19
Marni
Marni stand vor dem Tatouage Gris und fragte sich, was sie hier eigentlich machte. Brauchte sie wirklich Thierrys Hilfe, um das Sleeve-Tattoo zuordnen zu können, das Francis Sullivan ihr gerade gezeigt hatte, oder war das lediglich ein Vorwand, um ihn zu sehen? Sie legte die Hand auf den Ausdruck des Fotos in ihrer Handtasche, das Francis ihr geschickt hatte. Warum half sie dem Kerl überhaupt? Versuchte sie, ihn zu beeindrucken? Auf diese Fragen wusste sie keine Antworten, doch sie würden ihr auch nicht einfallen, wenn sie noch länger auf dem Gehsteig herumstand.
Entschlossen drückte sie die Tür auf und war nicht überrascht, dass sie mit einem Schwall französischer Schimpfwörter begrüßt wurde.
»Merde! Kannst du mich nicht in Ruhe lassen, connasse
Selbst mit finsterem Gesicht sah Thierry in ihren Augen immer noch gut aus.
»Ich liebe dich auch, Thierry«, sagte sie, seine beleidigenden Worte ignorierend.
Der Laden, in dem ihr Ex-Mann zusammen mit Charlie und Noa plus einer ständig wechselnden Reihe von attraktiven weiblichen Auszubildenden arbeitete, war weit größer als ihr eigener und nicht in einen Vorder- und Hinterbereich unterteilt. Er hätte sogar noch größer gewirkt, wäre nicht die komplette Einrichtung in Schwarz gehalten und die Fläche mit halbhohen Wänden in einzelne Kabinen unterteilt. In einer Ecke stand ein teils auseinandergeschraubtes Motorrad, an dem Charlie herumbastelte, solange sich Marni erinnern konnte.
Hier drinnen wurde nur selten sauber gemacht, eine Vielzahl vertrauter Gerüche hing in der Luft. Curry. Zigaretten. Dope. Desinfektionsmittel.
»Marni!«, rief Noa mit singender Stimme, kam auf sie zu und zog sie in seine Arme. Sein Bart kratzte über ihre Wangen, als er sie küsste, doch seinen warmen, wohlbekannten Geruch einzuatmen, fühlte sich an, als würde sie nach Hause kommen. »Es ist viel zu lange her«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Wann kann ich dich endlich entführen?«
Marni lachte. Das war ihr spezieller Scherz gewesen – die Affäre, die niemals zustande gekommen war. Als Noa zu der Zeichnung zurückkehrte, an der er arbeitete, sah sie, dass Charlie, der damit beschäftigt war, ein Oberkörper-Tattoo zu stechen, ihr zuwinkte.
»Charlie«, begrüßte sie ihn mit einem Kopfnicken.
Sie ignorierte die Auszubildende, die in Thierrys Kabine eine Bestandsaufnahme der Tintenflaschen machte. Sie sah aus wie ein punkiges Schulmädchen. Es lohnte sich nicht, sich ihren Namen zu merken. Waren die Mädchen auch nur halbwegs gut, wurden sie bald von der Konkurrenz abgeworben, die sie besser bezahlten, oder sie verabschiedeten sich von selbst wegen ihrer zerbrochenen Liebe zu einem der Jungs. Marni hatte keine Zeit, sich damit zu befassen.
Thierry funkelte sie zornig an, aber sie wusste, dass sie ihn nicht ernst nehmen konnte. Also hängte sie ihre Handtasche über eine Stuhllehne und zog ihre Jacke aus.
»Was willst du hier?«, knurrte Thierry. »Ich kann echt darauf verzichten, dich jeden Tag zu sehen.«
»Die Polizei braucht unsere Hilfe.«
»Unsere Hilfe?«, fragte Noa.
»Francis hat mir ein Foto von einem Sleeve-Tattoo geschickt. Die Detectives versuchen herauszufinden, wer es gestochen hat, und es ist ziemlich wahrscheinlich, dass wir das wissen.«
»Francis?«, hakte Thierry nach. »Der Mann, der mich verhaftet hat? Jetzt nennt ihr euch schon beim Vornamen?«
»Kann dir doch egal sein.«
Marni spürte, dass sie rot wurde, obwohl sie selbst nicht so genau wusste, warum. Eilig beugte sie sich über ihre Tasche, kramte den zusammengerollten Ausdruck hervor, rollte ihn aus und strich ihn auf einer der freien Massagebänke glatt. Es handelte sich um eine typische Aufnahme aus einem Tattoo-Laden, die einen Frauenarm mit einer beeindruckenden Biomechanik-Tätowierung zeigte.
»Die Frau wurde vor sechs Monaten ermordet«, erläuterte sie. »Man hat ihr den Arm abgehackt.« Sie deutete auf das Tattoo auf dem Foto. »Der Arm wurde nie gefunden.«
Noa kam herüber, um einen Blick auf den Ausdruck zu werfen, und sogar Thierry reckte den Hals, dann stieß er einen leisen Pfiff aus. Marni musterte ihn durchdringend, um seine Reaktion auf das Bild abzuschätzen, doch sein Gesicht verriet nur sehr wenig.
»Irre. Ich kannte einen Typen, der so ein Stück hatte, aber bei ihm sah es so aus, als sei das Fleisch an den Rändern weggerissen«, sagte Noa.
»Das ist ein krasser Effekt«, pflichtete Thierry ihm bei. »Seamus Byrne hat das gestochen, oder?«
»Ja, genau, der hat viel in der Art gemacht.«
»Aber das hier nicht, oder?«, fragte Marni. »Für mich sieht das nicht ganz nach seiner Arbeit aus.«
»Lass mich mal sehen.« Charlie hatte fasziniert sein Tätowiereisen beiseitegelegt und seine Handschuhe ausgezogen und kam nun ebenfalls zu ihnen herübergeschlendert. Das Mädchen auf seiner Massagebank nahm die Gelegenheit wahr, sich zu strecken und einen Schluck Wasser zu trinken.
Während Charlie das Foto betrachtete, unterbrach die Auszubildende ihre Arbeit und trat hinter Thierry. Sie schlang die Arme um seinen Hals und liebkoste seine Schulter. Thierry drehte sich um und küsste sie auf den Mund. Marni wandte den Blick ab. Niemand sah gern dabei zu, wenn der Ex Zungen-Hockey spielte. Es tat weh, aber Thierry war ja schon immer ein unsensibler Mistkerl gewesen.
»He, ihr zwei«, sagte Noa, der Marnis Unbehagen bemerkte.
Thierry schaute von dem Mädchen zu Marni und wieder zurück.
»Später, Süße.«
Marni fragte sich, ob er überhaupt ihren Namen kannte.
»Wie alt bist du?«, fragte sie spitz.
Das Mädchen sah aus wie ein Reh im Scheinwerferlicht.
»Putain, Marni. Lass sie in Ruhe.«
Charlie und Noa tauschten einen Blick aus, dann wandte sich Charlie wieder dem Foto zu.
»Das ist gute Arbeit«, sagte er. »Richtig gute Arbeit.«
»Der Killer hat Geschmack«, bemerkte Thierry.
Marni versuchte, sich wieder auf den Grund ihres Besuchs zu konzentrieren und nicht daran zu denken, wie sie Thierry das letzte Mal geküsst hatte. Wann war das gewesen? Vor ein, zwei Jahren, nach einem langen, feuchtfröhlichen Abend auf einer der Tattoo-Messen?
»Das stimmt.« Marni nickte »Evan Armstrongs Tätowierung stammte von Jonah Mason. Er ist einer der Besten, wenn es um schwarze Tribal-Tattoos geht.«
»Ich kannte Evan«, sagte Charlie. »Er war ein netter Kerl.«
»Klar«, spottete Thierry. »Deshalb ist er ja auch abgehauen, ohne zu bezahlen.«
»Man konnte ihn nicht ernst nehmen«, sagte Noa. »Du hättest ihn locker dazu bringen können, dir das Geld zu geben. Du warst bloß zu faul, ihm hinterherzurennen.«
»Vielleicht hat er dich ja auch mit Dope bezahlt«, sagte Marni. »Das haben damals viele gemacht.«
Thierry schüttelte den Kopf, aber er lachte.
»Glaubst du wirklich, die Cops sind an etwas dran? Ein Killer, der den Leuten ihre Tattoos klaut … Ich glaub’s nicht«, sagte Noa.
»Wusstet ihr, dass man menschliche Haut gerben kann, genau wie tierisches Leder?«, fragte Marni. »Das macht man in Japan, um die Tattoos der Yakuza zu konservieren.«
»Ekelhaft«, stieß das Schulmädchen hervor.
»Ich mache mal besser weiter«, sagte Charlie und kehrte zu seiner Kundin zurück. »Aber um auf deine Frage zurückzukommen: Weißt du, wer das Tattoo gestochen haben könnte?«
»Wer?«
»Ein Typ aus Polen. Bartosz Irgendwas. Seine Arbeiten sehen ganz ähnlich aus.«
Thierry kehrte an seinen Schreibtisch zurück und öffnete seinen Browser.
»Bartosz? B-A-R-T-O-S-Z?«
»Ja, genau so.« Charlie nickte und streifte ein paar frische schwarze Latexhandschuhe über.
»Bartosz Klem«, bestätigte Thierry ein paar Sekunden später. »Ja, könnte tatsächlich hinkommen.«
Marni trat hinter seinen Stuhl und starrte auf den Monitor. Darauf war eine ganze Reihe von Tattoo-Fotos zu sehen, die man durchscrollen konnte, die meisten davon Biomechanik-Motive und dem auf dem Arm der toten Frau sehr ähnlich.
»Das steht so gut wie fest, würde ich sagen«, murmelte sie.
»Warum will die Polizei wissen, wer die Tattoos gemacht hat?«, fragte Charlie. »Glauben die, die Künstler haben was mit den Morden zu tun? Ich dachte, die Motive stammen alle von verschiedenen Personen …«
»Keine Ahnung«, erwiderte Marni achselzuckend. »Für mich ergibt das auch nicht viel Sinn. Ich glaube, die Cops klammern sich an jeden Strohhalm.«
»Aber sie sind definitiv überzeugt, dass die Fälle etwas mit den Tattoos zu tun haben?«, wollte Noa wissen.
Wieder zuckte Marni die Achseln, dann rollte sie den Ausdruck zusammen.
»Danke, Jungs. Ich werde DI Sullivan Bescheid geben. Soll er entscheiden, was er mit der Information anfängt.«
»Francis.« Thierrys Stimme triefte vor Sarkasmus.
»Ich bin dann mal weg«, sagte Marni, die keine Lust hatte, darauf anzubeißen. Das würde eh nichts bringen, und Thierry hätte die Genugtuung, dass er immer noch wusste, welche Knöpfe er bei ihr drücken musste.
»Komm doch mit ins Pub, chérie« , sagte Noa.
»Heute nicht, mein Schatz.«
Marni ließ die Tür hinter sich zufallen. Ein Drink mit Charlie und Noa wäre schön gewesen, aber sie würde den Teufel tun und Thierry dabei zusehen, wie er in einer Ecke mit seiner Auszubildenden knutschte. Manchmal fragte sie sich, ob sie nicht lieber aus Brighton wegziehen sollte, um dem endlosen Hin und Her zwischen ihnen ein Ende zu setzen, doch sie kam immer wieder zum selben Schluss: Das wäre Alex gegenüber nicht fair. Seit Alex sechs war, gab Thierry den Teilzeitvater, und jetzt kam er in ein Alter, in dem der väterliche Einfluss – selbst wenn er so sporadisch war wie der von Thierry – eine wichtige Rolle spielte.
Es war noch nicht ganz dunkel, doch seit die Sonne weg war, hatte der Wind aufgefrischt. Sie zog ihre Jacke enger um die Schultern und fragte sich, ob tatsächlich jemand die Stadt unsicher machte auf der Suche nach herausragenden Tattoos. Genau das war der Punkt: Alle drei Tätowierungen, die Francis ihr gezeigt hatte, waren Meisterwerke. Die Arbeiten von Jonah Mason und Bartosz Klem kannte sie, aber der DI hatte ihr noch ein weiteres Stück gezeigt – ein Spinnen-Tattoo auf dem Kopf des jüngsten Opfers. Auch die Handschrift dieses Künstlers kam ihr bekannt vor.
Sie ging an einem Tattoo-Laden in der St James Street vorbei und spähte hinein. Der Laden war geschlossen, keine Spur von Mandy oder Pepe, den beiden Tätowierern, die hier arbeiteten. An der Innenseite des Schaufensters hing ein zerknittertes, eingerissenes Poster – Werbung für die letzte Tattoo-Messe. Das konnten sie jetzt abnehmen, dachte Marni und setzte sich wieder in Bewegung, um mit großen Schritten nach Hause zu eilen.
Auf dem Rest des Weges ging ihr immer wieder ein und derselbe Gedanke durch den Kopf.
Was war der Zusammenhang zwischen den einzelnen Fällen? Was hatte die drei Opfer zu Zielscheiben gemacht, was hatten sie gemeinsam, abgesehen von den Tätowierungen?
Sie wollte sich nicht noch weiter in die Sache hineinziehen lassen, also sollte sie besser aufhören, sich damit zu befassen. Es gab keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Oder doch? Hatte sie vielleicht mehr mit diesen Fällen zu tun als die simple Tatsache, dass sie eine der Leichen entdeckt hatte, auf den ersten Blick vermuten ließ?