20
Rory
»Wir haben Fortschritte gemacht«, sagte der Chef. »Und es gibt keinen Grund, warum wir nicht darauf aufbauen sollten.«
Scheinbar definierte der Chef »Fortschritte« etwas anders als er selbst.
Es war Donnerstagmorgen, und das ganze Team hatte sich zum täglichen Briefing in der Einsatzzentrale versammelt.
Er deutete auf das Whiteboard.
»Wir haben es inzwischen mit drei Morden zu tun, einer davon ist ein ungeklärter Fall von vor sechs Monaten. Giselle Connelly. Die Verbindung zwischen den drei Fällen ist bislang spekulativ, aber wenn sich der Verdacht erhärten sollte, dass sie tatsächlich besteht – und das ist ein großes ›Wenn‹ –, haben wir es vermutlich mit einem Serienmörder zu tun.«
Die Spannung im Raum war greifbar, als er das Wort »Serienmörder« aussprach, vor allem die jüngeren Officer wirkten sichtbar aufgeregt. Schließlich war das der Grund, warum die meisten von ihnen Detectives geworden waren. Rory musste an seinen ersten Serienmörder-Fall zurückdenken. Er war damals noch ein einfacher Detective Constable gewesen, doch er hatte bereits jede Menge Erfahrung, und auch der leitende Ermittler war ein alter Hase, der kurz vor der Pensionierung stand. Selbst mit diesem erfahrenen, mit allen Wassern gewaschenen Team hatte es Monate gedauert, den Fall zu lösen. Francis Sullivan mochte seinen Abschluss vielleicht mit links gemacht haben, aber diese Morde würde er nicht aufklären.
Der Gedanke deprimierte ihn, weshalb er sich wieder auf das konzentrierte, was Francis zu sagen hatte.
»Wir müssen einen Zusammenhang zwischen diesen drei Morden entweder nachweisen oder ausschließen«, teilte der DI seinem Team soeben mit. »Bislang scheint es keinerlei Verknüpfungen zu geben. Evan Armstrong arbeitete in der IT -Branche, hatte keine Vorstrafen und – soweit uns bekannt ist – auch keine Feinde, war heterosexuell, hatte allerdings keine feste Freundin. Giselle Connelly war juristische Referendarin und hatte eine feste Beziehung, zum Zeitpunkt ihrer Ermordung hielt sich ihr Freund außer Landes auf. Und zuletzt wäre da noch Jem Walsh, der eine Ausbildung zum Tätowierer machte. Ich bezweifle, dass sich ihre Wege jemals gekreuzt haben.«
»Aber selbst wenn es sich um einen Serienkiller handelt«, meldete sich Hollins zu Wort, »dann könnte er seine Opfer nach dem Zufallsprinzip ausgewählt haben.« Er wirkte zufrieden über diese Erkenntnis. Rory war schon vorher aufgefallen, dass Hollins den Ehrgeiz hegte, die Karriereleiter hinaufzuklettern.
»Selbstverständlich. Das tun die meisten Serienmörder. Trotzdem suche ich nach einer Verbindung zwischen den Verbrechen. Rose Lewis und ihr Team schließen sich mit sämtlichen Forensikern kurz. Sie werden alle bekannten Fakten über die Opfer auf Querverweise überprüfen – wie sie zu Tode gekommen sind, wo es sie erwischt hat, was sie gemacht haben, bevor sie umgebracht wurden … alles. Wenn es uns gelingt, irgendein Bindeglied zu finden, sind wir ein ganzes Stück weiter. Wenn nicht, dann wissen wir, dass wir es nicht mit einem Serienkiller zu tun haben. Und wenn wir am Ende mit drei verschiedenen Mördern dastehen, müssen wir uns eben dreimal so sehr anstrengen.«
Mit anderen Worten: Im Augenblick wissen wir nichts.
Rorys Handy klingelte. Bradshaw.
»Geben Sie mir eine Minute, Sergeant«, bellte der DCI und legte auf.
Rory spürte, wie seine Brust eng wurde, als er die Stufen zum oberen Stockwerk hinaufstieg. Verdammte Zigaretten. Bradshaws Tür stand einen Spalt auf. Rory trat ein, als der DCI soeben ein Telefonat beendete.
»Ah, Mackay. Ich werde nicht viel von Ihrer Zeit in Anspruch nehmen.«
»Was kann ich für Sie tun, Sir?«
»Das bleibt unter uns«, sagte Bradshaw mit gesenkter Stimme.
Rory schloss die Bürotür, und Bradshaw nickte ihm beifällig zu.
»Ich möchte, dass Sie für mich in der Einsatzzentrale Augen und Ohren aufsperren, Mackay.«
Rory musste erst einmal verdauen, was der Chief Inspector da von ihm verlangte. »Wie meinen Sie das, Sir? Wir bringen Sie täglich auf den neuesten Stand.«
Bradshaw warf ihm einen verschwörerischen Blick zu. »Was ich brauche, ist sozusagen Einblick von innen. Sie wissen, wie der Hase läuft, wie Sullivan vorankommt. Er ist relativ unerfahren, und es schadet ihm nicht, wenn man ihn wohlwollend im Auge behält.«
Bradshaw wollte tatsächlich, dass er Sullivan ausspionierte.
»Selbstverständlich, Sir. Ich werde Sie über sämtliche Schritte informieren, die er unternimmt.«
Der DCI nickte weise, als hätten sie beide soeben eine wichtige Entscheidung getroffen. »Danke, Mackay. Sie können gehen – ich bin mir sicher, es wartet jede Menge Arbeit auf Sie.«
Eine Stunde später wetzten sich Rory und Tony Hitchins die Schuhsohlen ab, um einer Reihe von Pubs einen Besuch abzustatten, die Jem Walsh laut seinem Bruder regelmäßig frequentiert hatte.
»Ja, er ist hier Stammgast«, teilte ihnen der Wirt des Mucky Duck mit, die Ellbogen auf den rustikalen Holztresen gestützt. »Normalerweise kommt er mehrmals die Woche. Hat er etwas ausgefressen?«
»Leider nicht«, sagte Rory.
Sie zeigten ihm die Fotos von Evan Armstrong und Giselle Connelly.
Der Wirt schüttelte den Kopf. »An die kann ich mich nicht erinnern, aber zu uns kommen jede Menge Touristen und Spontan-Gäste. Ich kann mir nicht alle Gesichter merken.«
Bei den anderen Pubs war es das Gleiche. Niemand, der Jem Walsh kannte, hatte die beiden anderen schon mal gesehen, und als sie später Evan Armstrongs Stammlokale abklapperten, war es genauso. Nur in einem Pub in der Innenstadt konnte sich ein Barmitarbeiter an Jem und Evan erinnern, allerdings hatte er sie nie zusammen gesehen.
»Giselle lebt nicht mal in Brighton, oder?«, fragte Hitchins, als sie sich erschöpft auf den Rückweg zum Präsidium machten.
»Nein. Sie kommt aus Littlehampton.« Rory runzelte die Stirn. »Ich war noch nie in so vielen Pubs, ohne einen einzigen Drink zu bestellen.«
Als sie gerade die Tür zur Polizeiwache öffneten, kam Hollins heraus.
»Hast du was Nützliches entdeckt?«, fragte Rory.
Hollins schüttelte den Kopf. »Absolut nichts. Es gibt keinerlei Überschneidungen, weder bei der Arbeit noch bei Schule, Freunden oder Aktivitäten. Keine Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Abende, an denen sie umgebracht wurden. Evan Armstrong war auf dem Heimweg von einem Nachtclub, Jem Walsh hatte einen Freund besucht und Giselle Connelly länger gearbeitet. Ich wollte gerade los, um mit dem Besitzer des IT -Unternehmens zu sprechen, in dem Walsh arbeitete, anschließend hab ich vor, seinem ehemaligen Schulleiter einen Besuch abzustatten.«
Rory entging nicht Hitchins leicht höhnischer Gesichtsausdruck; offenbar amüsierte sich der DC über den Eifer des Kollegen.
»Das ist kein Serienkiller«, sagte Hitchins, als sie die Treppe hinaufstiegen.
»Das kann man so nicht sagen«, widersprach Rory. »Wenn er die Opfer zufällig wählt, gibt es keinen Grund, warum es Verbindungspunkte geben sollte. Gut möglich, dass es Verbindungen zum Mörder gibt, aber untereinander?«
Hitchins warf ihm einen skeptischen Blick zu.
»Ich weiß«, sagte Rory. »Wir brauchen einen Durchbruch. Und zwar nicht in Form einer weiteren Leiche.«
»Auf Twitter gibt es jede Menge Spekulationen«, sagte Hitchins. »Vielleicht sollten wir darauf einen Blick werfen.«
»Ach du Scheiße, auf Twitter?«, knurrte Rory. »Das Schwachsinnsmedium für Verschwörungstheoretiker schlechthin!«
»Aber was, wenn der Killer auch etwas getwittert hat?«
»Na schön, dann finde heraus, ob irgendwer über Insider-Kenntnisse verfügt, die wir nicht an die Öffentlichkeit gegeben haben. Wenn das jemand tut, ist es meiner Meinung nach eher ein indiskreter Constable als der Killer selbst.«
Rory betrat Sullivans Büro, um ihm zu berichten, dass sie keinerlei Fortschritte gemacht hatten.
»Tut mir leid, Chef, aber es gibt keine Verbindung zwischen den Opfern.«
»Und laut Rose auch nicht zwischen den Verbrechen«, sagte Francis. »Sie hat bei der forensischen Untersuchung nicht eine einzige Übereinstimmung gefunden. Kein identisches Tatwerkzeug, keine DNA , Haare oder Fasern. Keine Fingerabdrücke. Nada
»Also nichts, was die Serienmörder-Theorie stützen könnte?«
»Nein. Ich denke, wir suchen nach verschiedenen Tätern mit verschiedenen Motiven. Die Sache mit den Tätowierungen ist vermutlich nichts als eine falsche Fährte.«