17
Rory
Sie konnten sich nicht sicher sein, obwohl sie die ihnen bekannten Fakten noch eine weitere Stunde lang durchkauten und ihre eigenen Theorien mitleidlos verwarfen. Trotz der Faszination der Öffentlichkeit, Serienkiller betreffend, gab es nur sehr wenige davon, sodass sie auf keinen Fall voreilige Schlüsse ziehen durften.
»Vielleicht ist der Kopf ja inzwischen aufgetaucht«, gab Rory zu bedenken. »Außerdem handelt es sich um zwei gänzlich verschiedene Morde, verschiedene Todesursachen, es gibt keine uns bekannte Verbindung zwischen den Opfern.«
»Um ehrlich zu sein, haben wir uns noch gar nicht näher damit befasst. Schließlich haben wir Walsh gerade erst identifiziert«, räumte Sullivan ein. »Außerdem: Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Mörder zweimal am selben Ort in derselben Woche zuschlagen?«
»Serienkiller fangen langsam an. Zwischen diesen beiden Morden liegt so gut wie kein zeitlicher Abstand.«
»Das ist wahr.« Sullivan zögerte und öffnete eine seiner Schreibtischschubladen. »Könnten die Tätowierung von Evan Armstrong und der Kopf von Jem Walsh als Trophäen gelten?«
Gedankenverloren starrte er auf den Notizblock auf seinem Schreibtisch. Rory saß ihm gegenüber und zog eine schlichte schwarze E-Zigarette aus der Tasche. Das leise schmatzende Geräusch, das er machte, als er an der Zigarette zog, riss Francis aus seinen Überlegungen.
»Legen Sie das weg, Sergeant. Sie wissen genauso gut wie ich, dass das Rauchen im Präsidium nicht gestattet ist. Das gilt auch für E-Zigaretten.«
Rory bedachte Francis mit einem finsteren Blick, aber er schob die Zigarette zurück in seine Hosentasche. Gott, er hasste Paragrafenreiter, und genau als solcher entpuppte sich sein neuer Vorgesetzter. Es würde nicht gerade leicht werden mit DI
Sullivan.
»Es ist noch zu früh, dem Ganzen ein Etikett aufzudrücken oder die beiden Mordfälle offiziell in Verbindung zu bringen.«
Der Chef hielt sich wieder einmal streng an die Regeln, dabei wussten sie beide genau, was los war.
»Dann geben wir also vor, wir hätten es nicht mit einem Serienmörder zu tun, und verschwenden kostbare Zeit?«, fragte Rory skeptisch.
»Das ist ja wohl kaum der Punkt«, blaffte Francis. »Wir werden uns so weit vorwagen, wie wir können, allerdings ermitteln wir so lange in zwei voneinander unabhängigen Fällen, bis wir auf etwas stoßen, was das Gegenteil beweist.«
»Oder bis ein weiterer Leichnam auftaucht«, sagte Rory.
»Sprechen Sie mit den Uniformierten und teilen Sie ihnen mit, dass da draußen ein Mörder herumläuft – vielleicht sogar zwei. Wir brauchen mehr Streifenpolizisten, zumal beide Morde direkt hier, im Stadtzentrum, passiert sind …«
Das Gespräch wurde unterbrochen von dem aufdringlichen Klingeln von Sullivans Handy.
»Bradshaw«, sagte er zu Rory, dann nahm er den Anruf entgegen.
»Sir?« Francis nickte mehrmals mit ernstem Gesicht. »Jawohl, sofort.«
Er wischte über die Aus-Taste und schob seinen Stuhl zurück.
»Kommen Sie, wir sollen Bradshaw Bericht über unsere Fortschritte erstatten.«
»Das dürfte nicht lange dauern«, sagte Rory, stand ebenfalls auf und folgte ihm aus dem Zimmer.
»Genau das ist das Problem.«
»Haben Sie vor, unsere Theorie anzusprechen?«
»Dass wir es mit einem Serienmörder zu tun haben? Ich denke nicht. Nicht bevor wir mehr in der Hand haben. Das würde Bradshaw ja doch bloß auf etwas heiß machen, was wir nicht liefern können.«
Da hatte der Chef definitiv recht.
Detective Chief Inspector Bradshaws Büro befand sich nur ein Stockwerk höher, doch zwischen den beiden Etagen lagen Welten. Auf seinem Teppich fand man keine Flecken, und in seinem Zimmer gab es genügend Platz für einen Sessel, ein Bücherregal und diverse Aktenschränke, die zusammengeschoben vermutlich größer gewesen wären als die Schuhschachtel, die Sullivan sein Büro nannte.
Sullivan hatte geklopft und war eingetreten, ohne auf eine Antwort zu warten. Rory folgte ihm hinein, dann standen sie beide wartend vor Bradshaws Schreibtisch, der soeben ein Telefongespräch beendete. Auf dem Schreibtisch lagen keinerlei Unterlagen, doch es fanden sich mehrere gerahmte Fotos darauf, die nicht etwa lächelnde Kinder, sondern den Chief Inspector auf verschiedenen Golfplätzen zeigten. Rory stellte sich neben Sullivan, wobei er darauf achtete, ein kleines Stück hinter seinem Chef zu bleiben. Dieses Gespräch dürfte interessant werden.
»Setzen Sie sich«, bellte Bradshaw. Sein Gesicht war gerötet, wahrscheinlich vom Wind auf dem Golfplatz, noch wahrscheinlicher allerdings vom anschließenden Kneipenbesuch. Er blickte erwartungsvoll von Rory zu Sullivan, die seiner Aufforderung nachkamen und Platz nahmen.
»Sir …«, fing Sullivan an.
»Der Armstrong-Fall. Haben Sie schon jemanden festgenommen?«
»Nein, Sir.«
»Irgendwelche Namen?«
»Nein, Sir.«
»Was ist mit Mullins? Ich dachte, wir hätten ihn festgenagelt.«
»Er hatte ein Alibi«, teilte Rory ihm mit. »Wasserdicht.«
»Sie sitzen seit vier Tagen an dem Fall und haben keinerlei Fortschritte gemacht? Wollen Sie mir das sagen?«
»Nicht unbedingt, Sir«, entgegnete Sullivan.
Bradshaws Gesicht verfinsterte sich.
»Dann bringen Sie mich bitte schön auf den neuesten Stand«, knurrte er unwirsch.
Es gab nur wenige Momente, in denen Rory Francis Sullivan nicht um seinen Job als DI
beneidete, aber dieser zählte definitiv dazu. Bradshaw Bericht zu erstatten, war kein Zuckerschlecken.
»Es ist uns gelungen, die beiden Opfer zu identifizieren, Sir.«
»Ach, und wer ist das zweite? Besteht irgendeine Verbindung, die darauf schließen lässt, dass wir es mit ein und demselben Täter zu tun haben?«
»Wir sind dabei, dem nachzugehen.«
Bradshaw seufzte. »Also bislang nichts Konkretes?«
»Der Abgleich der Fingerabdrücke ist erst vor einer halben Stunde reingekommen, Sir«, sagte Rory.
»Er ist vorbestraft, oder?«, fragte Bradshaw. »Ich nehme an, Sie haben vor, sämtliche Mittäter zu befragen?«
»Außer einer vier Jahre zurückliegenden Anklage wegen einer Spritztour in einem gestohlenen Wagen liegt nichts gegen ihn vor«, antwortete Sullivan. »Soweit wir wissen, gab es keine Mittäter und seitdem auch keinen weiteren Konflikt mit dem Gesetz.«
»Herrgott noch mal, Sie treten tatsächlich auf der Stelle. Da draußen ist ein Killer, wenn es nicht sogar zwei sind, und Sie haben nichts, aber auch gar nichts in der Hand!«
»Fairerweise sollte erwähnt werden, dass DI
Sullivan eine Theorie hat«, schaltete sich Rory ein und bemerkte, wie ein Muskel an Sullivans Wange zu zucken begann. Vielleicht hätte er lieber nichts sagen sollen.
»Raus damit, Sullivan«, forderte ihn Bradshaw ungeduldig auf.
»Das ist reine Spekulation, Sir. Zum jetzigen Zeitpunkt ist es noch zu früh, um Genaueres darüber verlauten zu lassen.«
Bradshaw funkelte ihn an. Sullivans Wangen röteten sich.
»Es handelt sich eher um eine Diskussion, die wir vorhin geführt haben, als um einen konkreten Arbeitsansatz.«
Sullivan blickte auf seinen Schoß. Ein Ausweichmanöver – auch wenn er wusste, dass er schlussendlich mit der Sprache herausrücken musste. Als er wieder aufsah, begegnete er dem zornigen Blick seines Vorgesetzten. Rory war beeindruckt.
»Evan Armstrong wurde eine Tätowierung vom Körper entfernt«, fing Sullivan an. »Er wurde sozusagen gehäutet.«
»Das weiß ich. Kommen Sie zum Punkt.«
»Das zweite Opfer, Jem Walsh, hatte ein Tattoo auf der Kopfhaut, das den größten Teil seines Schädels bedeckte. Bislang haben wir seinen Kopf nicht gefunden. Das bedeutet, dass zwei Tätowierungen verschwunden sind, woraus wir wiederum schließen, dass es sich bei unserem Mörder – sollten wir es denn wirklich mit ein und derselben Person zu tun haben – um einen Trophäenjäger handelt.«
Bradshaw stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und legte die Fingerspitzen beider Hände zusammen, dann schloss er die Augen. Für Rory sah es so aus, als würde er beten oder meditieren.
»Nein.« Er machte sich nicht mal die Mühe, seine Augen zu öffnen.
»Sir?«, fragte Sullivan.
Bradshaw schlug die Lider auf.
»Das ist absoluter Unsinn, Sullivan. Es gibt keinen gottverdammten Serienmörder, der auf Trophäen aus ist. Ich bezweifle, dass die Morde von nur einem Täter begangen wurden, also verschwenden Sie nicht Ihre Zeit und mein Budget mit absurden Theorien.« Er stand auf. Seine Augen funkelten. »Kapieren Sie’s nicht? Wir haben es mit zwei Opfern zu tun, die mit einem Fuß im Kriminellenmilieu standen, und ich kann Ihnen garantieren, dass Sie genau dort die Antworten finden.«
»Wir bleiben in alle Richtungen aufgeschlossen und gehen jeder denkbaren Möglichkeit nach, Sir«, wandte Sullivan ein.
»Und genau das ist Ihr verfluchtes Problem. Viel zu viel Gewese und nicht genügend Fokus. Finden Sie etwas über das soziale Umfeld der Kerle heraus, dann wissen Sie, warum sie getötet wurden. Sobald Sie das Motiv haben, dürfte der Rest ein Kinderspiel sein.«
»Ja, Sir.«
»Bringen Sie mich nicht dazu, dass ich Sie durch einen erfahreneren Ermittler ersetze, Sullivan. Das wäre für uns beide eine ordentliche Pleite. Was mich anbetrifft: Bei mir gibt es keinen Misserfolg.«
»Bei mir auch nicht, Sir«, erwiderte Sullivan ruhig und schob seinen Stuhl zurück.
»Wir werden Ihnen den Mörder bringen, Sir«, fügte Rory hinzu. »Und sollten es doch zwei sein, dann bringen wir eben beide.«