16
Francis
Francis Sullivan starrte ungläubig auf seinen Computermonitor und fluchte leise. Nichts. Da war gar nichts. Nicht das kleinste bisschen über eine Marni Mullins in der Datenbank der Polizei von Sussex. Vielleicht wurde sie dort unter einem anderen Namen geführt, aller Wahrscheinlichkeit nach unter ihrem Mädchennamen. Wie zur Hölle war Rory darauf gekommen, dass sie im Gefängnis gesessen hatte? Francis hatte ihn direkt danach gefragt, aber er hatte nur etwas von »unbestätigten Gerüchten« gemurmelt, was vage war, äußerst vage. Francis grübelte, was sie wohl verbrochen haben mochte. Ladendiebstahl? Drogenhandel in geringen Mengen, genau wie Thierry? Ihr Ex-Mann war mehrfach verwarnt worden. Vielleicht Einbruch? Frauen konnten wahrhaft perfide Einbrecherinnen sein. Er würde seine Suche auf die nationale Datenbank ausweiten müssen.
Auch wenn er wusste, dass er das eigentlich nicht tun sollte. Er hatte Marni Mullins nicht für eine einzige Minute als Verdächtige im Mordfall Evan Armstrong in Betracht gezogen, und sie hatten keinen konkreten Anlass, den Mord mit der enthaupteten Leiche unter dem Pier in Verbindung zu bringen. Sicher, beide Opfer waren tätowiert, aber das war mindestens die Hälfte aller jungen Männer aus Brighton, und die waren schließlich noch am Leben. Außerdem war der Modus Operandi völlig verschieden. Aus rein persönlichem Interesse Auskunft über Marni Mullins einzuholen, wäre unprofessionell. Das könnte er seiner skrupellosen Nummer zwei überlassen, und er hegte keinerlei Zweifel, dass Rory genau das tun würde. Francis wagte kaum zu fragen, wie er an die Information über ihre Gefängnisstrafe gekommen war.
In seinem Posteingang erschien eine E-Mail, und Francis wandte seine Aufmerksamkeit den beiden vorliegenden Fällen zu. Die Mail war von Angie Burton, die ihm die Ergebnisse ihrer Recherche schickte. Er hatte sie gebeten, sich bei der SCAS  – der Serious Crime Analysis Section , einer Abteilung zur Analyse schwerer und organisierter Kriminalität – umzuhören, ob ähnliche Verbrechen vorlagen, bei denen Häutungen vorgenommen oder Tätowierungen entfernt wurden. Er nahm einen Schluck Kaffee und überflog Burtons E-Mail.
Nichts Auffälliges. Tätowierte Opfer tauchten in allen möglichen Zusammenhängen auf – bei Raubüberfällen, Kneipenschlägereien, häuslicher Gewalt –, aber die meisten Fälle waren inzwischen gelöst, und bei keinem einzigen hatte die SCAS das Tattoo als Motiv ausgemacht. Die Liste der tödlichen Verletzungen war grauenvoll zu lesen, aber Häutung war nicht darunter – meistens handelte es sich um Stichwunden oder Einwirkung stumpfer Gewalt. Einer Frau war der Arm abgehackt, eine andere vor einen Zug gestoßen worden, außerdem fanden sich mehrere tödliche Schussverletzungen auf der Liste. Ein Mann wurde mit einer Tätowiermaschine in den Hals gestochen und überlebte, obwohl die Nadeln eine der Halsschlagadern verletzt hatten.
Francis kam zu Angies Zusammenfassung.
keine offensichtliche Verbindung zum Tod von Evan Armstrong. Bei genauerer Analyse könnte sich eventuell ein Zusammenhang ergeben. Diese würde jedoch einen beträchtlichen Mehraufwand voraussetzen …
Mit anderen Worten: Angie hatte keine Lust darauf, was Francis ihr nicht zum Vorwurf machen konnte. Die Datenanalyse nahm einen immer größeren Teil der Arbeit ein, aber sie war nicht der Grund dafür, warum die meisten Kollegen zur Abteilung gestoßen waren. Sie interessierten sich für die praktischen Ermittlungen und saßen nicht gern hinter einem Schreibtisch. Doch wenn tatsächlich etwas an der Sache dran war, musste er dem nachgehen – gerade weil es sich um seinen ersten Fall nach seiner Beförderung zum DI handelte.
Er griff zum Telefon.
»Hollins, kommen Sie bitte in mein Büro.«
Zwei Minuten später erschien Hollins an der Tür.
»Kann das noch eine Sekunde warten, Chef? Angie hat Geburtstag, und sie will gerade den Kuchen verteilen.«
Kein Problem! Da draußen läuft ein Irrer mit einem Enthäutungsmesser durch die Gegend, aber wir unterbrechen die Ermittlungen, um ein Stück Kuchen zu essen …
»Selbstverständlich.« Er stand von seinem Schreibtischstuhl auf und folgte Hollins zur Einsatzzentrale. »Wo ist denn das Geburtstagskind?«
Zehn Minuten später, nachdem er mit den anderen »Happy Birthday« geschmettert und ein hauchdünnes Stück Erdbeerbiskuit gegessen hatte, kehrte er in sein Büro zurück und wurde auf dem Weg dorthin von Angie abgefangen, die scherzhaft einen Geburtstagskuss einforderte. Er drückte ihr einen Schmatzer auf die Wange, was genügte, um ihm die Röte in die Wangen zu treiben. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Kyle Hollins nach einem dritten Stück Kuchen griff. Kein Wunder, dass seine Wampe über den Hosenbund hing.
»In mein Büro, Hollins.«
Rory leckte sich Erdbeermarmelade von den Lippen und folgte ihnen. »Chef? Haben Sie kurz Zeit?«, fragte er krümelspuckend.
Francis runzelte die Stirn. »Geben Sie mir eine Minute.«
Er wandte sich an Hollins. »Ich habe Ihnen einen SCAS -Bericht geschickt, der uns helfen soll, auf Parallelen zum Mord an Armstrong zu stoßen. Ich möchte, dass Sie ihn gründlich unter die Lupe nehmen. Halten Sie Ausschau nach allem, was mit Haut zu tun hat – Abschürfungen, Schnittverletzungen und Ähnlichem. Erstellen Sie Querverweise zu Örtlichkeiten und potenziellen Verdächtigen. Ich möchte wissen, ob es irgendwelche Zusammenhänge gibt.«
»Aber …«
»Kein Aber. Ziehen Sie einfach ab und tun Sie, was ich sage.«
Hollins machte auf dem Absatz kehrt und verließ mit unglücklichem Gesicht Francis’ Büro.
Rory schaute ihm amüsiert nach. »Er wollte Ihnen gerade mitteilen, dass Bradshaw ihn bereits auf etwas angesetzt hat, das er ums Verrecken zu Ende bringen soll, aber jetzt hat er sich wohl doch nicht getraut.«
Francis zog fragend eine Augenbraue in die Höhe. Der Chief Inspector umging ihn und setzte sein Personal ein, ohne ihn zu informieren?
»Ja, das Leben ist schwer. Apropos Bradshaw, wo steckt er eigentlich? Haben Sie ihn heute schon gesehen?«
»Heute ist Mittwoch. Er spielt Golf mit dem Superintendenten. Klettert die Karriereleiter hinauf.«
»Aha. Was haben Sie für mich?«
Rory setzte sich auf den leeren Stuhl auf der anderen Seite von Francis’ Schreibtisch.
»Folgendes zuerst: Tom Fitz vom Argus sitzt am Empfang und behauptet, er würde erst gehen, wenn er ein Interview mit Ihnen bekommt.«
Francis seufzte. Gibt der verdammte Kerl denn niemals auf?
»Sagen Sie dem zuständigen Beamten, er soll ihn rauswerfen. Was gibt es sonst noch?«
»Der kopflose Leichnam wurde identifiziert. Ich hatte recht – wir haben seine Fingerabdrücke im System.«
»Und?«
»Jem Walsh, kleiner Fisch. Nicht gerade der Gangster, für den ich ihn gehalten habe.« Zumindest hatte der Sergeant Sinn für Selbstironie. »Nur eine Spritztour mit einem geklauten Wagen. Einheimischer angehender Tattoo-Künstler. Ziemlich unwahrscheinlich, dass der in Drogenkriege involviert war.«
»Gibt es irgendeinen Hinweis auf das, was passiert ist?«
Rory machte eine kurze Pause, dann sagte er: »Er hatte eine Tätowierung auf dem Kopf …«
Francis drehte sich der Magen um. »Und jetzt ist sein Kopf weg.«
»Sie denken dasselbe wie ich.«
»Vielleicht – aber wirklich nur vielleicht – haben die beiden Fälle doch etwas miteinander zu tun.« Ihre Augen begegneten sich über dem Schreibtisch. Sie müssten sehr gründlich ermitteln, bevor sie irgendwelche Schlüsse ziehen konnten, aber Francis’ Herz hämmerte. »Wissen wir, um was für eine Tätowierung es sich handelt?«
»Ein Spinnennetz, das die gesamte Schädeldecke überzieht. Außerdem ein Name, Bel-irgendwas. Belial.«
»Der Teufel. Woher wissen wir das?«
»Fotos von seinen Eltern, Chef.«
Einen Moment lang saßen beide wortlos da, jeder auf seiner Seite des Schreibtischs. Das Schweigen dehnte sich über eine halbe Minute, dann fingen beide gleichzeitig an zu reden.
»Sie zuerst«, sagte Francis, der den Puls an seinem Hals pochen spürte und plötzlich fröstelte.
»Glauben Sie …?« Rorys Augen weiteten sich.
Weitere fünf Sekunden Schweigen. Keiner von ihnen wollte das aussprechen, was nur folgerichtig war.
Endlich riss sich Francis zusammen.
»Noch so ein Mord, und wir wissen sicher, dass wir es mit einem Serienmörder zu tun haben.«