermutigte ihn nicht gerade, genauer nachzufragen. Schweigend gingen sie den Gehsteig entlang.
Francis’ Handy vibrierte in seiner Tasche. Er zog es hervor, warf einen Blick darauf und sah, dass eine Textnachricht von Rory eingegangen war.
Warum ist Marni Mullins wohl eine solche Expertin, wenn es um Knast-Tattoos geht? Weil sie selbst gesessen hat.